Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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hörbar oder doch der Einbildungskraft fassbar werden; um dies zu werden, muß die Tatkraft, worin<br />
sie schlummern, sie nach sich selber, aus sich selber bilden - ...Allein da unser höchster Genuß<br />
des Schönen dennoch sein Wesen auf unserer eigenen Kraft unmöglich mit in sich fassen kann, so<br />
bleibt der einzige höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, daß es hervorbringt,<br />
selber, und <strong>das</strong> Schöne hat daher seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden<br />
schon erreicht;...“ 50<br />
Diese Gedanken zum Entstehungsprozeß des Schönen sind nicht von der Hand zu weisen, dennoch<br />
nistet sich der Verdacht ein, <strong>das</strong>s der Genius des Genies noch so weit als möglich hochgehandelt<br />
wurde. Für viele kleine Genies ist ohnehin nicht der beste Augenblick, wenn sie „basta!“ rufen, die<br />
elitäre Kreation ihr finish erhalten hat, sondern wenn die Ausstellung eine viertel Stunde alt ist, und der<br />
egalitäre Chorus der Schmeichler sein Werklein gerade beginnt.<br />
Der Ästetizismus blickte ab 1890 in den Spiegel des Nietzscheanismus und vermeinte sich im<br />
Übermenschen wiederzuerkennen. 1892 bekannte sich Stefan George in seinen „Blättern für die<br />
Kunst“ zur „kunst für die kunst“ mit einem Primat für die Schönheit. Sörensen schreibt dazu:<br />
„Dekadenz und Ästhetizismus verbanden sich mühelos miteinander. Der Typus des Ästheten, der<br />
<strong>das</strong> eigene Leben und die Umwelt nicht mit moralischen Kategorien von Gut und Böse, sondern<br />
mit den ästhetischen Begriffen von Schön und Häßlich bemisst, gehört zusammen mit dem Dandy<br />
und dem Dilettanten zu den Lieblingsfiguren der damaligen Literatur.“<br />
In „Algabal“, nach dem pervesesten aller römischen Kaiser aus der Verfallszeit des Reiches genannt,<br />
errichtete George 1892 eine Welt der künstlichen und amoralischen Schönheit:<br />
Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme<br />
Der garten, den ich mir selbst erbaut<br />
Und seiner vögel leblose schwärme<br />
Haben noch nie einen frühling geschaut.<br />
Ohne die Parole von der Umwertung der Werte lässt sich diese Haltung kaum verstehen, vielfach<br />
waren die Werke der Dekadenten nur „Lehrprosa“ und „Lehrlyrik“ zur Nietzeanischen Philosophie.<br />
Der arrivierte Künstler wollte nach der Logik der Herdentiere beweisen, in der neuen Zeit<br />
angekommen zu sein. Das nietzscheanisches Leitmotiv des Kampfs des Starken gegen <strong>das</strong><br />
Schwache berührte Frank Wedekinds Bänkelgesang „Tantenmörder“ (1897):<br />
Ich habe meine Tante geschlachtet .<br />
Meine Tante war alt und schwach.<br />
Ihr aber, oh Richter, ihr trachtet<br />
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.<br />
Auch Rainer Maria Rilke interessierte <strong>das</strong> Thema der Schönheit. In der impressionistischen Novelle<br />
„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (1899) wird der Tod des Cornets im<br />
Kampf mit den mohammedanischen Heiden beschrieben. Sein ästhetisierender Stil erinnert an die<br />
Kampfbeschreibungen der Freikorpskommandanten der Revolutionszeit:<br />
„...und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl sind ein Fest. Eine<br />
lachende Wasserkunst.“ 51<br />
Mühelos verbanden sich nicht nur Dekadenz und Ästhetizismus miteinander, auch die Dekadenz und<br />
die völkische Bewegung kohabitierten bereits früh miteinander. Viele Ästhetizisten und Dekadente<br />
werden der präfaschistischen Bewegung zugeordnet, insbesondere George und sein Kreis, der junge<br />
Thomas Mann und der junge Heinrich Mann, der es 1894 fertigbrachte, gleichzeitig zwei<br />
Dekadenzromane: „Das Wunderbare“, in der die Schönheit des Verfalls beschrieben wurde, und<br />
„Contessina“ zu schreiben und bei der antisemitisch-völkischen Zeitung „Das Zwanzigste Jahrhundert.<br />
Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ mitzuarbeiten.<br />
Bedeutung für <strong>das</strong> Einläuten einer neuen Phase der Kunstgeschichte hatten vor allem der italienische<br />
Futurismus und die Kunst der „Primitiven“. Eine Tribüne war die Zeitschrift „Der Sturm“, die von<br />
50 Goethe, Italienische Reise, dtv, 1988 S. 534 ff<br />
51 Die Zitate sind alle der „Geschichte der deutschen Literatur 2 „ entnommen.<br />
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