Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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genauso wie gefaltete Schichten durch Erosion freigelegt werden. So wie nicht immer die jüngste<br />
geologische Schicht oberflächlich ansteht, bleibt auch die jüngste gesellschaftliche Schicht nicht<br />
immer als die bestimmbare an der politischen Oberfläche.<br />
Auf jeden Fall ist die Kultur <strong>das</strong> Magma und <strong>das</strong> politische Tagesgeschäft ist die erkaltete<br />
institutionalisierte Kruste. Noch Karl Marx hatte ökonomische Basis und institutionellen Überbau der<br />
Gesellschaft unterschieden, aber mit der Kultur wusste er nicht recht wohin. Die Priester des<br />
Marxismus-Leninismus nannten <strong>das</strong> Anerkentnis des Primats der ökonomischen Basis als treibende<br />
„flüssige“ Kraft eine materialistische Weltanschauung.<br />
Die Schamanen des Leninismus legten größten Wert darauf, jedem lebenden menschlichen Wesen,<br />
welches in ihre Gewalt geriet, ein klares Bekenntnis zum Materialismus abzupressen. Die<br />
ökonomische Basis habe den Überbau zu bestimmen und Basis sowie Überbau seien objektiv<br />
vorhanden. So lautete kurz <strong>das</strong> Glaubenbekenntnis. Nun ist <strong>das</strong> marxistische Begriffspaar Basis -<br />
Überbau allerdings an individualistische Gesellschaftsstrukturen gebunden, denn es führt sich in<br />
Staatswirtschaften ad absurdum. Wie kann die ökonomische Basis der Gesellschaft den Überbau<br />
bestimmen, wenn jeder ökonomische Handschlag von den Regierenden in einer Planwirtschaft<br />
vorherbestimmt wird? Die Wirtschaft kann man in feudalen und kapitalistischen Gesellschaften<br />
zweifellos zur ökonomischen Basis gehörend darstellen, die Politik und die staatlichen Institutionen<br />
sind im Überbau angesiedelt. Aber je nachdem, wo die Kultur Raum greift, als elisabethanisches<br />
Theater, als comedia del arte, als Alltagskultur in der ökonomischen Basis oder als Priesterkult am<br />
Altar der Macht im Überbau, je nach dieser Zuordnung der Kultur entscheidet sich erst die<br />
Handhabbarkeit eines idealistischen oder materialistischen Ansatzes. Ist die Kultur im ökonomischen<br />
Unterbau beheimatet, bestimmen also die Bürger durch freigiebiges Mäzenatentum oder <strong>das</strong> Entgelt<br />
für Eintrittskarten über die Inhalte der Kultur, so bestimmt die Kultur zusammen mit der Wirtschaft,<br />
quasi als deren Teil den politischen Überbau. Wird <strong>das</strong> Zuhause der Kultur dagegen im Überbau<br />
vorausgesetzt, bestimmen die Machthaber zum Beispiel durch Zeitungs- und Medienbesitz die<br />
Kulturpolitik, machen sie sich Kanalarbeiter im Fernsehen gefügig, subventionieren sie die Theater<br />
oder arbeiten sie mit großzügigen Filmförderinstrumenten, so ist nur mit einem idealistischen Weltbild<br />
einigermaßen Ordnung in die Zusammenhänge zu bringen, dann bestimmt nämlich der Überbau über<br />
die Basis der Gesellschaft. Wir befinden uns dann im Reiche des clausewitz´schen und lenin´schen<br />
Primats der Politik.<br />
Wir werden am Beispiel der Weimarer Republik sehen, <strong>das</strong>s sowohl ein kulturistischer Ansatz, der die<br />
Kultur als entscheidendes Moment der gesellschaftlichen und politischen Veränderung betrachtet, als<br />
auch ein Ansatz, der die reine Wirtschaftsverfassung als konstitutiv für die politische Entwicklung<br />
betrachtet, geradewegs in den Nationalsozialismus führt. Wie die Dualität von Welle und Körper bei<br />
der Erklärung des Lichts funktioniert hier eine Dualität von Kultur und Wirtschaft. Man kann machen,<br />
was man will, man kann es erklären, wie man kann; es kommt unter den gegebenen Weimarer<br />
Umständen immer zwangsläufig Adolf Hitler heraus.<br />
Die Geschichte der Weimarer Republik muß neu erzählt werden, um die Logik der Verschiebungen<br />
der politischen Platten der Weimarer Republik erkennbar zu machen: statt einer Geschichte der<br />
politischen Kruste muß auch die Geschichte des kulturellen und wirtschaftlichen Magmas erzählt<br />
werden, <strong>das</strong> diese Platten trieb. Und von dieser heißen kulturellen Phase muß ohne nachträgliche<br />
„Berichtigungen“ erzählt werden. Wenn tatsächlich „fortschrittliche“ kulturelle Werte geführt hätten, so<br />
wäre der „rückschrittliche“ Adolf Hitler eben nicht an die Macht gekommen. Man möge diese logische<br />
Direktheit verzeihen; aber entweder die kulturellen Werte, die geführt haben, waren wie Adolf Hitler<br />
rückschrittlich oder diese Werte und Adolf Hitler waren gemeinsam fortschrittlich. Daß die kulturellen<br />
Werte einer anderen Entwicklung Vorschub geleistet hätten als dem Machtantritt Adolf Hitlers, ist<br />
einfach unlogisch. Um diese unlogische Lebenslüge aufrechtzuerhalten, ist die kombinierte<br />
Betriebsunfall- und Verschwörungstheorie entwickelt worden, die es ermöglicht, eine vermeintlich<br />
fortschrittliche Kultur mit einem rückschrittlichen Hitler zu versöhnen, kompatibel zu machen.<br />
Das Bildungsbürgertum ist <strong>das</strong> entscheidende Element bei jeder gesellschaftlichen Umwälzung und<br />
<strong>das</strong> weiß auch jeder Despot, behauptete Will Ferguson, und er hat damit mindestens zu 50 % Recht.<br />
Die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts war scheinbar eine Zeit der Hochkultur. Namen wie<br />
Hermann Hesse, Fidus, Max Beckmann, Walter Gropius, Harry Graf Kessler, Emil Nolde oder Henry<br />
van de Velde sind mit dem Gedanken der Lebensreform, des <strong>Neue</strong>n Weimar und des Bauhauses<br />
untrennbar verbunden. Aber auch <strong>das</strong> Schweben der <strong>Menschen</strong> in geistige Sphären, der Drang in<br />
kulturelle Höhen verhinderte nicht den Fall in gesellschaftliches Tiefland. Ein guter Teil der<br />
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