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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Nach dieser durchaus zutreffenden Analyse folgte, wie bei Ossietzky nicht anders zu erwarten, eine<br />

Aneinanderreihung schwerwiegende Irrtümer:<br />

„Im Grunde könnte die Nazipartei heute mit gutem Gewissen vom Schauplatz abtreten, sie hat in<br />

kurzer Zeit mehr getan, als ihre Auftraggeber von ihr erwarten durften. Sie hat keine faschistische<br />

Regierungsform geschaffen, wohl aber Deutschland den Faschismus ins Blut geimpft, sie hat, was<br />

sie Befreiung nennt, nicht durchgesetzt, wohl aber die Stimmung bereitet, in der eine neue<br />

Katastrophe möglich wird.“<br />

Was die Motivation betrifft, so war er eben Kind seiner Zeit und glaubte an die Macht der<br />

konservativen und schwerindustriellen Auftraggeber, die Hitler als Puppe am Faden festhalten<br />

würden. Zwei Monate später wussten es alle besser. Der zweite Irrtum betraf die Bedeutung der<br />

NSDAP bei der Entdemokratisierung Deutschlands. Hitler hätte Deutschland niemals von 1920 bis<br />

1933 von einem totalen Paradigmenwechsel überzeugen können. Dafür <strong>braucht</strong>e es über 40 Jahre<br />

Überzeugungsarbeit der antiparlamentarischen, antiwestlichen, antidemokratischen, teilweise<br />

rassistischen und antisemitischen Jugendbewegung. Die NSDAP war einer der jüngsten Bäume im<br />

verwilderten Garten der Lebensreform, aber dieser Baum wuchs schneller als alle anderen und<br />

erdrückte und erstickte alle anderen liederlichen Gewächse.<br />

Diejenigen, die sich ab 1928 am Zahltag Straßenschlachten lieferten waren sich viel ähnlicher, als sie<br />

es selber für möglich hielten. Auch diejenigen, die bis zum Schluß die Republik verteidigten, waren<br />

den politischen Erben der Republik ähnlicher, als vermutet. Die Zeitgeister des Imperialismus und der<br />

Lebensreform waren stark und rissen fast alles und fast jeden mit sich, Großgruppen und Parteien<br />

hatten keine Chance zum Beharren. Es war wie in Sodom und Gomorrha, wo diejenigen, die sich dem<br />

hedonistischen Zeitgeist entgegenstemmten in eine Telefonzelle gepaßt hätten, wenn zu biblischen<br />

Zeiten eine solche zur Verfügung gestanden hätte.<br />

Die Revolution von 1918 nahm kaum Bezug auf die Kulturrevolution der Jahrhundertwende. Allenfalls<br />

ihre Plakate waren expressionistisch.<br />

Mit der Abschaffung der Monarchie, der Stärkung der Rechte der Frau und der Arbeiterklasse erfüllten<br />

die Novemberrevolution und die Nationalversammlung sozialdemokratische und demokratische<br />

Forderungen aus dem 19. Jahrhundert. Die antichristlichen, antidemokratisch-elitären, bündischen,<br />

ästhetizistischen, antisemitischen, biologistischen, vitalistischen, antropologischen, antiwestlichen,<br />

antikapitalistischen, rassistischen und nationalistischen Ideen des endenden 19. und des beginnenden<br />

20. Jahrhunderts wurden kaum beachtet und in der neuen republikanischen Ordnung nicht umgesetzt.<br />

Sie waren aber in der Gesellschaft der Weimarer Zeit vorhanden, egal ob sie sich avantgardistisch,<br />

neokonservativ, demokratisch, antisemitisch, leninistisch oder bündisch verbrämten. Sie scheuten am<br />

Anfang der Republik <strong>das</strong> politische Licht, sie agierten in der Subkultur oder sie gaben sich noch<br />

gemäßigt. Die Weimarer Verfassung war insofern eine verspätete Verfassung, als sie Forderungen<br />

erfüllte, die 1919 für die intellektuellen Eliten schon zum alten Eisen gehörten, die neuen Ideen der<br />

Jahrhundertwende kamen nicht vordergründig zum Tragen. Diese Ideen und ihre Träger warteten auf<br />

eine neue antidemokratisch-elitäre, antiwestliche, bündische, antichristliche, antisemitische oder<br />

elitaristisch-leninistische Revolution. Das bedeutet nicht, daß alle von Anfang an auf die Offenbarung<br />

des Programms der NSDAP warteten; ein deutlicher Paradigmenwechsel, ein deutsches new age<br />

schwebte jedoch in der Luft. Die Bedingungen für die nationalsozialistische Machtübernahme reiften<br />

erst. Die nationalsozialistische Variante der Lebensreform kam zum Tragen, weil Hitler es verstand,<br />

bizarre reformatorische Inhalte in für die Massen vermittelbare und nicht vermittelbare zu selektieren,<br />

<strong>das</strong> "Brauchbare" massenverträglich in glatte Tüten zu verpacken und die Lebensreform mit der<br />

Technik zu versöhnen. Während eine schmale Parteielite von Supergermanen, Heldenzüchtung,<br />

Blutreinigung und erobertem Boden träumte, opferte die von Goebbels gesteuerte Filmindustrie auf<br />

dem Altar des Egalitarismus, nuschelte sich der kleine Rühmann an den elitaristischen Sirenen vorbei.<br />

Adolf Hitler löste <strong>das</strong> alte lebensreformatorische Dilemma: populär, aber nicht elitär; elitär, aber nicht<br />

populär endlich auf. Das Elitäre wurde populär.<br />

Die Väter der Weimarer Verfassung waren Großväter. Alle waren aus der gefährlichen Pubertät raus,<br />

als die Reformbewegung ihren Lauf nahm, viele waren schon fertige Erwachsene. Im Jahr 1900, als<br />

der Jugendstil gerade seinen Siegeszug begann, hatten die wichtigsten Politiker der Weimarer<br />

Republik folgendes Alter: Konstantin Fehrenbach 48, Hugo Preuß 40, Hugo Haase 37, Wilhelm Marx<br />

37, Philipp Scheidemann 35, Hans von Seeckt 34, Wilhelm Groener 33, Gustav Bauer 30, Friedrich<br />

Ebert 29, Otto Wels 27, Matthias Erzberger 25, Otto Geßler 25, Wilhelm Cuno 24, Hermann Müller 24,<br />

Gustav Stresemann 22, Gustav Radbruch 22 und Hans Luther 21. Und der Methusalem von allen,<br />

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