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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Österreich-Ungarns und Italien entwickelten faschistische, nationalsozialistische und rechtsautoritäre<br />

Regierungssysteme, in Rußland kam es zur elitaristischen Einmannherrschaft, in Frankreich<br />

entstanden immer nur kurzzeitig Parteien und Bewegungen mit Massenbasis, die vergleichbare Ziele<br />

verfolgten; sie entstanden und beispielsweise in den späten dreißiger Jahren waren sie von der<br />

Machtübernahme nicht sehr weit entfernt.<br />

Eric J. Hobsbawn beschrieb die USA der Jahrhundertwende als kulturelles Entwicklungsland: Mark<br />

Twain und Walt Whitmann mussten ausreichen, Henry James wäre wegen der dünnen geistigen<br />

Atmosphäre aus Amerika ausgewandert. Der diagnostizierte kulturelle Notstand hatte natürlich den<br />

Vorteil, <strong>das</strong>s keine Kulturkrise ausbrechen konnte wie in Europa. So wie die Lebensreform sich in den<br />

USA nur punktuell ausbreiten konnte, so der Marxismus und die Arbeiterbewegung. Es fehlte in<br />

Amerika die Tradition der Gesellenvereine und der Zünfte, deren Fortentwicklung die Verkammerung<br />

der Wirtschaft sowie die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung war. Es fehlte alles traditionelle und<br />

rückwärtsgewandte.<br />

Wenn man den Marxismus und die Lebensreform strukturell vergleicht, so kann man <strong>das</strong> an den<br />

Quellen und Bestandteilen festmachen: Der Marxismus hatte angeblich 3 Quellen und 3 Bestandteile.<br />

Die Lebensreform hatte wesentlich mehr Quellen und wesentlich mehr Bestandteile. Sie war<br />

wesentlich heterodoxer und wandlungsfähiger. Das verlieh ihr gegenüber dem Marxismus den Vorteil,<br />

den Viren gegenüber Bazillen haben. Sie sind wandelbarer, unberechenbarer und ekelhafter.<br />

Über die Charakteristika der „wahren“ Lebensreform konnte man im Reformlager durchaus uneins<br />

sein, um doch einige griffige Grundgedanken – zum Beispiel die Überlegenheit von Eliten, den Kult<br />

der Gesundheit oder die Präferenz für die Jugend – miteinander zu teilen. Thomas S. Kuhn hat für<br />

Wissenschaftler festgestellt, <strong>das</strong>s sie in der Identifizierung eines Paradigmas übereinstimmen können,<br />

ohne sich über seine vollständige Interpretation oder abstrakte Formulierungen einig zu sein. Das<br />

Fehlen einer Standardinterpretation oder einer anerkannten Reduzierung auf Regeln hindere ein<br />

Paradigma nicht daran die Forschung zu führen. 34<br />

Ideologen, Künstler und Politiker sind auch nur <strong>Menschen</strong>. Ihre Wahrnehmung unterliegt ähnlichen<br />

Eindrücken und Täuschungen, wie diejenige der Wissenschaftler. Auch die Lebensreform oder die<br />

Jugendbewegung haben niemals eine einheitliche Interpretation der Welt zustande gebracht.<br />

Trotzdem beherrschten die Gebetsformeln der Lebensreform die geistige Auseinandersetzung im<br />

Spätkaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, ja sie hatten in ihrer Vielfalt<br />

eine ideologische Monopolstellung errungen.<br />

Nachts unter hängenden Moscheenlampen mit Kuppeln aus filigranem Messing<br />

Milton bereits beschrieb in „Das verlorene Paradies“ abgefahrene Futuristen:<br />

Doch feiner noch gesittet saßen welche...<br />

Abseits auf einem Berge unter sich<br />

In höheren Gedanken und ergingen<br />

Sich in erhebenden Erörterungen,<br />

Was Vorsehung und was Vorausbestimmung.<br />

Was Wille, Schicksal...<br />

Am 20. Februar 1909 wurden die Begründung und <strong>das</strong> Manifest des Futurismus im Pariser „Figaro“<br />

veröffentlicht. Ganz klar und auf den ersten Blick ist der Futurismus keine deutsche Quelle des<br />

Reformismus. Seine Schöpfer waren Italiener. Der Einfluß des italienischen Futurismus war zunächst<br />

in Deutschland ein begrenzter: Marinetti besuchte 1911 Berlin, Der Frauenmörder Johannes R.<br />

Becher schuf zwei futuristische Gedichte „Lokomotiven“ und „Die neue Syntax“, Lyonel Feininger<br />

malte sächsisch-weimarische Dorfkirchen, welche aus transluzenten durchscheinenden<br />

Pyramidenstümpfen bestanden und die Bauhäusler komponierten den Lauf der Gestirne aus<br />

Zahnrädern und Kometenschweifen.<br />

Der Futurismus hätte sich damit erledigt; totgelaufen wie viele andere Moden hätte er seine<br />

künstlerische Bahn geführt von ältlichen zerknitterten Ciceronen im Museum der Moderne beendet.<br />

34 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Taschenbuch, S. 58<br />

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