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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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seligmachenden Anspruch erschüttert, durch <strong>das</strong> Ausbleiben des prognostizierten Untergangs des<br />

Mittelstandes irritiert und durch die Revolution im asiatischen Rußland mit ihren blutigen Auswüchsen<br />

zusätzlich verunsichert. Die Lebensreform und nicht der traditionalistische Marxismus war vor dem<br />

Weltkrieg, im Weltkrieg und nach dem Weltkrieg trotz ihrer ideologischen Zersplitterung oder gerade<br />

wegen ihrer bunten Vielfalt, Wandelbarkeit und Unbestimmtheit die vitalere Ideologie; deshalb war die<br />

Novemberrevolution die verspätete Revolution. Die Flamme der Revolution wurde von elitaristischen<br />

Revoluzzern wie Ernst Toller angefacht und von Bebel´schen Diadochen ausgetreten, wobei<br />

inkonsequenterweise elitaristische Freischärler halfen.<br />

Georg Ledebour und der Friedrichshagener Dichterkreis<br />

Noch bevor Lenin sich nach Schwabing aufmachte, um die marxistische Basis-Überbau-Eieruhr<br />

umzudrehen, bildete sich hinter der Großstadt Berlin in Friedrichshagen ein elitaristischer Dichterkreis<br />

mit Interesse an sozialen Fragen und lockerer Anbindung an die Sozialdemokratie. Um die heute<br />

vergessenen Schriftsteller Wilhelm Bölsche, Julius Hart und Bruno Wille scharten sich ab 1884<br />

Lebensreformer, Sozialisten und Anarchisten. Zu den heute noch Bekannten gehörten die<br />

Schriftsteller Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Felix Hollaender, Arno Holz,<br />

Gustav Landauer, Erich Mühsam, Johannes Schlaf und Frank Wedekind, die Dichterin Else Lasker-<br />

Schüler, die Dichter Christian Morgenstern und Rainer Maria Rilke, die Verleger Eugen Diederichs und<br />

Samuel Fischer, die Maler Fidus, Walter Leistikow und Edvard Munch und der Anthroposoph Rudolf<br />

Steiner. 104 Einige waren Juden und andere waren Rassisten und Antisemiten, ebenso wie in der<br />

Schwabinger Kosmologischen Runde. Es war ganz ähnlich wie im „Untertan“, wo der reformistische<br />

Fabrikant Lauer eine abträgliche Bemerkung über die Juden macht und sich im selben Atemzug bei<br />

seinem jüdischen Freund, dem Kaufhausbesitzer Cohn entschuldigt, der friedlich neben ihm saß. Oder<br />

wie im Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und dem Juden Karl Marx, wo Engels Ferdinand<br />

Lassalle als „krausen Juddekopp“ und „polnischen Schmuhl“ titulierte. 105 Nicht nur der Antisemitismus,<br />

sondern auch der Rassismus war in Friedrichshagen virulent. Julius Hart beispielsweise unterstellte<br />

Nietzsche, er habe polnisches Blut in den Adern und gehöre deshalb einer minderwertigen Rasse an.<br />

Morgenstern, Wedekind, Dehmel, Munch und mit Einschränkungen Gerhart Hauptmann waren<br />

dagegen eifrige Nietzsche-Rezipienten.<br />

Die verbindenden Elemente der Friedrichshagener waren die Affinität zu den modischen<br />

Kunstrichtung des literarischen Naturalismus und des Jugendstils sowie <strong>das</strong> Interesse für soziale<br />

Fragen. Daneben verstärkten die beiden Groupies Lou Andreas-Salomé (1892-1894 Affäre mit<br />

Ledebour, persönliche Bekanntschaft mit Nietzsche) und Dagny Juel die Gruppenbindungen. „Sie<br />

haben in jedem Suppentopf und in jedem Kieselstein ein sexuelles Problem entdeckt“, schrieb Paul<br />

Scheerbart 1896.<br />

Der Dichterkreis war Promotor für die Volksbühne und die <strong>Neue</strong> Freie Volksbühne. Plakate für diese<br />

Einrichtung entwarf Fidus im Gestus des Jugendstils.<br />

Seit 1885 wohnte Georg Ledebour in Friedrichshagen. Zunächst war er als gemäßigter Sozialreformer<br />

noch Mitglied der Demokratischen Partei, für die er die „Demokratischen Blätter“ redigierte. 1890 trat<br />

er der SPD bei, in der er von 1890 bis 1916 den Prototyp des reformistischen Reißbrettpolitikers<br />

verkörperte. In der SPD war Ledebour eines der Scharniere zur Reformbewegung. Im Gegensatz zu<br />

den Gewerkschaftsfunktionären, die die Flammen des Proletariats auf dem marxistischen Altar<br />

hüteten, ohne nach links und rechts zu blicken, die als sozialdemokratische Methusalems die<br />

tripartistischen Hinterzimmer der ökonomischen Macht der Weimarer Republik bevölkerten,<br />

verkörperte Ledebour <strong>das</strong> organisatorisch bewegliche Element, <strong>das</strong> ganz einer schönen Idee lebte<br />

und die Partei ohne persönliche Anhänglichkeiten und Bindungen wechselte, wenn diese politische<br />

Idee es forderte. Folgerichtig zu der mehr ästhetizistischen, rassistischen und elitaristischen<br />

Ausrichtung des Kreises trat er während des Ersten Weltkriegs mit vielen anderen Parteiintellektuellen<br />

aus der SPD in die USPD über und wurde ab 1917 deren Vorsitzender. Nach deren Verfall wurde er<br />

Vorsitzender der Nachfolgepartei Sozialistischer Bund (1924-1931) und Mitglied der Sozialistischen<br />

Arbeiterpartei (1931-1933), die auch Willy Brandt zu ihren Mitgliedern zählte. Als 96järiger begrüßte er<br />

aus seinem warm geheizten Berner Exil die Zwangsvereinigung der KPD mit der SPD zur SED.<br />

104 www.friedrichshagener-dichterkreis.de<br />

105 MEW, Bd. 29, S. 43<br />

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