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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Die Taktik derer, welche die belastete Lebensreform und den abgewirtschafteten Idealismus<br />

wiederbeleben wollten, war denkbar einfach: Erstens die Verfolgten des NS-Regimes würdigen, auch<br />

dann wenn sie wie Graf Schenk von Stauffenberg vom alten System retten wollten, was zu retten war.<br />

Zweitens die nationalsozialistischen Nachkriegs-Wendehälse geißeln, drittens die Geschichte von<br />

hinten nach vorn neu schreiben: Beginn mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 und Ende mit der<br />

Machtergreifung 1933. Es gab zwischen 1933 und 1945 viele Gegner und Opfer des<br />

nationalsozialistischen Schönheitsstaates, die Hitler vor 1933 auf die politischen Beine geholfen<br />

hatten. Einige davon erhielten nach 1968 politische Heiligenscheine, andere nicht. Viele Wegbereiter<br />

Hitlers mussten 1933 <strong>das</strong> Land fluchtartig verlassen; für andere wäre es gesünder gewesen, dieses<br />

rechtzeitig getan zu haben.<br />

Es geht um eine konsistente Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus. Darum erzählt dieses<br />

Buch die Geschichte anders herum: Beginn im 19. Jahrhundert bis zum Frühjahr 1933. Dabei werden<br />

Perspektiven freigelegt und rekonstruiert, die die Zeitgenossen wirklich hatten und haben mußten,<br />

wenn sie sich politisch, wirtschaftlich oder kulturell für ein nationalsozialistisches System entscheiden<br />

wollten. Eine Logik der Entscheidungen und Langfristigkeit von Überzeugungen wird deutlich, die bei<br />

der üblichen rückwärtigen Betrachtung verloren geht. Verbindungsknoten zwischen verschiedenen<br />

Lebensreformansätzen werden gesucht, gefunden und dargestellt, ebenso wie die Berührung oder<br />

Verknüpfung mit nationalsozialistischen Überzeugungen.<br />

Ein beiläufiger Untersuchungsgegenstand des Buches ist die bisher weitgehend ungelöste Frage,<br />

warum die völkische NSDAP und die bolschewistische KPD oft so eng beieinander liegen; warum sich<br />

die beiden Parteien in Fragen des Antikatholizismus, Antikapitalismus, Antisemitismus,<br />

Antiamerikanismus, der Gesellschaftskonzeption, der Führungspraxis und –philosophie, der<br />

ästhetischen Anschauungen, der <strong>Menschen</strong>haltung in Lagern sowie in außenpolitischen Fragen sehr<br />

ähnlich sind. Es ist, wie wir sehen werden, die gemeinsame Herkunft aus dem konservativen Geist<br />

des Romantizismus und der Schwabinger Jugendbewegung. Lenin entwickelte 1901 in Schwabing<br />

unter dem Einfluß des deutschen Elitarismus in seinem Werk "Was tun?" die bolschewistische<br />

Führerpartei mit einer neuen antimarxistischen Definition des Verhältnisses von Führung und Masse;<br />

Hitler begann 1920 von Schwabing aus seine nationalsozialistische Führerpartei aufzubauen.<br />

Gleichermaßen beeinflußt von Friedrich Nietzsche wie die aktivistische Jugendbewegung ist auch <strong>das</strong><br />

Bild vom anzustrebenden <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>, einmal als Weltproletarier, ein andermal als<br />

Weltgermane.<br />

Die Zentren der Avantgarde wie Schwabing waren durchaus keine linken Hochburgen per se, wie man<br />

es vermuten könnte, wenn man Berichte über Ausstellungen der Avantgarde sieht. Neben<br />

Ästhetizisten, Anarchisten und Sozialisten gab es genausoviele Antisemiten, Rassisten,<br />

Deutschtümler und Germanenschwärmer. Bis zum Ersten Weltkrieg handelte es sich um ein<br />

gemeinsames Biotop, in welchem sich die Reformbewegung versammelte, ohne eine Trennung in<br />

links und rechts. Ob in Worpswede, in Schwabing, in Weimar, in Friedrichshagen oder im Brücke-<br />

Atelier in Dresden: immer teilten sich spätere Anarchisten, Ästhetizisten, Bolschwisten und<br />

Nationalsozialisten die Kunstzeitschrift, <strong>das</strong> Dach und die Konkubinen. Aus dem Weimarer Bauhaus,<br />

dem Werkbund und den <strong>Neue</strong>n Sachlichen gingen nicht nur Bolschewisten, sondern auch<br />

Nationalsozialisten hervor. Einige konvertierten, waren erst Bolschewist, später Nationalsozialist,<br />

andere umgekehrt. Einige Maler, deren Bilder in der Ausstellung "Entartete Kunst" hingen, zum<br />

Beispiel Emil Nolde und Peter Röhl, waren Mitglieder der NSDAP. Es ist heute kaum zu glauben, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> möglich war. Eine Randnotiz aus dieser Olympiade des Ignorierens war auch die persönliche<br />

Anwesenheit von Erich Kästner bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher im Mai 1933 in Berlin. Er<br />

wurde bei dem Großereignis zwar erkannt, aber ansonsten nicht weiter behelligt. Eine wahrlich<br />

kleinkarierte Stadt, wo „Emil und die Detektive“ dem nationalsozialistischen Scheiterhaufen Nahrung<br />

gaben.<br />

Dieselben Probleme, die die Darstellung der Machtergreifung als durch Unterfinanzierung der<br />

Sozialsysteme bedingten historischen Betriebsunfall bereitet, finden sich auch bei der Anwendung der<br />

konventionellen Theorie auf die Novemberrevolution von 1918. War es eine demokratische<br />

Revolution? Wo waren da, abgesehen von den Kieler Matrosen und den nach Hause flutenden<br />

Soldaten, die Demokraten? Wie ist <strong>das</strong> Andauern der Revolution über Mitte November 1918 hinaus zu<br />

erklären, wenn die Parlamentarisierung vor Ausbruch der Revolution erfolgte, die Einsetzung von<br />

Friedrich Ebert als Reichskanzler, die Ausrufung der Republik und <strong>das</strong> Stinnes-Legien-Abkommen mit<br />

der Einführung der 40-Stunden-Woche, alle in der ersten und zweiten Revolutionswoche in trockenen<br />

Tüchern waren?<br />

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