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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Leninismus und Marxismus<br />

Im vorigen Kapitel war die SPD als Zentrale des durch durch <strong>das</strong> Wachstum der Industrie gespeisten<br />

Zukunfts- und Fortschrittsglaubens charakterisiert worden. Aber so wie die Ränder der Konservativen<br />

und der Ultramontanen unter den anbrandenden Wogen des Nitzscheanismus erodierten und der<br />

ganze Liberalismus schon 1905 regelrecht hinweggeschwemmt wurde, so waren auch die<br />

Außenposten der Sozialdemokratie dem Ansturm elitaristischer Überzeugungen ausgesetzt. Der<br />

Revisionismus Bernstein´scher Prägung mit seinen demokratischen Grundüberzeugungen war dabei<br />

nur ein sattelzeitlicher erratischer Block, der den zeitgenössischen reformistischen Monsterwellen<br />

noch im Wege lag.<br />

Nach der Logik des Zeitgeists mußte es einen Traditionsbruch geben, mußte der modische<br />

Elitegedanke auf die Arbeiterbewegung überspringen, es war nur eine Frage der Zeit. Die Zeit war<br />

spätestens 1901 gekommen, als Lenin in Schwabing die Vorhut der Arbeiterklasse, organisiert in einer<br />

straff geführten Sekte, als Vision einer "Partei <strong>Neue</strong>n Typus" darstellte. Es war, als hätte der Wind die<br />

Sporen von Stefan Georges Elite-Zirkeln um einige Hausecken ins Arbeitszimmer des russischen<br />

Revoluzzers getrieben. Dem <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> wurde als revolutionäre Behausung die <strong>Neue</strong> Partei<br />

angepasst. Verworfen war der Gedanke der revolutionären Massenpartei mit demokratischen<br />

Entscheidungsorganen, mit der Willensbildung von unten nach oben (die ganz idealtypisch natürlich<br />

nie funktioniert). Statt dessen wurde der fertig ausgegorene revolutionäre Most von Übermensch-<br />

Berufsrevolutionären („Besserwissern“) über <strong>das</strong> Fußvolk der sozialistischen Wasserträger<br />

ausgegossen. Nietzsches Elitetheorie hatte die Arbeiterbewegung erreicht und versuchte die<br />

"Herdenpsychologie" tradierter Parteiapparate zu verdrängen. Während in München der Leninismus<br />

geboren wurde, entstand in Italien als Abspaltung von den Sozialisten der revolutionäre<br />

Syndikalismus. Ihr Wortführer Robert Michels verbreitete sich, wie konnte es anders sein, über die<br />

Notwendigkeit neuer Eliten, über Führung und Willen, Massenpsychologie und Massenmobilisierung. 99<br />

Die neuen Theorien erlangten eine große Stabilität: In Deutschland wurde der Idee des<br />

demokratischen Zentralismus erst 1989 abgeschworen, in Italien bildeten Syndikalisten und<br />

heterodoxe Sozialisten neben den arditi und den Futuristen den Kern der faschistischen Bewegung.<br />

Der ehemalige Sozialist Mussolini war als elitaristischer Konvertit alles andere als ein Einzelgänger.<br />

Die bolschewistische Richtung des Marxismus kann wegen der zentralen Bedeutung der<br />

Führungsfrage, der Sicht auf <strong>das</strong> Verhältnis Führer - Masse ebenso wie Faschismus und<br />

Nationalsozialismus, um mit Lenin zu sprechen, als eine "Spielart" der "bürgerlichen Kultur", hier der<br />

Lebensreform eingeordnet werden. Letztlich war <strong>das</strong> Moskauer Leitbild ein Bild vom <strong>Neue</strong>n<br />

<strong>Menschen</strong>, dessen wachsendes Bewusstsein den Kommunismus ermöglichen würde. Sogar <strong>das</strong><br />

Planziel der Unsterblichkeit der edelsten <strong>Menschen</strong>exemplare wurde von der russischen Avantgarde<br />

der 20er Jahre thematisiert. Viele Parallelen zwischen Berlin und Moskau, seien es die<br />

Massenaufmärsche, die Parteizeremonien, der Personenkult, die Vorliebe für die Planwirtschaft und<br />

den Nationalen Historismus oder für Arnold Breker können nur vor dem Hintergrund gemeinsamer<br />

kultureller Prägungen verstanden werden.<br />

Ob der Leninsche Aufenthalt in München für die Kreation der Partei neuen Typus alleine prägend war<br />

ist fraglich. Auch daheim in Rußland beeinflußte die Lebensreform <strong>das</strong> intellektuelle Klima. Der<br />

Symbolismus, die Avantgarde, der Jugendstil fielen in Rußland auf fruchtbaren Boden. Jugendstil<br />

beispielsweise wurde von Riga bis Jerewan gebaut. Maria Deppermann behauptet, daß die Nietzsche-<br />

Rezeption quer durch alle russischen ideologischen Lager bis zu den Stalinisten erfolgte. 100<br />

Auf den Kerenski-Banknoten von 1917 sah man unter dem russischen Adler <strong>das</strong> reformistische<br />

Hakenkreuz.<br />

Wahrscheinlich ist: Lenin wurde von den Zentren der Lebensreform magisch angezogen, er nahm die<br />

elitaristischen Impulse in Schwabing und in der Schweiz auf, sie fielen als "Keime" auf einen durch die<br />

russische Vorprägung sehr aufnahmebereiten ideologischen Boden. Wie ein Schwamm saugte Lenins<br />

von Syphilis zerfressenes Hirn alles auf, was sich antidemokratisch und autoritär gab, was als<br />

Spiegelbild der zaristischen Herrschaftskultur gelten konnte. "Die kleinste Abweichung vom Willen des<br />

99 Stanley Payne: Geschichte des Faschismus, Propyläen, S. 95<br />

100 Maria Deppermann: Experiment der Freiheit. Russische Moderne im europäischen Vergleich. Uni Graz,<br />

Spezialforschungsbereich Moderne, Wien und Zentraleuropa um 1900<br />

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