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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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die <strong>das</strong> kapitalistische Massenelend der Joung-Sklaverei erduldet, blickt mit glühender<br />

Begeisterung auf die Sowjetunion. Die Millionen Erwerbslosen in Deutschland, denen der<br />

Kapitalismus den Hungertod für Männer, Frauen und Kinder beschert, begreifen aus dem Beispiel<br />

der Sowjetunion, daß ein kommendes Sowjetdeutschland auch ihnen Arbeit und Brot durch den<br />

Siebenstundentag mit vollem Lohnausgleich und die Fünftagewoche schaffen wird."<br />

Die Kooperationsfähigkeit, der Wille mit anderen gesellschaftlichen Kräften gemeinsame Ziele zu<br />

verfolgen, war gleich Null. Die kommunistische Tendenz, sich von der übrigen deutschen Gesellschaft<br />

völlig abzugrenzen und abzusondern, hatte eine fatale Konsequenz. Parlamentarische und<br />

außerparlamentarische Bündnisse mußten damit leben, daß ein Achtel der Gesellschaft bei der<br />

demokratischen Lösungsfindung und später bei der Abwehr der nationalsozialistischen<br />

Machtübernahme von vornherein ausfiel. Mit den Parolen von der Young-Sklaverei fiel die KPD als<br />

Gegengewicht gegen die NSDAP nicht nur aus, sondern sie spielte Hitlers Spiel mit, bis <strong>das</strong><br />

republikanische Gegenspiel aus war. Auf den verhießenen 7-Stunden-Tag warteten die Werktätigen<br />

der DDR bei einer 43-Stunden-Woche noch 1989.<br />

Das Unbehagen in der Kultur<br />

1930 erschien unter der headline „Das Unbehagen in der Kultur“ eine Arbeit von Siegmund Freud, die<br />

sich dem Zusammenhang zwischen der Zivilisation und der Psyche widmete. Die Kultur und die<br />

Zivilisation erschienen nach dem Erstarken der Nationalsozialisten und Kommunisten in Deutschland<br />

tatsächlich gefährdet.<br />

Aber warum gab es nun Unbehagen in der Kultur? Warum war gerade jetzt der Firnis der Zivilisation<br />

eine abblätternde Schicht?<br />

Der Zuchtmeister der ödipalen Geister selbst schrieb am Ende der zwanziger Jahre im „Unbehagen in<br />

der Kultur“, daß "Überleben und Zivilisation unvereinbar" seien und "daß die Zukunft der Menschheit<br />

ohne die alles durchdringende Heimsuchung der Zivilisation sicherer wäre". 378 Die Bedürfnisse der<br />

Kultur ständen dem Todestrieb des <strong>Menschen</strong> prinzipiell im Wege. Wegen jeder menschlichen<br />

Triebregung steige <strong>das</strong> Schuldgefühl, welches durch die Triebkontrolle des Über-Ichs ausgelöst<br />

werde. Da eine Triebregung stärker werde, wenn der Mensch ihr nicht folge, und die Kulturentwicklung<br />

immer stärkeren Triebverzicht verlange, steige mit fortschreitender Kulturentwicklung auch die<br />

Differenz zwischen Triebverlangen und Triebabfuhr und <strong>das</strong> durch die im Über-Ich gespeicherten<br />

Normen veranlasste Schuldgefühl der <strong>Menschen</strong>. Freud diagnostizierte eine zunehmende<br />

Kulturfeindlichkeit der Frauen, die mit dem Widerspruch zwischen Familie und Kultur verflochten sei.<br />

Kultur wäre nun einmal Männersache. Und er sah einen wachsenden Widerspruch zwischen dem<br />

Sexualverlangen und der Kultur. Die Kultur fresse die Energie für den Sex.<br />

Wer die heutigen Malkurse der Volkshochschulen kennt oder einen Tennisplatz am Vormittag, der<br />

weiß, <strong>das</strong>s Freuds Anmerkungen über den Zusammenhang zwischen Familie, Kultur, Frau, Mann und<br />

Sex aus einer Momentaufnahme der 20er Jahre resultierten. Frauen gehen heute genauso wie<br />

Männer kulturellen und sportlichen Beschäftigungen nach. Seine eigene Lebenszeit mit<br />

vorherrschenden Männerbünden hat Freud beschrieben; aber wie wir seit Albert Einstein wissen, sind<br />

Raum und Zeit gekrümmt und relativ. Kultur war nur bei den frühen Nietzscheanern eine<br />

Männersache; Männerbünde, die der Familie und dem Sex die Zeit stahlen, waren ein Phänomen der<br />

ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.<br />

Wie dem auch sei: Siegmund Freud bekam, was er wollte. Bereits 1933 wurde die Zivilisation<br />

schrittweise zurückgedrängt. Wer zum Beispiel Juden, die katholische Kirche oder Sozialdemokraten<br />

ärgern wollte, <strong>braucht</strong>e dabei keinen qualvollen Triebverzicht mehr zu erleiden. Die Differenz zwischen<br />

Triebverlangen und Triebabfuhr wurde immer geringer und es trat zum Schluß <strong>das</strong> ein, was Freud<br />

nicht erwartet hatte: die Triebregung der SA und der SS wurde sogar immer stärker, obwohl kein<br />

Triebverzicht mehr verlangt wurde. Die Theorie war also definitiv falsch. Freud war intelligent und<br />

erkannte in den dreißiger Jahren, <strong>das</strong>s er sich geirrt hatte.<br />

378 zitiert aus: Die Psychoanalyse wird 100: Der ewige Krieg um Freud von Bernd Nitzschke, DIE ZEIT Ausgabe<br />

Nr. 29 vom 12. Juli 1996<br />

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