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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Die Sozialdemokraten und „kleinbürgerliche“ Konzepte<br />

Den Sozialdemokraten hätte man wie allen anderen politischen Kräften folgende Mahnung aus dem<br />

Talmud ins Parteiprogramm schreiben können:<br />

Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.<br />

Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.<br />

Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.<br />

Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.<br />

Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.<br />

Was waren die Sozialdemokraten eigentlich? Waren die nur eine neuzeitliche Mutante der zünftigen<br />

Gesellenvereine, oder waren sie ein reines proletarisches Produkt der Industrie; und welche Rolle<br />

spielte eigentlich Karl Marx?<br />

Wir werden sehen, <strong>das</strong>s die Geschichte der Sozialdemokratie von der Geschichte des<br />

Kleinbürgertums nie ganz zu trennen ist, da an der Grenze von Proletariat und Handwerk proletaroide<br />

Existenzen leben, die ein Kontinuum des Übergangs von industrieller und handwerklicher Arbeit<br />

darstellen, wie zum Beispiel die bereits erwähnten schlesischen Weber.<br />

Die Zünfte und mit ihnen die Gesellenvereine waren seit dem Aufkommen marktwirtschaftlicher Keime<br />

und der modernen Maschinerie antikapitalistisch eingestimmt, da kapitalistische Produktionsweisen<br />

per se dem zünftigen Regelwerk widersprachen. Kompakt war der Antikapitalismus der Kleinbürger<br />

1806 anläßlich der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen zutage getreten, er war durch die<br />

Tradition des Zunftwesens geheiligt; also viel älter, als sozialistische Ideen, die in Deutschland erst vor<br />

1840 im Umfeld von Born und Weitling entstanden.<br />

Vor der Entstehung der sozialdemokratischen Bewegung gab es eine romantizistische Spezies<br />

antikapitalistischer Ressentiments, die durch den später entstehenden Marxismus nie wirklich<br />

verdrängt wurde. Diese Voreingenommenheiten waren vorbürgerlich-zünftig motiviert. Ein Beispiel für<br />

diesen vorsozialistischen Antikapitalismus ist <strong>das</strong> Kunstmärchen "Das kalte Herz" von Wilhelm Hauff.<br />

Hauff starb 1827, und kurz nach seinem Tod wurde <strong>das</strong> Märchen veröffentlicht. Es entstand am<br />

Vorabend der Industrialisierung und ist deshalb mehr eine Reflexion der Auflösung der alten<br />

Handwerksordnung, als eine Anklage gegen die moderne Industriegesellschaft. Zwei Geister streiten<br />

um den Kohlenmunkpeter. Das Glasmännlein als Vertreter der traditionellen Werte und der Holländer<br />

Michel als Patron der Holzfäller und Handelsherren.<br />

"Seitdem wir diesen Handel haben, seitdem die Schwarzwälder Leute kölnische Pfeifen tragen,<br />

seitdem sie ihren eigenen Wald, ihre eigenen Bäume bis nach Holland verkaufen, seitdem sind die<br />

<strong>Menschen</strong> schlecht geworden."<br />

Das war Hauff´s Resumee der neuen Zeit. Und mit dieser Vermutung der handelsbedingten<br />

Charakterverschlechterung argumentieren die Globalisierungsgegner noch heute, <strong>das</strong> unschuldige<br />

Dorf wird der schmutzigen Welt gegenübergestellt und für die Chiapasierung der Welt geworben. Der<br />

auf einem autarken Landleben fußende bäuerliche Kommunismus der Roten Khmer oder des<br />

Leuchtenden Pfades forderte zahlreiche <strong>Menschen</strong>leben, ebenso der aus dem romantischen<br />

Antikapitalismus entstandene nationale Sozialismus der Deutschen. Wenn man <strong>das</strong> Märchen vom<br />

charakterverderbenden Kapitalismus glauben würde, oder wenn es gar tatsächlich wahr wäre, so<br />

müßte man Gott bitten: Laß lieber den Kapitalismus und ein bißchen schlechten Charakter zu, als so<br />

viel Krieg und so viele Tote.<br />

Der Hauptstrom dieses vorsozialistischen Antikapitalismus mündete in die konservativen und<br />

völkischen Ideologien. Alle konservativen Parteiprogramme des 19. Jahrhunderts und die<br />

zeitgenössische politische Ökonomie der <strong>Romantik</strong> und der Historischen Schule waren damit<br />

regelrecht überfrachtet. Ein Nebenstrom ergoß sich über die Gesellenvereine der 30er und 40er jahre<br />

in die frühe sozialistische Bewegung. Ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die<br />

sozialistische Agitation. Diese frühen sozialistischen Ideen der 40er Jahre hatten massive<br />

Abgrenzungsprobleme zur Zunftromantik, was durch die physische Nähe der Frühproletarier zu<br />

Handwerksgesellen bedingt war. Zunächst folgte diese Bewegung den ausgetretenen Spuren des<br />

Romantizismus, bis Karl Marx diese Ideen als reaktionär brandmarkte und einen Kult des Siegs der<br />

industriellen nichthandwerklichen Arbeit und des industriellen Fortschritts über <strong>das</strong> Handwerk kreierte.<br />

Dieser von Marx errichtete Altar des Industrialismus war <strong>das</strong> spezifische des Kommunismus<br />

gegenüber den vormarxistischen Zunftlern.<br />

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