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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Aus Italien lancieren wir dieses unser gewalttätiges, umstürzlerisches brandstiftendes Manifest in<br />

die Welt. Mit ihm etablieren wir heute den Futurismus, weil wir dieses Land zu befreien wünschen<br />

von seinen stinkenden Kraken von Professoren, Archäologen, Fremdenführern und<br />

Antiquitätenhändlern. Zu lange ist Italien ein Verkäufer von Ge<strong>braucht</strong>waren gewesen....“<br />

Das Manifest endet kämpferisch:<br />

„Du hast Einwände? - Genug, Genug! Wir kennen diese... Wir haben verstanden!...Eure feine<br />

trügerische Intelligenz sagt uns, <strong>das</strong>s wir die Wiedergänger und Seelen unserer Vorfahren sind –<br />

Vielleicht!... Wenn es nur so wäre! – Aber wer sorgt sich? Wir wollen nicht verstehen!... Jammer<br />

über jeden, der uns diese infamen Parolen wieder sagt! Hebt eure Hände! Aufrecht zum Gipfel der<br />

Welt, immer wieder schleudern wir Trotz gegen die Sterne!“<br />

Es dauerte nur historische Sekunden und die deutschen Trotzköpfchen machten sich <strong>das</strong><br />

Vorwärtsstürmen zu eigen; sie kreierten den Aktivismus und den Expressionismus.<br />

Spuren der Reformsandalen auf dem Kriegspfad<br />

Die Kultur des beginnenden 19. Jh. stand trotz einiger Brüche im wesentlichen noch in einer christlichhumanistischen<br />

Tradition. Ab 1835 entstanden Risse in der biedermeierlichen Gesellschaftsfassade.<br />

Intellektuelle wie Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Bruno Bauer, Karl Marx, Friedrich List, Arthur<br />

Schopenhauer, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche begannen nicht nur am Putz zu kratzen,<br />

sondern auch die kulturellen Fundamente zu untergraben. Aber zunächst handelte es sich um<br />

Einzelne. Das Ende der Periode der Volksbildung und Aufklärung, des unhinterfragten technischen<br />

Fortschritts und der beginnenden Demokratisierung der Gesellschaft begann sich erst vage<br />

abzuzeichnen.<br />

Eine Angriffsrichtung war die Religion. Nicht nur die Sozialisten verhießen ein gottloses Paradies,<br />

auch in bürgerlichen Kreisen machten Antiklerikalismus, Neuheidentum und Atheismus die Runde.<br />

Das war die eigentliche Katastrophe. Denn der Antiklerikalismus glaubte die 10 Gebote durch neue<br />

Gebote ersetzen zu können. Die Antike, Griechenland oder die germanischen Reiche sollten als<br />

vorchristliche Sittenspender genutzt werden. Die vorchristlichen Religionen enthielten <strong>das</strong> Verbot zu<br />

töten nicht, z.B. durfte man in der Antike unter bestimmten Bedingungen Sklaven töten, Feinde und<br />

Kriegsgefangene. Gladiatorenkämpfe und <strong>Menschen</strong>opfer waren an der Tagesordnung. Während der<br />

Periode des Christentums wurde auch getötet, da es in der menschlichen Natur liegt, aber es war<br />

eigentlich und prinzipiell verboten und man tat es mit schlechtem Gewissen oder mit schlechten<br />

Begründungen. Bereits <strong>das</strong> Verbot, auch wenn es nicht oder nicht immer beachtet wurde, war ein<br />

Fortschritt, und diesen Fortschritt gab man auf. Im Dritten Reich und in Rußland wurde im 20. Jh. ohne<br />

schlechtes Gewissen, mit den allerschlechtesten Begründungen, ohne Mengenbegrenzungen und<br />

ohne alle Hemmungen getötet.<br />

Die Angriffe der reformistischen Ideologen richteten sich nicht nur gegen den Glauben, sondern mit<br />

zunehmendem Wohlstand auch gegen den technischen Fortschritt und die empirische Wissenschaft.<br />

In Deutschland gewann um die Jahrhundertwende Friedrich Nietzsche Einfluß auf<br />

Intellektuellenkreise, die zunächst den Jugendstil und den Expressionismus als Ausdrücke des<br />

Nietzscheanismus entwickelten und vorantrieben. Nietzscheanismus war vor allem Kult des<br />

Natürlichen, Gewaltsverherrlichung und Elitarismus. Seine Angriffe richteten sich auch gegen die<br />

erkennende Wissenschaft, als Zweifel an der Sinnhaftigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis.<br />

"In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernden<br />

ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere <strong>das</strong> Erkennen erfanden.<br />

Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute.<br />

Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte <strong>das</strong> Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben.<br />

So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie<br />

kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt<br />

innerhalb der Natur ausnimmt."<br />

So schrieb er in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn". Mit der Ablehnung der<br />

Annäherung an die Wahrheit durch langsam voranschreitende Erkenntnis wurde letztlich denen <strong>das</strong><br />

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