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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Jede tüchtige Kriminalpolizei verfügt über aussagekräftige Daten über Bildungs- und<br />

Erziehungsfähigkeit. Kriminelle, die in sehr jungen Jahren ertappt werden und in die einfühlsam sich<br />

drehenden Mühlen der Jugendgerichtsbarkeit geraten, tauchen in der Kriminalstatistik sehr häufig nie<br />

wieder auf. Bei älteren Gewohnheitstätern ist <strong>das</strong> freilich anders.<br />

Die Freudsche Lehre redete mit ihrem Triebübergewicht (in Form des ES) eher einem erzieherischen<br />

Fatalismus und einer Lockerung gesellschaftlicher Zwänge <strong>das</strong> Wort.<br />

In diese Periode der Freud-Rezeption fällt Franz Werfels Erzählung „Nicht der Mörder, der Ermordete<br />

ist schuldig“. In der Tradition der Väter-Sohn-Romane und -erzählungen der Vorkriegszeit<br />

veröffentlichte Werfel 1920 eine literarische Anklage gegen die autoritäre im Kaiserreich verhaftete<br />

Generation der öffentlichen und privaten großen und kleinen Despoten: "Jeder Vater ist Larios,<br />

Erzeuger des Ödipus", zitierte er Sophokles. Bis dahin bewegte er sich im Banne der geistigen<br />

Vatermörder Hasenclever, Heym und Becher, neu war die Opferdefinition. Das Opfer war nun der<br />

Mörder, und der Schuldige der Ermordete. Diese Umkehr passte in den Formenkanon der<br />

„Umwertung der Werte“ und war eine „dialektische“ Denkweise der Jugendbewegung. Hitler<br />

beispielsweise ließ die Juden die Schäden bezahlen, die die Nationalsozialisten in der<br />

Reichskristallnacht angerichtet hatten, mit der Begründung, <strong>das</strong>s die Juden an diesen Verwüstungen<br />

schuld seien. Die headline „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ wurde aus dem<br />

nichtchristlichen Kulturkreis entlehnt; es soll sich um ein Sprichwort aus dem balkanischen Refugium<br />

der Blutrache, den albanischen Bergregionen handeln.<br />

Das arme ICH musste in wenigen Jahrzehnten zahlreiche fundamentale Änderungen des<br />

gesellschaftlichen Normenwerks über sich ergehen lassen. Bis 1933 wurden alle moralischen<br />

Anforderungen ständig nach unten korrigiert, alle gesellschaftlichen Zwänge mehr und mehr reduziert.<br />

Im Nationalsozialismus trat eine Differenzierung ein: Die Hemmungen zum Töten nahmen ab, die Idee<br />

des universalen von Gott geschaffenen <strong>Menschen</strong> wurde immer mehr missachtet; andererseits<br />

nahmen mit dem Arbeitsdienst, dem Pflichtjahr, der Wehrpflicht, dem Druck der Hitlerjugend und dem<br />

BDM beizutreten sowie der Zwangsverpflichtung die Zwänge zu. Innere moralische Verlotterung und<br />

äußere formale Ordnung bildeten die zwei Kehrseiten der Diktatur. Die Entnazifizierung entfernte<br />

schrittweise die genannten Zwänge und Verpflichtungen, die dem ÜBER-ICH und dem ICH zugemutet<br />

worden waren, andererseits musste sich <strong>das</strong> ICH in eine erhebliche Vermehrung der Tabus schicken:<br />

Alle moralischen Hürden, die seit 1890 tiefgelegt worden waren, wurden nun neu aufgerichtet. Es<br />

erfolgte eine neuerliche Umwertung der Werte: Rassismus, Antisemitismus, Antikapitalismus,<br />

Führerglauben, Aktionismus, Korporatismus, Antiparlamentarismus, und Jugendkult wurden<br />

zugunsten der Wiedereinsetzung der 10 Gebote auf Eis gelegt, bis 1968 die nächsten Änderungen auf<br />

<strong>das</strong> ICH zukamen.<br />

Dieser kleine Exkurs wurde eingestreut, um darzulegen, <strong>das</strong>s die ständige Anpassung der<br />

gesellschaftlichen Normen nach unten, um Konflikte des ICHs mit dem ES zu vermeiden keine Lösung<br />

ist. Vielmehr muß <strong>das</strong> ICH mit Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Normenwerks<br />

zurechtkommen und diese im ÜBER-ICH als Kultur bewahren. Werden die im ÜBER-ICH<br />

gespeicherten Anforderungen ständig weiter nach unten geschraubt, wird <strong>das</strong> ICH individualistischer<br />

und autistischer, weniger bereit sich in Gruppenzwänge einzuordnen oder ins Teamwork<br />

einzubringen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert ist im Guten wie im Bösen eine Geschichte der<br />

Individualisierung, die manchmal über <strong>das</strong> Ziel hinausschoß.<br />

Wie verhielten sich die beiden zahlreichsten und mächtigsten elitaristischen Glaubensgemeinschaften<br />

der zwanziger und dreißiger Jahre in Erziehungsfragen?<br />

Die Nationalsozialisten versuchten nach ihrer Machtübernahme in „leichten Fällen“, zum Beispiel mit<br />

Kommunisten oder Schwulen die Umerziehung. Ansonsten glaubten sie weniger an die Verstocktheit<br />

der Seelen, als an die magische reinigende oder verderbende Kraft des Blutes. Bei bestimmten<br />

Ethnien kam daher nur die Vernichtung in Frage. Sie verbrannten Freuds Bücher; da sie die Probleme<br />

im Blut und nicht in der Psyche verorteten, waren sie auch keine Freudianer.<br />

Die Positionen Freuds forderten bei den Stalinisten Widerspruch heraus. Sie leugneten <strong>das</strong><br />

unveränderliche ES und glaubten an die Kraft einer sozialistischen Kurpackung für <strong>das</strong> neue keinen<br />

antagonistischen Widersprüchen ausgesetzte ICH, <strong>das</strong> durch Umerziehung verändert würde. Kulaken,<br />

Mittelbauern, Popen, Kapitalisten, Abweichler und denunzierte Anhänger der kommunistischen<br />

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