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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Es waren nicht Lenins langweilige Schriften, welche die deutschen Expressionisten als Botschaften<br />

der Oktoberrevolution zur Kenntnis nahmen. Solche wolkigen Sentenzen wie die folgende aus dem<br />

Artikel „Catilina“ von Alexander Blok begeisterten eher und stellten die Brüderschaft im Geiste her:<br />

„Man muss starke Schwanenschwingen haben, um emporzuschweben, lange in der Luft zu<br />

verweilen, um dann unversehrt zurückzukehren, ohne von jenem Weltbrand versengt zu werden,<br />

dessen Zeugen und Zeitgenossen wir sind; dieser Brand wächst und wird sich noch lange und<br />

unaufhaltsam verbreiten, wird seine Feuerherde von Ost nach West und von West nach Ost jagen,<br />

bis endlich die gesamte alte, morsche Welt zu Schutt verbrennt.“<br />

Das war Nietzsche vom reinsten Wasser; diese Sentenzen hatten mit Marx und Engels nicht einmal<br />

soviel zu tun, wie ein grönländischer Eskimo mit einem Broker in der Wallstreet.<br />

Wichtiger noch als die idealistische Gesinnung zu retten: man war sogenannter Sieger der<br />

Geschichte, wenn man sich als Anhänger Lenins und Stalins fühlte und begriff. Als Sieger der<br />

Oktoberrevolution (später auch nach Mussolinis Marsch auf Rom) hatte man in seiner antibürgerlichen<br />

Haltung der Vorkriegszeit Recht behalten, man war trotz Deutschlands Niederlage ideologisch<br />

bestätigt worden und die Ahnung vom Sieg des kraftvollen Idealismus über den abgelebten<br />

Materialismus der alten Welt war in Erfüllung gegangen. Damit <strong>das</strong> schräge Siegespanorama ganz in<br />

sich stimmte, musste Deutschland den Siegermächten in seiner historischen Überholtheit<br />

gleichgestellt werden. Das revolutionäre Russland grenzte sich von der übrigen mehr oder weniger<br />

kapitalistischen Welt scharf ab und die Intellektuellen folgten dieser Sicht. Deutschland war besiegt,<br />

aber der Nietzscheanismus und der <strong>Neue</strong> Mensch in den Höhen des expressionistischen Geistes<br />

waren gerettet worden. Diese Präferenz für die einmal eingepaukten ideologischen Glaubenssätze<br />

und die Flexibilität in deren Umsetzung zeigte sich 1933 ein weiteres Mal, als einige ausgewiesene<br />

Exponenten der proletarischen Kunst ins Braunhemd schlüpften, nur weil sie Hitlers<br />

Germanenschwärmerei als irdische Wiederspiegelung ihrer reformistischen Ersatzreligion erahnten<br />

und „erschauten“. Den Grundansatz, einen antibürgerlichen Homunkulus zu erschaffen, teilten<br />

Expressionismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Die Braunen gaben ihren<br />

rassistischen Ansatz offen zu. Die Roten führten den Kampf um die Vorherrschaft der russischen<br />

Rasse und die Überlegenheit von Parteifunktionären hinter dem Bühnenbild des Klassenkampfs, der<br />

in nachrevolutionären Zeiten der klassenlosen Kastengesellschaft eine steinzeitliche Kulisse war.<br />

Ein Teil der Expressionisten lief der KPD hinterher, der andere Teil und die überwiegende Mehrzahl<br />

der reformistischen und ästhetizistischen Kulturbürger igelte sich in den zwanziger Jahren im Schrein<br />

der reinen Kunst ein und entschied sich 1933 zwischen Emigration, stillschweigender Zustimmung und<br />

zur Schau gestellter Begeisterung.<br />

Auch im abgeschotteten Tempel der reinen Kunst wurde sublim politisiert: Hermann Hesse legte 1919<br />

seinem literarischen Sprachrohr, dem Maler Klingsor, folgende Worte in den Mund:<br />

„Ich glaube nur an eines: an den Untergang. Wir fahren in einem Wagen über dem Abgrund, und<br />

die Pferde sind scheu geworden. Wir stehen im Untergang, wir alle, wir müssen sterben, wir<br />

müssen wieder geboren werden, die große Wende ist für uns gekommen. Es ist überall <strong>das</strong><br />

gleiche: der große Krieg, die große Wandlung in der Kunst, der große Zusammenbruch der<br />

Staaten des Westens. Bei uns im alten Europa ist alles <strong>das</strong> gestorben, was bei uns gut und unser<br />

eigen war; unsre schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser Geld ist Papier, unsre Maschinen<br />

können bloß noch schießen und explodieren, unsre Kunst ist Selbstmord.“<br />

Es war eben nicht überall <strong>das</strong> gleiche: die Vereinigten Staaten, <strong>das</strong> Vereinigte Königreich und viele<br />

Staaten des Westens spürten nichts vom bevorstehenden Verderben; nur der deutsche<br />

Expressionismus arbeitete an seinem Selbstmord und die deutsche Republik an ihrem Untergang. In<br />

der ideologischen Schusterstube Hermann Hesses wurde der Westen über den selbstgebastelten<br />

teutonischen Leisten geschlagen, ohne <strong>das</strong>s es etwas nützte: die ausgetretenen deutschen<br />

Schlappen fielen von den Füßen, während Amerika vorbeizog und trotz einiger selbstgemachter<br />

Unzulänglichkeiten für eine gewisse Zeit Weltmacht wurde.<br />

Hesse ließ seinen Klingsor bramarbasieren:<br />

„.. ich spreche von Europa, von unserem alten Europa, <strong>das</strong> zweitausend Jahre lang <strong>das</strong> Gehirn der<br />

Welt zu sein glaubte. Dies geht unter. (...) Aber wir gehen gerne unter, du, wir sterben gerne, aber<br />

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