Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Dem Kiebitz und der wilden Ente. 96<br />
Goethe´s "Faust" läßt grüßen: den faulen Sumpf auch abzuziehn wäre <strong>das</strong> Höchsterreichte. Das<br />
Verhältnis der Sozialdemokratie zur Natur war bis zu Helmut Schmidt und Holger Börner ein sehr<br />
praktisches, <strong>das</strong> vom Glauben an die Machbarkeit der Umgestaltung der Natur durchdrungen war.<br />
Ganze Seiten aus Bebels Hauptwerk referieren den neuesten Stand der Naturwissenschaft, immer um<br />
zu behaupten, daß nach der Enteignung der Privateigentümer der technische Fortschritt endlich<br />
einschränkungslos genutzt werden könnte, um die Nahrungsproduktion zu steigern und alle anderen<br />
Gebrechen der Gesellschaft zu heilen.<br />
"Neben der Sozialwissenschaft bilden <strong>das</strong> weite Feld der Naturwissenschaften, die<br />
Gesundheitslehre, die Kulturgeschichte und die Philosophie <strong>das</strong> Arsenal, dem die Waffen<br />
entnommen werden." 97<br />
Selten haben Arbeiter, die körperlich arbeiten mussten, oder Landwirte die Technik verflucht. Ein<br />
Eldorado der Technikbegeisterten wurde die Sozialdemokratie, <strong>das</strong> der nichtsozialistischen<br />
Reformkundschaft mit ihrer überwiegend auch technikkritischen Haltung wurden die<br />
Heimatschutzverbände und Antisemitenvereine. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand die<br />
Reformpartei als antisemitisch-antikapitalistischer Propagandist des kompromißlosen und radikalen<br />
Flügels der Reformbewegung.<br />
Es ist hier interessant zu lesen, wie Bebel die Entstehung der nichtmarxistischen Reformer herleitet.<br />
Die vielen deutschen Kleinstaaten hätten zu einem im internationalen Vergleich überdimensioniert<br />
ausgebildeten Beamtenapparat geführt und zu einer überdurchschnittlichen Zahl von über <strong>das</strong> ganze<br />
Gebiet verteilte Kunstschulen und Kultureinrichtungen. Mit der Gewerbefreiheit anläßlich der<br />
Bismarck´schen Reichseinigung wären die Existenzgrundlagen des bis dahin ungemein zahlreichen<br />
Handwerker- und Kleinbauernstandes zerstört worden.<br />
"In diesem Verzweiflungskampf suchen viele möglichst Rettung in der Veränderung des Berufs.<br />
Die Alten können diesen Wechsel nicht mehr vollziehen, Vermögen können sie in den seltensten<br />
Fällen ihren Kindern hinterlassen, so werden die letzten Anstrengungen gemacht und die letzten<br />
Mittel aufgeboten, um Söhne und Töchter in Stellungen mit fixem Einkommen zu bringen, wozu ein<br />
Betriebskapital nicht nötig ist. Dies sind die Beamtenstellen im Reichs-, Staats- und<br />
Kommunaldienst, <strong>das</strong> Lehrfach, der Post- und Eisenbahndienst, die höheren Stellen im Dienst der<br />
Bourgeoisie....., ferner die sogenannten liberalen Berufe: Juristen, Ärzte, Theologen, Schriftsteller,<br />
Künstler, Architekten, Lehrer und Lehrerinnen usw. Tausende und Abertausende, die früher einen<br />
gewerblichen Beruf ergriffen hätten, sehen sich jetzt, weil keine Möglichkeit zur Selbständigkeit und<br />
einer auskömmlichen Existenz mehr vorhanden ist, nach irgendeiner Stellung in den erwähnten<br />
Berufen um. Alles drängt zur höheren Ausbildung und zum Studium. (....) Diese Jugend wird zur<br />
Kritik an dem Bestehenden herausgefordert und gereizt und hilft die allgemeine Zersetzungsarbeit<br />
wesentlich beschleunigen." 98<br />
Bebel nahm an, daß alle, die er zum Gelehrten- und Künstlerproletariat rechnete, sich der<br />
Sozialdemokratie anschließen würden. Zum kleinen Teil ging diese Hoffnung auf, zum großen Teil<br />
aber eben nicht. Es bildete sich eine antisozialdemokratische, antimarxistische, antikapitalistische,<br />
antiklerikale, antiamerikanische, antiindustrielle und fortschrittsskeptische Bewegung, eine <strong>Neue</strong> Mitte,<br />
die die von Bebel hochgeschätzte Zersetzungsarbeit leistete, ohne sozialdemokratisch zu sein. Und<br />
wenn sie sozialdemokratisch war, so war dies oft nur eine Zwischenstation auf der Abdrift in die<br />
USPD, später in die KPD und in die NSDAP. August Bebel hatte diese Bildungsschicht als<br />
Zersetzungsprodukt des Handwerks und der Landwirtschaft dargestellt, es wäre ein Wunder gewesen,<br />
wenn in dieser Schicht nicht ein Nachhall, ein Echo des Handwerks zu vernehmen gewesen wäre.<br />
Das Echo äußerte sich bereits seit dem Anfang des 19. Jh. als romantische Strömung, um die<br />
Jahrhundertwende wurde Deutschland von einer Märchen-, Sagen- und Volksliederflut, von einer<br />
Rückerinnerungswelle geradezu überschwemmt. Wie sollte diesen halbgebildeten<br />
Handwerkerskindern die Expropriation der Expropriateure schmackhaft gemacht werden?<br />
Planwirtschaftliche Überlegungen und Praktiken dagegen lagen ihnen geradezu im Blut. Sie waren<br />
Blut vom Blute der Zünfte, sie hatten die Markknochen der Markgenossenschaften und die Gene der<br />
Gilden.<br />
96 s.o. S. 605<br />
97 s.o. S. 631<br />
98 s.o. S. 625 ff.<br />
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