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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Das erste Buch Mose wurde auf den Kopf gestellt. Die Erde wurde so am siebenten Tage geschaffen,<br />

und der Mensch am sechsten. Diese Nichtachtung des <strong>Menschen</strong> hatte im entwickelten<br />

Nationalsozialismus katastrophale Auswirkungen.<br />

1896 hatte Rilke seine Erzählung „Der Apostel“ veröffentlicht, die die nietzscheanische Lehre<br />

literarisch untersetzte. In der menschlichen Seele gäbe es keine schlimmeren Gifte als Nächstenliebe,<br />

Mitleid und Erbarmen, Gnade und Nachsicht. Deshalb geht der "Apostel", <strong>das</strong> Sprachrohr des<br />

Dichters, in die Welt, um die Liebe zu töten. Höhnisch bekennt er:<br />

"Wo ich sie finde, da morde ich sie." Denn <strong>das</strong> christliche Gebot der Nächstenliebe schwächt<br />

diejenigen, die es "blind und blöde" befolgen; und "der, den sie als Messias preisen, hat die ganze<br />

Welt zum Siechenhaus gemacht".<br />

Träger des Fortschritts kann nie die stumpfe Menge sein, sondern nur "der Eine, der Große, den der<br />

Pöbel haßt"; nur er kann rücksichtslos den Weg seines Willens gehen, "mit göttlicher Kraft und<br />

sieghaftem Lächeln". Ein Recht zu leben hat nur der Starke. Der marschiert vorwärts, selbst wenn die<br />

Reihen sich lichten.<br />

"Aber wenige Große, Gewaltige, Göttliche werden sonnigen Auges <strong>das</strong> neue gelobte Land<br />

erreichen, vielleicht nach Jahrtausenden erst, und sie werden ein Reich bauen mit starken,<br />

sehnigen, herrischen Armen auf den Leichen der Kranken, der Schwachen, der Krüppel. Ein<br />

ewiges Reich!" 55<br />

1934 gingen Gottfried Benns Geschäfte als Arzt für Geschlechtskrankheiten derart schlecht (selbst<br />

geschlechtskranke Frauen verabscheuen gewöhnlich Ratten), <strong>das</strong>s er aus freien Stücken in die<br />

nunmehr von der zahlenmäßigen Beschränkung des Versailler Vertrags erlöste Reichswehr eintrat.<br />

Vorher hatte er bereits die „entscheidende anthropologische Wendung“ begrüßt, die mit der<br />

Machtergreifung Adolf Hitlers einherzugehen schien. Der Fall Benn war durchaus kein Einzelfall, er<br />

löste als exemplarischer Vorgang jedoch 1938 die Expressionismusdebatte aus. Alfred Kurella<br />

behauptete, freilich aus dem beschränkten Gesichtskreis der stalin´schen Formalismuskritik, <strong>das</strong>s der<br />

Expressionismus, ganz befolgt, in den Faschismus führe. Kurella vergaß zu bemerken, <strong>das</strong>s der<br />

Expressionismus mindestens genau so oft in den orthodoxen Kommunismus führte. Auch Kurella<br />

gehörte zu jenen, die nicht in der wirklichen Welt nach Ursachen und Wirkungen forschten, sondern<br />

zeitlebens in einer virtuellen Welt der Wünsche und Hoffnungen, wo die Geister der reformistischen<br />

und elitaristischen Urväter ihre Kämpfe im kalten immateriellen Äther des Palastes der ideologischen<br />

Schneekönigin austrugen.<br />

Man fragt sich, wieso im repressiven Spätkaiserreich solche Entgleisungen wie <strong>das</strong> Rattengedicht<br />

möglich waren. Die Rechtssetzung und Rechtsprechung des Spätkaiserreichs wurde zwar als<br />

repressiv angeprangert, war jedoch auf die Ahndung formaler Ausrutscher abgestellt. Frank Wedekind<br />

saß zum Beispiel sieben Monate wegen Majestätsbeleidigung im Zuchthaus, und nicht wegen dem<br />

Tantengedicht. Wegen inhaltlichen Missgriffen gab es so gut wie keine Strafen. Wenn man sich die<br />

Mitgliederliste des Monistenbundes und anderer reformistischen Organisationen anschaut, so fallen<br />

die vielen Gerichtspräsidenten auf. Viele Reichstagsabgeordnete als Gesetzgeber und viele Richter<br />

liefen dem Zeitgeist wie die Majestät selbst hinterher. Die Strafe für die moralische Sorg- und<br />

Nachlässigkeit ließ nicht auf sich warten: Deutschland verhedderte sich in den Weltkrieg, der Kaiser<br />

wurde zum Palast herausgejagt und Adolf Hitler wurde Führer und Reichskanzler.<br />

Eine gewisse Sonderstellung nimmt 1915 bis 1920 der Dadaismus ein, der sich vom Sinn und vom<br />

Ästhetizismus abgrenzte. Er hatte einen pazifistischen und anarchistischen Grundzug. Jolifanto<br />

bambla o falli babla, grossiga m´pfa habla horem, so begann <strong>das</strong> Gedicht “Karawane” von Hugo Ball,<br />

<strong>das</strong> 1917 erschien. Es endete kusagauma ba – umf. Das war auch Umwertung der Werte – hier der<br />

Sprache und des Sinns - fiel in seiner Leichtigkeit aus dem brarmabasierenden Zeitgeist jedoch etwas<br />

heraus. Es fehlte bei einigen Dadaisten <strong>das</strong> Deutscheste - die Bedeutung. Hinsichtlich der Exklusivität<br />

der Mitgliedschaft in der dada-community, der Egomanie einiger Dadaisten, den persönlichen<br />

Querelen und des Umgangs mit Frauen relativiert sich die gerne gesuchte Abgrenzung vom<br />

Expressionismus: man klebte auch bei Dada in den Rastern des Vorkriegselitarismus.<br />

Eine selbstironische Bildergeschichte von Arno Holz und Johannes Schlaf behandelte die ernstere<br />

Lebensphilosophie lockerer und endete mit dem Seufzer:<br />

55 Zitat aus Krogmann: Rilke als „Kulturheld des Jahres“, Ossietzky, Nr. 13, 2003<br />

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