Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Reichstag beschließen möge: »Die deutschen Juden stehen außerhalb der Verfassung und gelten<br />
als Fremde. Da die Mehrheit des deutschen Volkes eine Volksgemeinschaft mit den Juden ablehnt,<br />
so sind sie als lästige Ausländer des Landes zu verweisen.« Es folgen die<br />
Ausführungsbestimmungen »Es sind für die Juden Termine gesetzt, innerhalb deren die<br />
Angehörigen der einzelnen Berufe Deutschland zu verlassen haben. Der äußerste Termin von<br />
sechs Monaten gilt für die Direktoren von Banken und Industrieunternehmungen, die im letzten<br />
Jahre Einkommen von mehr als hunderttausend Goldmark versteuert haben. Jeder darf sein<br />
Vermögen mitnehmen, dessen Höhe den bei der letzten Vermögensabgabe angegebenen Betrag<br />
nicht übersteigen darf. Unternehmungen, die sich nicht veräußern lassen, werden vom Staate<br />
übernommen. Der Übernahmepreis wird derart berechnet, daß der Reinertrag des letzten Jahres<br />
zweieinhalbprozentig kapitalisiert wird. Maßgebend ist auch hier die letzte Steuererklärung. Ein<br />
Unternehmen, dessen Ertrag sein Eigentümer im letzten Jahre mit 20.000 Goldmark angegeben<br />
hat, wird demnach mit 200.000 Goldmark abgelöst. Angehörige freier Berufe, wie Anwälte, Ärzte,<br />
Künstler, Schriftsteller, sowie Festbesoldete, die kein Vermögen besitzen, erhalten den Betrag<br />
ausbezahlt, den sie als Einnahme im letzten Jahre versteuert haben. Alle nicht versteuert<br />
gewesenen Vermögen werden konfisziert. Juden, die höhere Beträge als die gesetzlich<br />
festgesetzten herauszubringen versuchen, desgleichen jeder, der ihnen dabei behilflich ist, werden<br />
mit dem Tode bestraft. Juden, die über die ihnen gesetzte Frist im Lande angetroffen werden,<br />
werden mit Zuchthaus bestraft und nach verbüßter Strafe zwangsweise abgeschoben. Juden, die<br />
über 75 Jahre alt sind, desgleichen Schwerkranke, denen die hierfür eingesetzte Ärztekommission<br />
die Reiseunfähigkeit testiert, dürfen im Lande bleiben, haben aber zu gewärtigen, daß ihnen<br />
Aufenthaltsbeschränkungen auferlegt werden.« Als diese Vorlage verlesen war, herrschte<br />
zunächst Totenstille. De mortuis nil nisi bene. Nicht mehr um Kampf handelte es sich. Das Opfer<br />
war zur Strecke gebracht. Nur die Form der Bestattung stand noch zur Diskussion. Man hatte<br />
Ausnahmegesetze erwartet und erfuhr nun, daß die Hinrichtung bereits erfolgt war.“.....“Die<br />
Direktionen der Großbanken waren eben zu einer Beratung zusammengetreten, ob sie<br />
intervenieren sollten, als vom Reichstag telephonisch der Wortlaut der Rede des Reichskanzlers<br />
gemeldet wurde. Die Intervention der Banken unterblieb. Alle Werte wurden auf den Markt<br />
geworfen. Vergebens bemühten sich ein paar Besonnene, der Kopflosigkeit entgegenzutreten. Sie<br />
wurden überbrüllt. Die Kurse hatten ihren Tiefstand in Berlin und anderen Märkten erreicht, es war<br />
weit und breit niemand mehr, der <strong>das</strong> Material aufnahm, als zur allgemeinen Verblüffung plötzlich<br />
auf allen Gebieten Käufe in großem Umfange einsetzten, ohne daß mit Bestimmtheit festzustellen<br />
war, von wo die Ordres stammten. Irgendwer verbreitete »Wallstreet«. Obgleich <strong>das</strong> nicht mehr als<br />
ein Tip war, wurde es geglaubt und galt bald als Gewißheit. Man begann die Rede des Kanzlers<br />
anders auszulegen. Die Kurse zogen an, sprunghaft erst, dann langsamer. Sie hatten ihren<br />
Anfangsstand beinahe erreicht, als der Wortlaut des Gesetzes - zunächst ohne die<br />
Ausführungsbestimmungen - bekannt wurde. Da wurde die Börse zum Tribunal.<br />
Sie brüllten nicht und schrien nicht, sie waren ganz still und warfen keinen Blick mehr auf die<br />
Tafeln, vor denen die betroffenen Makler standen. Denn statt des erwarteten Ansturmes und der<br />
Rufe »Brief!« schoben sich Hunderte von <strong>Menschen</strong> mit stummen Mienen, die nun nicht mehr an<br />
ihre Geschäfte, vielmehr an ihr Haus, ihre Frauen, ihre Kinder dachten, zum Ausgang. Nicht in<br />
Todesangst sich drängend und stoßend wie bei einem Brande, um ihr Leben zu retten, langsam,<br />
als gingen sie hinter einer Leiche her, verließen sie <strong>das</strong> Haus, und – sonderbar – sie stiegen nicht<br />
in ihre Wagen, die vor der Börse hielten, sondern gingen in geschlossenem Zuge zur<br />
Oranienburgerstraße, ließen Gitter und Pforte der neuen Synagoge öffnen und wandten die Herzen<br />
zu ihrem alten Gott, dem einen, einzigen Gott, demselben Gott, zu dem auch jene beteten, die zur<br />
gleichen Zeit dies Gesetz der Nächstenliebe erdacht hatten und zur Durchführung brachten. Noch<br />
am gleichen Tage schlossen, ohne daß eine Vereinbarung erfolgt wäre, alle vom Gesetz<br />
Betroffenen zum Zeichen der Trauer ihre Geschäfte. Auch die Theater und Kinos wollten<br />
schließen. Aber schon um drei Uhr nachmittags prangte an allen Ecken folgende<br />
Bekanntmachung:<br />
Notverordnung!<br />
§1. Sämtliche Detail- und Engros-Geschäfte, Cafes, Bars, Hotels und Restaurants, Kinos und<br />
Theater im Reiche sind offen zu halten. Zuwiderhandlung wird mit Zuchthaus bestraft.<br />
§ 2. Wer Eigentum von Juden antastet oder mit Juden Streit provoziert, wird mit Zuchthaus<br />
bestraft.<br />
Zu dieser Bekanntmachung gesellte sich kurz darauf folgender Anschlag:<br />
Deutsche Bürger!<br />
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