Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Zaren ist verderblich" hieß es zu Hause in Rußland. Und so vehement wie der Zar auf seinen<br />
Positionen beharrte, so selbstverliebt, mit dem gleichen Ausschließlichkeitsanspruch vertrat Lenin in<br />
allen seinen Schriften seine Meinung. Tausende Gänsefüßchen setzte er in Marsch, um die<br />
vermeintlichen Lächerlichkeiten und gedanklichen Ungereimtheiten seiner intellektuellen Gegner zu<br />
eskortieren, tausende Male wurden Verräter, Renegaten, Sykophanten und Fälscher rechthaberisch<br />
an den politischen Pranger gestellt.<br />
An dieser Stelle ist es erforderlich Marx und Lenin hinsichtlich der Führungskonzepte für die<br />
revolutionäre Arbeiterbewegung zu vergleichen, um den Unterschied der marxistischen SPD zu der<br />
elitaristischen KPD herauszuarbeiten. Es bietet sich an, Marxens Äußerungen über die Pariser<br />
Kommune mit Lenins Parteidoktrin zu vergleichen, denn die Pariser Kommune war die einzige<br />
Arbeiterregierung, die Karl Marx kommentieren, analysieren und nachbereiten konnte. Wenn man<br />
etwas über <strong>das</strong> Verhältnis von Marx zur Demokratie und zur "Diktatur des Proletariats" wissen will, so<br />
muß man sein Verhältnis zur einzigen zeitgenössischen Arbeiterregierung zu Rate ziehen. Wenn man<br />
etwas über Lenins Interpretation der "Diktatur des Proletariats" wissen will, so sollte man in die im<br />
November 1918 veröffentlichte Schrift "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky"<br />
hineinsehen, hier erfolgte die Replik auf Marx. Karl Marx hat mehr als drei Dokumente zur Pariser<br />
Kommune hinterlassen: die Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter=Association "Der<br />
Bürgerkrieg in Frankreich" und zwei Entwürfe für diese Adresse. Bekannt geworden ist die Adresse<br />
selber, und nicht so sehr deren Entwürfe aus dem handschriftlichen Nachlaß. Friedrich Engels<br />
veröffentlichte 1891 bereits die 3. Auflage des "Bürgerkrieg in Frankreich". Auf Anregung von Karl<br />
Marx verfaßte Prosper Lissagaray "Die Geschichte der Kommune von 1871", die 1878 erschien.<br />
"Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken<br />
von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl<br />
bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune<br />
sollte nicht nur eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und<br />
gesetzgebend zu gleicher Zeit. (...) Das bloße Bestehn der Kommune führte, als etwas<br />
selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht<br />
gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht.(...) Sie war wesentlich eine Regierung der<br />
Arbeiterklasse, <strong>das</strong> Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die<br />
endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen<br />
konnte. (...) Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der<br />
ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft."<br />
Marx pries die Kommune als demokratisches Experiment, er betonte ihren egalitären Charakter. Marx<br />
als Kind der Sattelzeit war wie seine Zeitgenossen durch die Ideen von Freiheit, Gleichheit und<br />
Brüderlichkeit geprägt und hatte nicht nur demokratische Vorstellungen, sondern sogar<br />
basisdemokratische Illusionen. Schneller Wechsel der politischen Akteure durch <strong>das</strong> Instrument der<br />
Abwahl und Ersetzung von Stadträten bedeutete einerseits <strong>das</strong> Eingehen der Revolution auf die<br />
aktuellen Stimmungen, andererseits jedoch auch den Verzicht auf Kontinuität und eine langfristig<br />
angelegte politische Strategie. Prosper Lissagaray legte den Finger auf die Wunden der direkten<br />
Demokratie, zeigte die Nachteile des gebundenen Mandats: Früh kam es zu Reibereien zwischen<br />
dem gewählten Rat und dem Zentralkomitee. Man kam wie zu einer öffentlichen Versammlung planlos<br />
in den Rat. Die Dekrete vom Vortag waren vergessen. Es kam zu kleinlichen Intrigen.<br />
"Um zum Dienst der Kommune zugelassen zu werden, mußte man zu dieser oder jener Clique<br />
gehören. Viele aufrichtig ergeben Männer, erprobte Demokraten, verständige Beamte, die sich<br />
vom Staate losgesagt hatten, selbst republikanische Offiziere, boten ihre Dienste an; sie wurden<br />
von unfähigen Leuten, die am Tage zuvor emporgekommen waren und deren Ergebenheit den 20.<br />
Mai nicht überleben sollte, von oben herab empfangen. Und dabei wurde die Unzulänglichkeit des<br />
Personals und der Geister von Tag zu Tag erdrückender. Selbst die Mitglieder des Rats klagten<br />
darüber, daß nichts klappen würde." 101<br />
"Die Unordnung wuchs mit der Gefahr".<br />
"Das Stadthaus flößte niemandem Furcht ein; aus seinem Geschrei hörte man die Machtlosigkeit<br />
heraus" schrieb Lissagaray. Es war keine Diktatur des Proletariats im Leninschen Sinne und Marx<br />
legte im Rückblick allein Wert auf die demokratische Legitimation der Kommune, nicht aber auf ihre<br />
Effizienz.<br />
101 Prosper Lissagaray: Geschichte der Kommune von 1871, Rütten & Loening, Berlin 1956, S. 166 ff<br />
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