15.11.2012 Aufrufe

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

zumindest in Deutschland klare Ordnungsvorstellungen und räumte mit den Kulturrevolutionären auf.<br />

Am 23.11. verbot er reichsweit die radikalen Elitaristenparteien KPD, NSDAP und DVFP.<br />

Deutschland befand sich im militärischen Ausnahmezustand. Im Schutz desselben begann am<br />

16.11.1923 die Ausgabe der neuen Rentenmark, nachdem sich der Staat auf Kosten seiner Bürger<br />

restlos von den Kriegsschulden befreit hatte.<br />

Die Währungsreform hatte einen fatalen Geburtsfehler. Statt mit Gold wurde die Mark mit<br />

Grundstückseigentum hinterlegt, und zwar in der Form, <strong>das</strong>s auf private Grundstücke staatliche<br />

Zwangshypotheken eingetragen wurden, die dem Finanzamt gegenüber abzustottern waren. Das<br />

Abzahlen gestaltete sich schwierig, weil insbesondere die Landwirte ab 1927 unter einbrechenden<br />

Erzeugerpreisen litten. Viele mussten vom Finanzamt auf private Darlehensgeber umschulden. Die<br />

Zwangshypotheken waren deshalb der Nährboden für die erfolgreiche nationalsozialistische<br />

Propaganda gegen die Zinsknechtschaft.<br />

Eine Woche nach der Ausgabe der Rentenmark trat die Regierung Stresemann nach einem<br />

Mißtrauensvotum von SPD und DNVP zurück. Der Austritt der Sozialdemokraten aus der Regierung<br />

erfolgte, weil nach Meinung der Sozialdemokraten mit der Reichsexekution ungerechtfertigt gegen<br />

Sachsen vorgegangen wurde, gegen Bayern aber Milde waltete. Der Rückzug der Sozialdemokraten<br />

aus der Reichsregierung und der Rücktritt Stresemanns ärgerte wiederum den Reichspräsidenten.<br />

Ebert versprach seinen Genossen, daß sie sich noch in zehn Jahren über ihre politische Dummheit<br />

ärgern würden. Tatsächlich wurde ab jetzt überwiegend mit Minderheitsregierungen ohne und gegen<br />

die Sozialdemokraten regiert. <strong>Neue</strong>r Reichskanzler wurde Wilhelm Marx (Zentrum). Er verlangte ein<br />

Ermächtigungsgesetz zur Übertragung der Reichsgewalt vom Reichstag auf die Reichsregierung, um<br />

die wirtschaftliche Krise zu überwinden. Mit Unterstützung der SPD beschloß der Reichstag am 8.12.<br />

<strong>das</strong> Ermächtigungsgesetz. Bereits am 28.02.1924 wurde der militärische Ausnahmezustand<br />

aufgehoben und verhängnisvollerweise erfolgte bereits am 3. März die Wiederzulassung der KPD. Der<br />

kaiserliche General von Seeckt hatte in der Elitaristenfrage zwar mehr politischen Weitblick bewiesen,<br />

als die parlamentarischen Laienspieler des Reichstags, hinter der Fassade dieses innenpolitischen Dr.<br />

Jekill verbarg sich jedoch ein wahrer außenpolitischer Mr. Hyde, der im Zusammenhang mit dem<br />

russischen Polenfeldzug und Rapallo bereits erwähnt wurde. Im Reichstag verstärkte sich zunehmend<br />

die Kritik an der Sozialpolitik der Regierung und Reichskanzler Marx bat den Reichspräsidenten Ebert,<br />

den Reichstag aufzulösen, um einer Abstimmungsniederlage zuvorzukommen.<br />

Während in Deutschland der Ruhrkampf ergebnislos abgeblasen wurde, gründete Mustafa Kemal<br />

Pascha am 29. Oktober 1923 die türkische Republik. Kemal hatte über die versammelten ehemaligen<br />

Kriegsgegner – Frankreich, Griechenland, Großbritannien und Russland – militärisch und diplomatisch<br />

triumphiert. Kemal entwarf eine Gesellschaftsform, die durch den modernen Elitarismus stark<br />

beeinflusst war. Republikanismus, Nationalismus, Revolutionarismus (in Deutschland war <strong>das</strong><br />

Modewort dafür Aktionismus), Laizismus (in Deutschland Atheismus) und Populismus wurden die<br />

Parolen der neuen Ordnung, die auf eine Erziehungsdiktatur hinauslief. Boris Kalnoky wertete den<br />

Kemalismus in dem Sinne, „daß hier ein gemeinschaftsorientierter, moderner (im Wortverständnis der<br />

zwanziger und dreißiger Jahre) und rationaler "neuer Mensch" geschaffen werden sollte, ob er nun<br />

wollte oder nicht. Mit diesem neuen <strong>Menschen</strong> sollte die Türkei zu Europa gehören.“ 317 Allerdings war<br />

es nicht <strong>das</strong> heutige demokratische Europa, welches die Leitbilder lieferte. Fünf 5 Jahre vor Atatürk<br />

hatte sich Lenin an die Macht geputscht, ein Jahr vorher Mussolini. Insofern ist es logisch<br />

anzunehmen, <strong>das</strong>s Mustafa Kemal Pascha sich an den jungen Diktaturen orientierte.<br />

Zwischen deutschen und türkischen Offizieren und Ingenieuren hatte es ab 1898 viele Kontakte gegeben: Die<br />

Bagdadbahn war von der Firma Phillipp Holzmann gebaut worden, deutsche Architekten wie August Jasmund<br />

schufen in der Türkei Bahnhofsgebäude als Synthese aus Jugendstil und traditionellen orientalischen<br />

Stilelementen. Die türkischen Streitkräfte wurden von deutschen Offizieren beraten, im Ersten Weltkrieg kämpfte<br />

man Seite an Seite. Einer der deutschen Offiziere in der Türkei war von Seeckt gewesen.<br />

Für die deutschen Demokraten gab es trotz Stabilisierung der Währung wenig europäischen<br />

Rückenwind: Russland und die Türkei waren seit jeher keine Tummelplätze von Bürgertugenden und<br />

Bürgerrechten. Beide zeigten den Deutschen, wie man durch Unbeugsamkeit und eisernen Willen<br />

gegen übermächtige Gegner triumphieren konnte. Die westlichen Demokratien tolerierten Russland,<br />

317 Boris Kalnoky: Blick auf Ankara: Der brisante Brückenschlag über den Bosporus. Die Welt 16.12.2004<br />

221

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!