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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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nachhängend, in die andere Richtung demokratische Illusionen verbreitend und in der Mittel- und<br />

Spätphase der Republik die nationalsozialistische Kehrmaschine, die alle in den korporatistischen<br />

Zahnrädern zermalmten reformistisch-elitaristischen Trümmerchen aufsaugte, heilte und<br />

synthetisierte. Viele der vorgenannten Ideologien waren relativ neu und führten deshalb weniger zur<br />

Stabilisierung, sondern trugen mehr zum Durcheinander bei. Einigermaßen stabilisierende Kräfte<br />

waren nur der Katholizismus und der traditionelle Marxismus.<br />

Das katholische Zentrum war von den staatstragenden Kräften politisch am erfahrensten, da es<br />

bereits während der Kaiserzeit zeitweilig mitregiert hatte. Der sozialdemokratische Marxismus war in<br />

vierzigjähriger Opposition gereift, Kritiker sprachen von Revisionismus, und auf die Machtübernahme<br />

einigermaßen vorbereitet. Die Sozialdemokratie verhielt sich in der politischen Praxis von einigen<br />

folgenschweren Aussetzern abgesehen in pragmatischer Klientelpolitik gefangen, in der Theorie<br />

dagegen dogmatisch. Kaum ein Wahlkampf, kaum ein Parteitag, auf dem nicht ideologisches<br />

Feuerwerk gezündet wurde.<br />

Alle Reformideologien dagegen, ob leninistisch-elitaristische, reformistisch-nationalistische,<br />

antikapitalistisch-antisemitische oder seltsam verschrobene, waren zur Zeit des Spätkaiserreichs<br />

ausgebrütet worden, waren relativ neu und destabilisierend.<br />

Wir sind es gewöhnt, Wählerwanderungen dort zu vermuten, wo die Parteien nach dem Links-Rechts-<br />

Schema der Sitzordnung in den Parlamenten aneinandergrenzen. Diese Vorstellung ist im modernen<br />

Parteiensystem der Bundesrepublik oft falsch, noch unzutreffender ist diese Vermutung für die<br />

Weimarer Republik. So wie heute der Weg von der Linken zur NPD für manche Wähler kurz ist (wenn<br />

die Linke beispielsweise wie die NPD von Fremdarbeitern schwadroniert), so war auch der Weg von<br />

der KPD zur NSDAP eine gangbare Alternative. Mit dem Nationalbolschewismus gab es eine wenig<br />

massenwirksame Synthese, viel wichtiger als Verbindungselemente waren der Führer- und<br />

Personenkult, der aus einer zeitgemäßen elitaristischen Grundüberzeugung herrührte, der damit<br />

verbundenen Zentralismus der Gesellschaftsstruktur, der sich aus ebenderselben Vorstellungswelt<br />

generierte und der mit zentralistischen und elitaristischen Strukturen korrespondierende Sozialismus.<br />

Überflüssig zu erwähnen, daß auch die nietzscheanischen Verdikte über Gott in roten und braunen<br />

Kreisen rezipiert wurden. Es sind aber nicht nur die heiß umstrittenen Berührungsflächen zwischen<br />

ganz links und ganz rechts, auch zwischen Katholizismus und Kommunismus, zwischen gemäßigtem<br />

Reformismus und Nationalsozialismus, zwischen Konservatismus und Sozialdemokratie gab es<br />

häufigeren Wählerwechsel, als beispielsweise zwischen SPD und DDP, zwischen SPD und Zentrum,<br />

zwischen Zentrum und DDP oder zwischen Konservativen und Katholiken. Diese Änderungen des<br />

Wahlverhaltens werden uns im folgenden beschäftigen, da sie die kulturelle und ideologische<br />

Landschaft der Republik beschreiben.<br />

Die USPD war am Anfang der Republik in den industriellen Zentren Mitteldeutschlands<br />

überproportional vertreten, die SPD und die DDP in den ländlichen und protestantischen Gebieten<br />

Norddeutschlands, <strong>das</strong> Zentrum im Westen und Süden und die Deutschnationalen in Ostelbien. Diese<br />

regionalen Schwerpunkte entsprachen in etwa denen der Vorkriegszeit.<br />

Das gute Abschneiden von SPD, Zentrum und DDP erklärt sich aus der taktischen Überlegung vieler<br />

Wähler, daß die Wahl dieser Parteien, die hinter der Friedensresolution des Reichstags von 1917<br />

standen, die Kriegsgewinner bei der Festlegung der Friedensbedingungen milde stimmen würde. Das<br />

war freilich nur eine Hoffnung und eine Spekulation.<br />

Die Wahl zur Nationalversammlung zeigt uns <strong>das</strong> parteipolitische Bild an der erkalteten Oberfläche<br />

der tektonischen Platten der deutschen Politik, die sich auf einem heißen Meer politischen Magmas<br />

aneinander rieben. Viel interessanter, als die leidlich erkaltete Oberfläche waren jedoch jene Kräfte,<br />

die sich noch in der flüssigen Phase befanden; jene partei- und parlamentarismuskritischen Kräfte, die<br />

die politisch-parlamentarische Oberfläche aus grundsätzlicher Ablehnung des parlamentarischen<br />

Tageslichts mieden.<br />

Alfons Paquet, der ein gefragter Gesprächspartner von Ebert und Scheidemann sowie die Experten<br />

des AA war, verachtete diese Sozialdemokraten als gelernter Elitarist zutiefst. In sein Tagebuch<br />

schrieb er am 29. Januar:<br />

„Die Nationalversammlung enthält allein 87 Parteisekretäre. Sie ist ganz Vertretung des<br />

Stimmzettel schwingenden Deutschlands. Interessenvertretung. Die Reden ohne Schwung, ohne<br />

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