Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Hesse ließ seinen Edmund, eine Inkarnation der Irrationalität, eine tantrische Übung vollführen:<br />
„Schon kurz nach Beginn des einfachen Atem-Yoga, <strong>das</strong> er oft geübt hatte, fühlte er etwas in<br />
seinem Inneren geschehen, fühlte dann in der Mitte des Kopfes eine kleine Höhlung entstehen,<br />
sah sie klein und dunkel gähnen, richtete mit zunehmender Glut seine Aufmerksamkeit auf die<br />
nußgroße Höhle, (...). Und die Höhle begann sich von innen her zu erhellen, und die Helligkeit<br />
nahm allmählich zu, und klar und klarer enthüllte sich seinem Blick in der Höhle <strong>das</strong> Bild dessen,<br />
was zu tun ihm nötig war, damit er <strong>das</strong> Leben weiterleben könne. Er erschrak nicht über <strong>das</strong> Bild,<br />
er zweifelte keinen Augenblick an seiner Echtheit; er spürte im Innersten, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bild recht habe,<br />
<strong>das</strong>s es ihm nichts zeige als <strong>das</strong> vergessene tiefste Bedürfnis seiner Seele. (...) Er schlug die<br />
während der Übung gesenkten Lider wieder auf; er erhob sich von der Bank, trat einen Schritt vor,<br />
streckte die Hände aus, legte sie beide um den Hals des Professors und drückte ihn so lange<br />
zusammen, bis er fühlte, <strong>das</strong>s es genug sei.“<br />
Hermann Hesse ließ den rationalistischen Professor Zerkel ohne ein Wort des Bedauerns erdrosseln.<br />
Die neue Zeit der starken Seele und des starken <strong>Menschen</strong> forderte ihre Opfer.<br />
Wenn Hesse einen älteren Rationalisten kritiklos in den ewigen Schlaf befördern ließ; warum sollten<br />
<strong>das</strong> andere wie die Nationalsozialisten nicht auch dürfen? War die Republik nicht auch ein älteres<br />
rationalistisches Konstrukt, <strong>das</strong> von kräftigen jüngeren Händen und überzeugten Köpfen erwürgt<br />
wurde?<br />
„Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei zugezogen“, hätte J. G. Lichtenberg dazu bemerkt.<br />
Der Begriff der Bürgerlichkeit<br />
Die deutsche Sprache ist an manchen Stellen vage und ungenau. Exemplarisch ist der Begriff des<br />
Bürgers ganz überwiegend mit ungenauem Sinn verwendet worden, als sich selbst erklärend, <strong>das</strong><br />
eine Mal als Antonym zum Arbeiter, manchmal als Kurzwort für den mündigen Staatsbürger und sonst<br />
ohne jeden Sinn. Zuweilen wurde der Bürger auch zum Schimpfwort, der Kleinbürger wurde oft als<br />
schwankender Geselle an die Wand der Kritik gestellt. Aus der Kritik an der Bürgerlichkeit saugten<br />
viele Rattenfänger ihren Honig. Besonders antibürgerlich gab sich Herrmann Hesse, ohne <strong>das</strong>s er<br />
einen präzisen Begriff verwendet hätte. Der Begriff der Bürgerlichkeit ist bei Hesse ein kultureller<br />
Begriff, kein ökonomisch durchdachter oder gerechtfertigter, der Bürger ist bei Hesse einfach ein<br />
verzopfter Standesgenosse, und nicht jener Bürger, der als Bourgeois Waren produziert, der als<br />
ausbeutende Klasse der Arbeiterklasse gegenübersteht, auch nicht der idealisierte<br />
verantwortungsvolle Staatsbürger der deutschen Staatslehre. Bereits Karl Marx gab den<br />
unentwickelten Zuständen in Deutschland die Schuld, daß sich keine moderne Forschung zur<br />
politische Ökonomie in Deutschland entwickelte, außer Anwendungen der Kameralistik auf die Volks-<br />
und Betriebswirtschaft; <strong>das</strong>s alles politische Denken um die tradierten Begriffe des späten Mittelalters<br />
und der frühen Neuzeit kreiste. 380<br />
Herrmann Hesse war Württemberger, und insofern in einer seit dem Mittelalter gewachsenen<br />
Stadtkultur und Stadtwirtschaft sehr verwurzelt. Biedere selbstgerechte Handwerksmeister, arme<br />
Handwerksburschen und Gesellen, Kaufleute und Krämer, Ackerbürger, Zolleinnehmer, Postillione,<br />
Stadtsoldaten und Nachtwächter, Lehrer, Hausangestellte, Tagelöhner, eine insbesondere in der<br />
Geburtsstadt von Hesse, Calw pietistisch orientierte Geistlichkeit, aber kaum industrielle Kapitalisten<br />
und Industriearbeiter. 381 Ludwig Richter und Spitzweg haben die süddeutsche Stadt immer wieder<br />
treffend ins Bild gesetzt, eben eine vorbürgerliche Scheinromanze mit Beschaulichkeit, einer gewissen<br />
geografischen Enge und harter Traditionspflege. Wenn etwas sehr traditionell war, so nannte man es<br />
altfränkisch. Der industrielle Kapitalist aus dem kommunistischen Manifest, der über den Erdball jagt,<br />
um irgendetwas in Mengen auf den Weltmarkt zu werfen, der alle standesgesellschaftlichen Werte<br />
und Regeln über den Haufen wirft, der kam zu Hesses Zeiten in Süddeutschland nur am Rande vor,<br />
der konnte der Gesellschaft seinen Stempel nicht aufdrücken.<br />
Selbst Narren waren in Zünften organisiert, es ging ihnen weniger um den Gott Jokus, sondern um<br />
<strong>das</strong> zähe Festhalten am mittelalterlichen archaischen Handwerker<strong>braucht</strong>um. Nachweislich wurde der<br />
lockere literarische Karnevalismus in Schwaben und Alemannien durch die Narrenzünfte seit der<br />
380 K. Marx, Nachwort zur 2. Aufl. Des „Kapitals“, 1873<br />
381 Hesses Vater war pietistischer Pfarrer.<br />
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