Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Vorwort eines dünnen und äußerst schlichten "Gedenkblattes" zum 50jährigen Jubiläum am 9. April<br />
1920.<br />
Ein ungünstiger Begleitumstand der Restrukturierung nach dem Weltkrieg waren natürlich die<br />
aufgelaufenen Staatsschulden des Reichs, die Zins und Tilgung verlangten, ein anderer die zu<br />
bedienenden Reparationen und Besatzungskosten. Weitere Zusatzkosten verursachten die vielen<br />
Invaliden, Witwen und Waisen des Weltkriegs und Aussiedler aus den verlorengegangenen Gebieten.<br />
Dazu kamen zeitweise die Kosten des Ruhrkampfabenteuers. Alle diese Kosten mußten aus dem<br />
Bruttosozialprodukt erwirtschaftet werden, <strong>das</strong> zunächst niedriger war, als 1913.<br />
Nun mußten aus dem Bruttosozialprodukt nicht nur Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Industrie,<br />
sondern auch in allen anderen Wirtschaftszweigen, also der Landwirtschaft, Handel, Verkehr,<br />
Handwerk und Dienstleistungen befriedigt werden. Daneben alle selbstarbeitenden Landwirte,<br />
Kleinhandwerker und Freiberufler, die Angestellten und Beamten des Reichs, der Länder und der<br />
Kommunen.<br />
Der seit 1913 geschrumpfte Kuchen mußte nach dem Kriege neu verteilt werden. Eine Möglichkeit<br />
wäre natürlich gewesen, die Kriegslasten gleichmäßig auf alle Schultern zu verteilen, also alle<br />
Einkommen gleichmäßig zu verringern. Diese Option bestand angesichts der gewerkschaftlichen<br />
Offensive am Ende des Weltkriegs nicht: Die Arbeiter hatten den Krieg nicht begonnen und nicht<br />
gewollt, und sie wollten mit seinen Folgekosten nichts zu tun haben. Eine andere Möglichkeit wäre<br />
gewesen, die Lasten vor allem den Kriegstreibern, also den Intellektuellen und dem Adel aufzubürden.<br />
Insbesondere Arbeiter, Landwirte und Gewerbetreibende hätten in diesem Fall von den Kosten<br />
freigestellt werden müssen. Eine dritte Möglichkeit wurde schließlich gewählt, nämlich die, die Lasten<br />
nach der Stärke der Interessenvertretungen der jeweiligen Interessengruppe zu zerteilen. Die<br />
dominierende Interessenvertretung waren die Gewerkschaften. Die Löhne hatten vor allem in den<br />
durch Tarifverträge geregelten Bereichen die Vorfahrt vor den Gewinnen. Den Landwirten wurden,<br />
während die Löhne der Arbeiter und Angestellten stiegen, gleichzeitig Ablieferungen zu niedrigen<br />
Festpreisen zugemutet. Handwerkliche Einkünfte mußte der Markt regeln, und Beamte hatten<br />
erheblich niedrigere Einkünfte als vor dem Krieg.<br />
Kriegsgewinner (nicht Kriegsgewinnler) waren Arbeiter und Angestellte in planwirtschaftlich geregelten<br />
Wirtschaftsbereichen, aber auch nur in diesen. Alle anderen, also auch die Arbeiter im Kleingewerbe<br />
und auf dem Lande, waren mehr oder weniger die Verlierer, die den Krieg bezahlen mußten. Nicht alle<br />
fanden sich damit ab. Die SPD und die Gewerkschaften wurden insbesondere von den Landwirten als<br />
Egomanen angesehen, aber auch <strong>das</strong> Bildungsbürgertum, der Adel und die Gewerbetreibenden<br />
sahen mit Neid auf die Wendegewinner.<br />
Die Novemberrevolution hatte die Rechte der Arbeiter erweitert. Der Achtstundentag und <strong>das</strong><br />
Tarifrecht führten zu einer Erhöhung der Tariflöhne pro Arbeitseinheit gegenüber dem Vorkriegsjahr<br />
1913. Auch die Inflation änderte daran nichts, ja im Gegenteil ermöglichte sie erst die<br />
Aufrechterhaltung eines durch die Fundamentaldaten der Wirtschaft und die Schuldenuhr des Reichs<br />
nicht gerechtfertigten Lohnniveaus. Nur in der allerletzten Phase der Inflation in der zweiten<br />
Jahreshälfte 1923 kam es zu einer Verringerung der Reallöhne. Die Löhne stiegen in den meisten<br />
Perioden der Republik, einschließlich der Weltwirtschaftskrise schneller, als <strong>das</strong> Bruttosozialprodukt.<br />
Für viele Produktionszweige, die den inneren Markt belieferten, hatte <strong>das</strong> über längere Zeit auch<br />
positive Auswirkungen. Die Lohnquote als Indikator der Teilhabe der Arbeiter und Angestellten am<br />
Sozialprodukt stieg von 1913 bis 1929 von 46,4 % auf ganz ungewöhnliche 59,8 % an. 363<br />
Der Umgang der republikanischen Wirtschaftspolitiker mit der Problematik des gesamtwirtschaftlichen<br />
Gleichgewichts läßt sich in drei Perioden einteilen: bis 1923 wurden alle Probleme mit der<br />
Notenpresse geglättet, von 1924 bis 1929 mit ausländischen Krediten glattgestellt und von 1930 an<br />
stand die Politik vor dem Hintergrund ausbleibender ausländischer Kredite vor der Entscheidung,<br />
wieder an der Inflationsschraube zu drehen. Bei einer Option für die erneute Inflation mußte natürlich<br />
auch die Frage beantwortet werden: Wer sollte dieses Mal um sein Geldvermögen betrogen werden,<br />
war überhaupt genug inländisches davon vorhanden? Und war <strong>das</strong> ausländische dumm genug, sich<br />
ein zweites Mal verbrennen zu lassen?<br />
Die Konstante in allen drei genannten Perioden der Geldpolitik war die zu geringe Akkumulation von<br />
Kapital. Gemessen an der Produktionskraft war <strong>das</strong> Eigenkapital zu gering, so <strong>das</strong>s kleine<br />
363 H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 315<br />
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