Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Das Verhältnis der Sozialdemokratie zum „organisierten Kapitalismus“ hatte sich frühzeitig,<br />
kontinuierlich und bruchlos entwickelt. Friedrich Engels hatte im Dritten Band des „Kapital“ auf die<br />
Existenz von Kartellen hingewiesen, ihnen jedoch keine große Beachtung geschenkt. Zu anderen<br />
Schlüssen kam Bruno Schoenlank, dessen ökonomische Analyse „Die Kartelle. Beiträge zu einer<br />
Morphologie der Unternehmerverbände“, 1890 erschienen war. Schoenlanks Buch enthielt im<br />
wesentlichen positive Urteile über Kartelle und beienflußte die sozialdemokratische Kartellpolitik bis in<br />
die dreißiger Jahre. „...in ihrem Schoße die Keime für neue Wirtschaftsgebilde tragend“ sollten Kartelle<br />
gegen Verbotsforderungen verteidigt werden.“ Polizeigesetze gegen Kartelle seien kleinbürgerlicher<br />
Radikalismus. 92 Kurz: eine syndizierte Wirtschaft trage die Keime des Sozialismus in sich. Ein<br />
entsprechender Parteitagsbeschluß der SPD von 1894 lautete entsprechend:<br />
„Trusts, Ringe, Kartelle und ähnliche großkapitalistische Organisationen sind ein Schritt zur<br />
Verwirklichung des Sozialismus.“<br />
Als kapitalistische Untergangstheoretikerin schrieb Rosa Luxemburg etwa 1900:<br />
„So erscheinen die Kartelle in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur<br />
als kein „Anpassungsmittel“, <strong>das</strong> ihre Widersprüche verwischt, sondern gerdezu als eines der<br />
Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung ihrer eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr<br />
enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Untergangs geschaffen hat.“ 93<br />
Kautsky und der junge Hilferding stimmten in den Chor derer ein, die die Krisenhaftigkeit des<br />
Kapitalismus durch die Bildung von Kartellen nicht gebremst sahen.<br />
Um die Rolle der Sozialdemokratie zu verstehen, muß auch ein Blick auf <strong>das</strong> unterschiedliche<br />
Verhältnis der Reformsandalen und der Sozialdemokraten zum technischen Fortschritt geworfen<br />
werden. Unter dem Einfluß Nietzsches, der Denkmalpflerger, Heimatschützer und Tierschützer war<br />
die bürgerliche Reformbewegung der Kaiserzeit überwiegend technikkritisch. Aus dem Industrialismus<br />
von Marx ergibt sich dagegen logisch ein entspanntes Verhältnis der SPD zu Maschinen, Bauten und<br />
modernen Verkehrsmitteln.<br />
In ihrer kindlichen Einfalt sehr zum Herzen gehende Beschreibungen der sozialdemokratischen<br />
Reformvorstellungen findet man in "Die Frau und der Sozialismus" von August Bebel. Die erste<br />
Auflage erschien bereits 1878. Die sozialdemokratischen Vorstellungen sind älter als die der<br />
Lebensreform und sie gehen oft in eine völlig andere Richtung. Während die saturierte Lebensreform<br />
die vollkommene Natur in den Gegensatz zum sinnlosen Fortschritt setzte, hatte die Sozialdemokratie<br />
ein naiveres Bild.<br />
"Es müßten großartige und umfassende Bodenmeliorationen, Bewaldungen und Entwaldungen,<br />
Be- und Entwässerungen, Bodenmischungen, Terrainänderungen, Anpflanzungen usw.<br />
vorgenommen werden, um den Boden zu höchster Ertragsfähigkeit zu bringen." 94<br />
"Der Weinbau der Zukunft" ist ein ganzes Kapitel genannt, <strong>das</strong> vorschlägt, in großen geschützten<br />
Hallen die Gemüse-, Beeren- und Obstproduktion sowie den Weinbau ganzjährig voranzutreiben. 95<br />
Ausdrücklich zitiert Bebel <strong>das</strong> Gedicht "Irland" von Ferdinand Freiligrath, um den Naturschutz, der der<br />
Volksernährung im Wege stand, an den Pranger zu stellen:<br />
So sorgt der Herr, daß Hirsch und Ochs,<br />
Das heißt: daß ihn sein Bauer mäste,<br />
Statt auszutrocknen seine Bogs -<br />
Ihr kennt sie ja: Irlands Moräste!<br />
Er läßt den Boden nutzlos ruhn,<br />
Drauf Halm an Halm sich wiegen könnte;<br />
Er läßt ihn schnöd dem Wasserhuhn,<br />
92<br />
Martin Höpner: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapiatlismus, 1880-2002 MPlfG<br />
Discussion Paper 04/10, S. 10<br />
93<br />
zitiert in s.o. S. 11<br />
94<br />
August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, JHW Dietz Nachf. 1946, 55. Aufl. S. 515 f.<br />
95 s.o. S. 531 ff.<br />
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