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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Hannah Ahrendt wehrte rückblickend im ihrem Ersten Teil der „Elemente und Ursprünge totaler<br />

Herrschaft“ die panslawistische Kulturpropaganda gegenüber Europa, wie sie von Dostojewski<br />

betrieben wurde, ab: In dieser Literatur, entstanden in bürokratisch-despotischer Willkür und trägem<br />

Chaos, sei in einer schier unendlichen Variation von Einfällen <strong>das</strong> flache, sterile und nur zivilisierte<br />

Europa, <strong>das</strong> nicht weiß, was Leiden und Opfer sind, der Tiefe und ursprünglichen Gewalttätigkeit<br />

Russlands gegenübergestellt worden. Stets habe es dem Leser so erscheinen müssen, <strong>das</strong>s die<br />

östliche Seele unendlich reicher, ihre Psychologie unendlich komplizierter und ihre Literatur unendlich<br />

tiefer sei, als die der westlichen Völker. 297<br />

Die Masse der Intellektuellen trabte im reformistischen Zug der Lemminge. In der russischen Seele<br />

wurde die „junge Seele“ erkannt. Alfred Henschke (Klabund), der uns schon als Kriegstreiber<br />

begegnet war, schrieb:<br />

„Die nächste Zukunft der Erde hängt von den großen Völkern ab, in denen Gottes Traum am<br />

lebendigsten geträumt wird: von Russland und Deutschland.“ 298<br />

Der Liebe Gott hatte ein Einsehen und ging wie gewöhnlich eigene Wege.<br />

In dieser jugendbewegten intellektuellen Atmosphäre kam es in Berlin schnell zu einem Exodus der<br />

russischen Emigrantenszene. Mitte der zwanziger Jahre verließ dieses Klientel „gewesener<br />

<strong>Menschen</strong>“ aus Sozialdemokraten, Liberalen und Monarchisten fast fluchtartig Deutschland. Es war in<br />

diesem literarischen Schafs- und Affenstall mit seinem rotbraunen Pestgestank für normale <strong>Menschen</strong><br />

einfach nicht mehr auszuhalten.<br />

Der Vertrag von Rapallo<br />

Im August 1921 begann der dramatische Verfall der Reichsmark; Matthias Erzberger wurde von<br />

Freischärlern ermordet. Reichspräsident Ebert erließ darauf die Verordnung zum Schutze der<br />

Republik. Im Oktober 1921 wurde durch den Völkerbund ein Teil Oberschlesiens Polen zugeordnet.<br />

Vorausgegangen war am 20. März eine Volksabstimmung, bei der es in 664 Gemeinden eine<br />

deutsche und in 597 Gemeinden eine polnische Mehrheit gegeben hatte. Die mehrheitlich deutschen<br />

Gemeinden blieben bei Deutschland, die mehrheitlich polnischen wurden an Polen abgetreten. Das<br />

war nach drei blutigen Bürgerkriegen im August 1919, im August 1920 und im Mai 1921 in der<br />

unübersichtlichen ethnischen Gemengelage sicher eine vernünftige Lösung. Aus Protest gegen diese<br />

vernünftige Teilung Oberschlesiens wählte die deutsche Reichsregierung aus Zentrum, SPD und DDP<br />

die inzwischen bereits verschlissene Politposse eines theatralischen Rücktritts als Skandalisierung<br />

und inszenierte Empörung. Keiner der Minister beging Selbstmord und fast alle saßen nach wenigen<br />

Tagen noch im Oktober wieder am Kabinettstisch, als wäre nichts gewesen. Es war ja auch nichts<br />

gewesen. Das Jahr 1922 begann mit Streiks. Im März wurden die Besatzungskosten mit 220 Mio. RM<br />

festgesetzt, die zusätzlich zu den Reparationen zu zahlen waren. Am 15. Februar 1922 wurde <strong>das</strong><br />

Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat beschlossen. Im März<br />

erfolgten wieder kleinere Gebietsabtretungen an Polen und die Steuern wurden erhöht. Unter<br />

anderem wurde die Vermögenssteuer eingeführt. Im April wurde am Rande der Wirtschaftskonferenz<br />

von Genua der Vertrag von Rapallo mit Rußland unterzeichnet. Die beiden Aussätzigen im<br />

Nachkriegs-Krankenhaus Europa beschlossen darauf zu verzichten, sich für ihre Kriegsverletzungen<br />

gegenseitig zu entschädigen.<br />

Am 31. Januar 1922 war Walther Rathenau Reichsaußenminister geworden. Seine Hauptaufgabe<br />

bestand darin, die schwebenden Reparationsleistungen herunterzuverhandeln. Das war die<br />

Hauptaufgabe aller Außenminister der Republik. Im April 1922 gab es die erste Gelegenheit dazu,<br />

denn der englische Premier Lloyd George hatte eine europäische Wirtschaftskonferenz nach Genua<br />

eingeladen. Hintergrund war der Wunsch, dem darniederliegenden Außenhandel neue Impulse zu<br />

verleihen. Auch Deutschland und Sowjetrußland waren Gäste. Von Sowjetrußland erwartete oder<br />

erhoffte man die Anerkennung der Vorkriegsschulden.<br />

Im Auswärtigen Amt hielten sich zahlreiche kaiserliche Diplomaten an ihren Stühlen fest, so auch Ago<br />

von Maltzan in der Ostabteilung. In der Stunde der Not erinnerte man sich offensichtlich an die Mühle<br />

von Tauroggen und an die Maßnahmen, die bei der französischen Besetzung 1807 bis 1814 getroffen<br />

297 s.o. S. 352<br />

298 s.o. S. 360<br />

206

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