15.11.2012 Aufrufe

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

zugespitzt. Das politische System wurde 1933 dem wirtschaftlichen im wahrsten Sinne des Worts<br />

gleichgeschaltet und einigermaßen glatte, abgescheuerte und populäre Strömungen und Ziele der<br />

Lebensreformbewegung rückten mit der nationalsozialistischen Wende in <strong>das</strong> Zentrum des<br />

Regierungshandelns: die antikapitalistisch-ständisch motivierte Bevorzugung von Handwerk und<br />

Landwirtschaft, der <strong>Neue</strong> Mensch in Verbindung mit Rassereinheit, Zuchtanweisungen, Jugendkult<br />

und Sport, <strong>das</strong> Schönheitsideal des kraftvollen Germanen, die Ariosophie, der Mythos des Natürlichen<br />

mit der Dominanz von Blut und Boden, <strong>das</strong> Vollkornbrot, der Rassismus, der Natur- und<br />

Brauchtumsschutz sowie der Antikapitalismus und Antisemitismus.<br />

Unter den Umständen der wirtschaftlichen Stagnation und gesellschaftlichen Rückorientierung der<br />

Alten auf <strong>das</strong> Kaiserreich, in Folge der Vergreisung der politischen Klasse mußte im Laufe von drei<br />

Jahrzehnten aus dem Jugendstil der Jahrhundertwende ein Altenstil werden, der der Jugend nichts<br />

mehr bedeutete, der neue Zersatzprodukte des Jugendstils und Metamorphosen der<br />

Reformbewegung hervorbrachte. Hitler "modernisierte" die Reform und ließ die Pioniere der Reform<br />

als "Rückwärtse" bezeichnen. Die Reformbewegungen der Jahrhundertwende wurden in die Republik<br />

herübergetragen, nach vielen ideologischen Wirrnissen und sektiererischen Zerwürfnissen für die<br />

Massen aufgeschlossen, dabei aber auch auf Massenware abgerieben und erlitten den einen oder<br />

anderen Bedeutungswandel. Hitlers historisches "Verdienst" war es, für im Grunde elitaristische<br />

Konzepte als brauner Christo eine volkstümelnde Verpackung zu entwickeln und aufzusetzen.<br />

Es war die Frage, welcher Stil, welcher Ausdruck der Jugend entsprechen würde, wenn sie denn den<br />

Blick endlich nach vorne richten würde. Es war nicht mehr der Jugendstil, es war auch nicht mehr der<br />

Expressionismus, aber es waren die bis in die späten dreißiger Jahre siegreichen Ideen der<br />

Jugendbewegung. Wie in der Renaissance trat der Mensch aus seinen gewachsenen Bindungen an<br />

Gott heraus, und fühlte seine Kraft. Wir werden sehen, <strong>das</strong>s er diese Kraft wie am Ende der<br />

Renaissance nicht für friedliche Zwecke einzusetzen wusste. Die Renaissance endete mit dem<br />

Dreißigjährigen Krieg und die Jugendbewegung marschierte sich im Zweiten Weltkrieg tot.<br />

Der historisch längst fällige wirtschaftliche, kulturelle und politische Bruch vollzog sich in<br />

Westdeutschland erst nach 1945 unter maßgeblichem Druck Amerikas und in Ostdeutschland fast ein<br />

halbes Jahrhundert später.<br />

Bleibt noch die Frage, was aus den Erzreformisten der Weimarer Zeit nach Hitlers Machtübernahme<br />

wurde. Hjalmar Schacht war bis 1939 Reichsbankpräsident, bis es zum Zerwürfnis mit der braunen<br />

Administration kam. 1944/45 saß er im KZ. Fidus wurde nicht der erste Reichsmalermeister, Ludwig<br />

Klages nicht der Chefideologe und Werner Sombart nicht der Wirtschaftsexperte des Dritten Reiches.<br />

Es gab nur einen Führer, der alles selber wusste und konnte, was die drei nicht bedacht hatten. Ernst<br />

Thälmann kam ins KZ und wurde dort wahrscheinlich 1944 umgebracht. Thomas Theodor Heine,<br />

Bertolt Brecht, Otto Strasser, Sigmund Freud, Harry Graf Kessler, Alfred Kerr und Kurt Hiller gingen<br />

ins westliche Exil, letzterer nach einem KZ-Intermezzo. Hermann Hesse lebte schon vor dem<br />

Machtantritt in der Schweiz, Kurt Tucholsky in Schweden. Herwart Walden und Heinrich Vogeler<br />

kamen in der Sowjetunion um, Walter Ulbricht nicht. Gottfried Benn trat in die Wehrmacht ein. Ernst<br />

Barlach blieb in Deutschland und wurde von den Nationalsozialisten totgeärgert. Johannes R. Becher<br />

wurde in der auf <strong>das</strong> Dritte Reich folgenden Diktatur Kulturminister. Hermann Göring wurde<br />

Reichsmarschall und Joseph Goebbels Propagandaminister. General von Schleicher wurde 1934 in<br />

derselben Nacht, wie SA-Führer Röhm und Gregor Strasser erschossen. Gerhart Hauptmann ließ sich<br />

von den Nationalsozialisten verehren, ohne Umstände zu machen. Käthe Kollwitz erhielt 1936<br />

wenigstens ein Ausstellungsverbot. Alfred Hugenberg verlor sein Presseimperium an die<br />

Nationalsozialisten, blieb aber bis 1945 Reichstagsmitglied. Bruno Taut ging 1933 nach Japan, 1936<br />

in die Türkei, wo er die Diktatur Atatürks und dessen Sarg verschönte. Samuel Fischer war vom Ernst<br />

der Lage nicht zu überzeugen und blieb in Berlin, wo er 1934 starb.<br />

337

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!