Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Viele ältere Offiziere und Junker waren in Ehrfurcht vor Bismarck und Wilhelm I. bei deren Maximen<br />
stehengeblieben. Erinnerungen an den Soldatenkönig, an Friedrich II., an General Blücher und die<br />
Befreiungskriege sowie die Deutschen Kriege 1866 bis 1871 überlagerten oder überdeckten die<br />
Wahrnehmung der Veränderungen im Spätkaiserreich. Die Sedanfeiern gossen die alte Zeit in die<br />
ehernen Barren der Erinnerung. Die ältere Generation hatte den Gedanken und die Praxis einer<br />
heiligen Allianz der Monarchien Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland verinnerlicht und<br />
gelebt und den komplizierten Interessenausgleich dieser Reiche verstanden und in der Prioritätenliste<br />
weit oben geführt. Man war nicht so siegesgewiß und risikofreudig, wie die Manager des<br />
Spätkaiserreichs.<br />
Die gepriesenen Sieger von Sedan wurden wie alle <strong>Menschen</strong> jedes Jahr ein Jahr älter. Es musste<br />
der Zeitpunkt kommen, wo die jüngere Generation, welche am Krieg nicht teilgenommen hatte, aus<br />
einer Minderheit zu einer Mehrheit wurde und wo sich diese Mehrheit die Frage stellte, ob sie im<br />
Schatten der alternden Helden stünde und welches ihr eigener Platz in der Geschichte sei.<br />
Bismarck hatte die Deutschen Kriege im wesentlichen als Endpunkt der deutschen Expansion<br />
verstanden. Seine ausgleichende Diplomatie als Reichskanzler und sein zurückhaltender kolonialer<br />
Eifer scheinen dieses zu bestätigen. Zu seiner Regierungszeit gab es keinen Panthersprung nach<br />
Agadir und keine Bülow-Affäre 332 . Die deutsche Politik kämpfte sich durch die innenpolitischen „Mühen<br />
der Ebene“ des Kulturkampfs und der Sozialistengesetze. Einigen Bischöfen und Agitatoren bereitete<br />
Bismarck einen beachteten Platz auf der politischen Bühne, weniger um <strong>das</strong> Leben für die fromme<br />
Kirche oder die Partei aufs Spiel zu setzen, sondern um im Zuchthaus oder der Verbannung ein<br />
kalkulierbares politisches Lebensrisiko in Kauf zu nehmen, um eine veritable Märtyreraura zu ernten.<br />
<strong>Neue</strong> Helden wurden im konservativen Milieu nach 1871 nicht ge<strong>braucht</strong>; die alten Helden wurden<br />
jedoch geehrt. Eine ähnliche Situation gab es in den siebziger und achtziger Jahre in der DDR: es<br />
herrschte für die jüngere Generation ein gefährlicher Verwendungsstau. Man konnte zwar in die Partei<br />
eintreten, die guten Posten waren jedoch mit den Absolventen der Arbeiter- und Bauernfakultäten der<br />
50er und 60er Jahre besetzt; man konnte zudem kein Lenin, kein Thälmann und kein Che Guevara<br />
mehr werden, weil die revolutionäre Kampfzeit beendet war. Man sang vom kleinen Trompeter, aber<br />
stürmische Nächte gab es nur noch als Wetterphänomen. Eben diesen heldischen Verwendungsstau<br />
wies die Gründerzeit und die Spätkaiserzeit auf: Man konnte dem Ideal nicht wirklich nacheifern. So<br />
wie sich die Jugend der DDR tödlich langweilte, so langweilte sich auch die Jugend des<br />
Spätkaiserreichs.<br />
Ein weiterer Aspekt der neuen Rolle der Jugend ergab sich aus der Verstädterung. Auf dem Lande<br />
war es Tradition gewesen, die Alten zugunsten des Erstgeborenen aufs Altenteil zu schieben und <strong>das</strong><br />
Szepter der ökonomischen Macht zeitig an die nächste Generation zu übergeben. In der städtischen<br />
Gesellschaft gab es diesen Generationenvertrag nicht. Hier behielten die Alten die uneingeschränkte<br />
Macht und Verfügung in der Regel bis zu ihrer Abberufung durch den lieben Gott. Vielleicht liegt hier<br />
eine Ursache für den zunehmenden Generationenkonflikt, wie ihn die Literatur der Jahrhundertwende<br />
beschreibt.<br />
In diesem jugendlichen Verwendungsstau, dieser Erlebnisentbehrung und Heldenödnis, dieser<br />
gründerzeitlichen Vernunftstyrannei fiel der Zarathustra auf fruchtbarsten Boden. Zumindest in der<br />
Theorie wurden <strong>das</strong> Erlebnis und der Held aufgewertet, und die Vernunft ab. In der ersten Phase<br />
setzten die Wandervögel ihre Minderwertigkeitskomplexe in Bewegung und Gesang um, später<br />
wurden stärkere Reize gesucht und gefunden. Die Lust auf einen Krieg wuchs insbesondere in den<br />
bildungsnahen Schichten ins Unermessliche.<br />
Die jüngere konservative Generation war in den Gymnasien und in den Burschenschaften mit den<br />
reformistischen Gedanken in Berührung gekommen; es hätte an ein Wunder gegrenzt, wenn nicht<br />
auch in konservativen Kreisen eine Erosion der alten Leitbilder stattgefunden hätte. Lange vor dem<br />
Ersten Weltkrieg begann nicht nur die Spaltung der Sozialdemokratie, sondern auch die Spaltung der<br />
Konservativen. Bei den Jungkonservativen begann die Ablösung vom hohenzollernschen Thron als<br />
Sinnbild der althergebrachten Ordnung.<br />
332 Wilhelm entsandte <strong>das</strong> Kanonenboot „Panther“ vor die marokkanische Küste, um koloniale Ansprüche zu<br />
untermauern, wodurch Europa 1911 an den Rand des Krieges gebracht wurde. 1908 erschienen delikate<br />
Äußerungen Wilhelms über die Rolle der Presse, die politischen Meinungen der Mittel- und Unterschichten sowie<br />
die europäische Haltung zum Burenkrieg im Daily Telegraph, was europäische Empörung und den Rücktritt des<br />
Reichskanzlers Bülow auslöste.<br />
244