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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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"Die Arbeiterklasse verlangt keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen<br />

Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. ... Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die<br />

Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der<br />

zusammenbrechenden Bourgeoisherrschaft entwickelt haben." 102<br />

Dieses Schmetterlingsgleichnis, die Entwicklung der Arbeiterklasse aus der proletarischen Larve, die<br />

nach mehreren Häutungen zum flugfähigen Imago wird, charakterisiert Marxens Verständnis des<br />

revolutionären Prozesses als evolutionären Prozeß. Darum war es für ihn nicht schlimm, daß die<br />

Kommune scheiterte, es war eben erst eine versuchsweise Verwandlung von der Larve zur<br />

Eintagsfliege. Es war eine Entwicklung vom niederen zum höheren, auch wenn <strong>das</strong> höhere im ersten<br />

Wurf noch kein Schmetterling wurde.<br />

Für Lenin machte <strong>das</strong> keinen Sinn, weil er die Engelsgeduld nicht mitbrachte. Voll ausgebildete<br />

Berufsrevolutionäre, die <strong>das</strong> Schmetterlingsstadium bereits erreicht hatten, sozusagen<br />

"Überschmetterlinge" sollten die dummen Larven auf Vordermann bringen. Die Entwicklung sprang<br />

vom höheren auf <strong>das</strong> niedere über. Es war <strong>das</strong> Auf-den-Kopf-Stellen der Marx´schen Theorie, aber<br />

Lenin scheute den direkten Angriff auf Marx, er ließ den sogenannten Renegaten Kautsky Marxens<br />

Argumente referieren, um dann auf Kautsky, statt auf Marx einzudreschen und einzuprügeln. Das<br />

ganze im Kapitel: „Wie Kautsky aus Marx einen Dutzendliberalen machte“. Lenin machte aus Marx<br />

keinen Dutzendliberalen, sondern einen Dutzenddiktator.<br />

Der Leninsche Kernsatz lautet:<br />

"Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze<br />

gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die durch die Gewalt des<br />

Proletariats gegen die Bourgeoisie erobert und behauptet wird, eine Macht, die an keinerlei<br />

Gesetze gebunden ist."<br />

Man kann Marx 1000 Stunden lesen und wird nicht eine solche Formulierung finden, da Marx überaus<br />

fortschrittsgläubig war und an die Notwendigkeit einer an keine Gesetze gebundenen Gewalt nicht<br />

glaubte. Umgekehrt wies er immer auf die naturgesetzliche Zwangsläufigkeit der Revolution hin. Die<br />

Erschießung des Pariser Erzbischofs und anderer Geiseln durch die Kommunarden pries er nicht in<br />

leninscher, stalinistischer oder trotzkistischer Manier als reinigendes Blutbad, sondern er versuchte die<br />

Erschießung recht und schlecht mit den verdorbenen politischen Sitten, die sich seit 1848<br />

eingebürgert hatten, zu erklären.<br />

Marx und Engels sollten nicht idealisiert werden, da sie ein wirklichkeitsfremdes Bild des<br />

Industrialismus und der industriellen Arbeit zeichneten, in dem die gesellschaftliche Lenkungsfrage<br />

wegen dem Glauben an die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus weitgehend unterbelichtet blieb.<br />

Trotzdem ist die Gleichsetzung des Marxismus mit dem Leninismus falsch, genauso falsch wie die<br />

These von der Weiterentwicklung des Marxismus zum Leninismus. Leninismus ist im Kern<br />

rotlackierter Elitarismus und sein Gewand ein fragiles Patchwork-Mäntelchen aus sinnentleerten<br />

marxistischen Wortfetzen. Bereits in den Grundsätzen des Kommunismus von 1847 antwortet Engels<br />

auf die Frage 18 welchen Entwicklungsgang die Revolution nehmen wird, daß sie vor allen Dingen<br />

eine demokratische Staatsverfassung und damit direkt oder indirekt die politische Herrschaft des<br />

Proletariats herstellt. Ein Jahr später, im Kommunistischen Manifest wiesen Marx und Engels im<br />

Unterschied zu Lenin darauf hin, daß die Kommunisten keine Prinzipien aufstellen würden, nach<br />

denen sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Erkämpfung der Demokratie blieb als Ziel<br />

bestehen, auf die Zusammenarbeit mit demokratischen Bewegungen wurde Wert gelegt. Der<br />

proletarische Führer Marxscher Prägung mußte unter diesen Bedingungen in den Augen Lenins ein<br />

kleinbürgerlicher Philister bleiben.<br />

Anders als bei den Marxisten sah es bei den jugendbewegten deutschen Intellektuellen aus, und zwar<br />

bei den Reformisten ebenso wie bei den Neokonservativen. Sie standen den Bolschewisten<br />

ideologisch zehnmal näher, als die SPD. Kein kleinbürgerlicher Philister im leninschen Sinne war<br />

beispielweise Walther Rathenau. Er war sich mit den Bolschewiken über den Grundsatz der<br />

Führungsrolle eines gesellschaftlichen Standes (in einem nichtkapitalistischen Staat von Klassen zu<br />

sprechen ist eine gedankliche Eskapade) einig. Nur welcher Stand es sein solle, darum stritt er<br />

102 Karl Marx: Der Bürgerkreig in Fankreich, Dietz Verlag, Berlin 1976, MEW Bd. 17, S. 343<br />

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