Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Hindenburg war 52 Jahre alt, als zur Jahrhundertwende die Sektkorken knallten. Wie sollten<br />
diejenigen, die 1900 älter als 25 waren die Reformbewegung verkörpern? Sie wurden eher von Fürst<br />
Bismarck und August Bebel geprägt, als von Wilhelm II. oder Friedrich Nietzsche. Die Reform mußte<br />
noch warten, bis ihr Personal ministrabel wurde. Aber die neue Generation wuchs heran. Eine<br />
unangenehme Ausnahme von den obengenannten bildete Walther Rathenau, der 33 Jahre alt war, als<br />
<strong>das</strong> Jahr 1900 begann. Er war im Gegensatz zu allen genannten stark von der Reform geprägt und<br />
deutlich ein Kind der neuen Zeit.<br />
Hermann Müller (SPD), Konstantin Fehrenbach (Zentrum), Friedrich Ebert (SPD), Hugo Haase<br />
(USPD), Gustav Stresemann (DVP) und Wilhelm Marx (Zentrum) waren teilweise noch unter dem<br />
Eisernen Kanzler groß geworden. Ihre Stehkrägen und Bratenröcke entsprachen am Ende der<br />
zwanziger Jahre nicht mehr dem Zeitgeist.<br />
Das Personal der Nationalsozialisten war 1900 wesentlich jünger: Streicher 15, Hitler 11, Göring 7,<br />
Goebbels 3, Höß und Frank noch nicht geboren. Es handelte sich auch soziologisch um typische<br />
Reformkinder. Julius Streicher war Lehrer, Rudolf Heß Student, Dietrich Eckardt Dichter und<br />
Dramatiker, Max Ammann Feldwebel, Hermann Esser Zeitungsredakteur, Hermann Göring<br />
Fliegerhauptmann, Alfred Rosenberg Schriftsteller und Architekt, Hans Frank Dichter, Baldur v.<br />
Schirach Dichter, Albert Speer Architekt, Max Erwin v. Scheubner-Richter Student, Joseph Goebbels<br />
Redakteur und Schriftsteller, Heinrich Himmler Landkommunarde, Walter Darré Student, Walther Funk<br />
Musiker. In der Führung überwogen Vertreter einer romantischen Großstadtbohème. 415<br />
Die Zugehörigkeit zur NSDAP korrespondierte im wesentlichen mit der Zugehörigkeit zur Alterskohorte<br />
1890 bis 1910. Das betraf sowohl die Führung, die Mitglieder, wie auch die Wähler. Natürlich wird<br />
dagegen <strong>das</strong> Argument ins Feld geführt werden, <strong>das</strong>s die viel jüngeren Günter Grass und Dieter<br />
Hildebrand auch Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen wurden. Beide behaupten jedoch,<br />
nicht zu wissen, wie sie in den letzten Kriegswirren in die NSDAP überhaupt hereingekommen sind.<br />
Bereits 1902 waren Fidus und seine Auftraggeber von der Vereinigung „Die Kunst im Leben des<br />
Kindes“ davon ausgegangen, <strong>das</strong>s die neue Generation ihr eigenes Wesen ausleben könne. Die<br />
Sozialisation der Kinder des beginnenden 20. Jahrhunderts erfolgte unter den Bedingungen einer<br />
expressionistischen Kulturrevolution.<br />
In der Mitte der zwanziger Jahre begann als nächste Kulturwende die rationalistisch gefärbte <strong>Neue</strong><br />
Sachlichkeit mit ihrem distanzierten Weltblick die gefühlsbetonte Lebensreform zu überlagern. Es<br />
begann eine ästhetische Konkurrenz, die sich nach 1936 in zahlreichen Malverboten für die<br />
Sachlichen äußerte, aber es kam auch zur Symbiose zwischen Reformismus und Sachlichkeit, die<br />
sich unter anderem in nationalsozialistischen Karrieren ehemaliger Sachlicher zeigte. Es begann in<br />
der Mitte der 20er ein Wettlauf zwischen zwei Kulturen, der von der jüngeren auf Grund der zu kurzen<br />
Entwicklungszeit zunächst nur verloren werden konnte. Dieser <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit fehlte bis 1933 die<br />
Zeit, sich vom Jugend- und Schönheitswahn, von der Idee des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> abzugrenzen und an<br />
die Ideale der Sattelzeit anzuknüpfen. Im Gegenteil nutzten insbesondere die Kommunisten und<br />
Nationalsozialisten die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit als Plattform, um sich von ästhetisch ver<strong>braucht</strong>en Mustern<br />
abzusetzen, ebenso wie die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit unbegrenzte Möglichkeiten bot, die Reform mit der<br />
Technik zu versöhnen. Viele Autoren und Maler der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit hatten ihre ersten Schritte als<br />
Expressionisten gemacht und waren gerade erst dabei, sich zu neu zu orientieren, wobei um mit Karl<br />
Marx zu sprechen eine esoterische und eine exoterische Seite in ihrem Werk miteinander<br />
konkurrierten. Eine esoterische sachliche neue Seite ihrer Aussage kämpfte mit alten exoterischen<br />
expressionistischen Gewohnheiten. Ernst Toller fällt in seinem Drama "Hoppla, wir leben!" immer<br />
wieder in expressionistische Übertreibungen zurück, noch mehr Walter Mehrings Einschublied vom<br />
Demolieren, der Schlachtmusik und dem elektrischen Schafott. So wie die Reformbewegung mit dem<br />
Jugendstil seit dem ersten Auftreten drei Jahrzehnte ge<strong>braucht</strong> hatte, die Welt zu irrationalisieren, so<br />
<strong>braucht</strong>e auch die Gegenbewegung ihre Zeit die Welt wieder zu rationalisieren. Die Anhänger der<br />
Sachlichkeit mußten 20 Jahre warten, bis der <strong>Neue</strong> Mensch "fertig hatte". In der DDR wurde der eine<br />
<strong>Neue</strong> Mensch gar durch den nächsten <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> ersetzt, aber nach dem Scheitern der<br />
blonden Bestie war der proletarische Wiedergänger von Geburt an ein ver<strong>braucht</strong>er Greis und<br />
schleppte sich mühsam zu seinem Grabe, zum Schlusse auch an sich selber zweifelnd. Die<br />
Hexenküche, die den Homunkulus hergegeben hatte, der Impuls des Fin de siècle lag zulange zurück,<br />
es war ein importierter Ikarus, der seine schwindende Kraft aus dem Reich der Tyrannen bezog, deren<br />
415 Joachim Fest: Hitler, Ullstein, S. 228<br />
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