Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
zitiert Peter von Rüden den Vater und Erfinder des neuzeitlichen Naturschutzes in Deutschland, Ernst<br />
Rudorff:<br />
„Was unsere Urväter in Wodans heilige Eichenhaine bannte, was in den Sagen des Mittelalters, in<br />
den Gestalten der Melusine des Dornröschen lebt, was in den Liedern Walters von der Vogelweide<br />
anklingt [...]: immer ist es derselbe Grundton, derselbe tiefe Zug der Seele zu den wundervollen<br />
und unergründlichen Geheimnissen der Natur, der aus diesen Äußerungen des Volksgemüths<br />
spricht.“<br />
Jeder Baum wurde auf seine mythische Vergangenheit, jeder Hügel auf seine germanische<br />
Archäologie und jeder Teich auf seine Nymphen untersucht: Virtuelle Ahnen flogen durch den<br />
mitteleuropäischen Wald, in den Wohnzimmerschränken türmten sich um die Wette Heldensagen und<br />
Märchenbücher.<br />
„Rotkäppchen, der treue Johannes und Schneewittchen bei den sieben Zwergen über den sieben<br />
Bergen nahmen mich in ihren geschwätzigen Kreis. Mein begieriger Sinn erschuf bald aus freier<br />
Kraft Gebirge mit mondglänzenden Elfentanzwiesen, Paläste mit seidenen Königinnen, fabelhaft<br />
tiefe und greuliche Berghöhlen, von Geistern, Eremiten, Köhlern und Räubern abwechselnd<br />
unheimlich bevölkert. Ein schmaler Raum im Schlafzimmer, zwischen zwei Bettstellen, war<br />
vorzüglich der Wohnort schlitzäugiger Kobolde, rußiger Bergmänner, geköpfter Umgänger,<br />
traumwandelnder Totschläger und grünschielender Raubtiere, so <strong>das</strong>s ich eine Zeitlang nur in<br />
Begleitung Erwachsener und noch lange später nur mit äußerster Aufbietung allen Knabenstolzes<br />
daran vorübergehen konnte. Einmal befahl mir mein Vater, von dort seine Pantoffeln zu holen. Ich<br />
ging in <strong>das</strong> Schlafzimmer, wagte mich aber nicht an den Ort des Entsetzens und kehrte kleinlaut<br />
zurück, vorgebend, ich hätte die Schuhe nicht gefunden.“<br />
So berichtete Hermann Hesse 24jährig über seine Kindheit. Als ersten Kindereindruck prägte sich ihm<br />
ein Wiesenland hinter dem Elterhause ein.<br />
„Alle tiefen Gemütserlebnisse, alle <strong>Menschen</strong>, selbst die Porträts meiner Eltern scheinen mir nicht<br />
so früh deutlich geworden zu sein wie diese Wiese mit ihren unzähligen Einzelheiten....Beim<br />
Darandenken ist mir zumut, als wäre alles Kostbare, was ich später mit Augen sah und mit Händen<br />
besaß, und selber meine Kunst , gering gegen die Herrlichkeiten jener Wiese.“<br />
Er erwähnte als gültigen Ausweis seines kindlichen Romantizismus noch ausdrücklich seine Furcht<br />
vor den Pfiffen der fern vorüberfahrenden Eisenbahn. 54<br />
Naturfreundschaft und die Verbundenheit mit geheimnisvollen Kobolden, Feen, Wotan, Freya sowie<br />
den Wald- und Naturgeistern hatte eine antichristliche Spitze, die zuweilen pointierend zugespitzt<br />
einen unmenschlichen Ausdruck fand, wie in der Rattentrauer Benns.<br />
Den Grundstein für diese unheilige Allianz von Atheismus, Elitarismus und Naturschutz hatte Friedrich<br />
Nietzsche als epochale Neudefinition des Frevels selbst gelegt:<br />
„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von<br />
überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des<br />
Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren Erde müde ist: so mögen sie<br />
dahinfahren! Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit auch die<br />
Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt <strong>das</strong> Furchtbarste und die Eingeweide des<br />
Unerforschlichen höher zu achten, als der Sinn der Erde!“<br />
Der im deutschsprachigen Raum wie sonst nirgends auf der Welt weitverbreitete metaphysische<br />
Ehrfurcht vor der Natur und die kehrseitige Abwertung des menschlichen Lebens hat hier scheinbar<br />
ihre Wurzel. Nietzsche orakelte:<br />
„Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer<br />
zu sein: sondern die sich der Erde opfern, <strong>das</strong>s die Erde einst der Übermenschen werde.“<br />
54 Hermann Hesse: Meine Kindheit (1901), abgedrückt in „Der Lateinschüler“, Aufbau Verlag Berlin und Weimar,<br />
1977<br />
53