Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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"Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen zu tun", ließ Heinrich Mann im "Untertan"<br />
den Heßling bei der Einweihung eines Kaiserdenkmals ausrufen. 22 Diese Heßling-Rede, die<br />
Heinrich Mann aus vielen Versatzstücken des Zeitgeistes zu einem Credo des Kaiserreiches<br />
destilliert hatte, enthielt Hinweise auf die große Zeit, die die Zeitgenossen miterleben dürften, auf<br />
den Ozean, der für Deutschlands Größe unentbehrlich sei, auf <strong>das</strong> Weltgeschäft, welches heute<br />
<strong>das</strong> Hauptgeschäft sei und auf <strong>das</strong> berechtigte Selbstgefühl, <strong>das</strong> tüchtigste Volk Europas und der<br />
Welt zu sein. "In staunender Weise ertüchtigt, voll hoher sittlicher Kraft zu positiver Betätigung,<br />
und in unserer furchtbaren Wehr der Schrecken unserer Feinde, die uns neidisch umdrohen, so<br />
sind wir die Elite unter den Nationen und bezeichnen eine zum ersten Male erreichte Höhe<br />
germanischer Herrenkultur, die bestimmt niemals und von niemandem, er sei wer er sei, wird<br />
überboten werden können!" 23<br />
Einerseits fragt man sich, was propagandistisch am Dritten Reich noch fehlte, andererseits weiß man,<br />
daß es im Dritten Reich noch ein Überbieten gab. Aber <strong>das</strong> Dritte Reich war im Kaiserreich im Keime<br />
angelegt. Heinrich Mann bekannte später, daß ihm beim Schreiben des "Untertan" vom Faschismus<br />
(er meinte konkret nicht den italienischen Faschismus, sondern den deutschen Nationalsozialismus)<br />
der Begriff gefehlt habe, nicht aber die Anschauung.<br />
Vielfach wird behauptet, der Erste Weltkrieg sei die historischen Zäsur zwischen der belle epoche und<br />
der darauffolgenden Barberei. Das ist oberflächlich dahergeplapperter Unsinn. Der Erste Weltkrieg ist<br />
keine wirkliche kulturelle Zäsur, da er die in der Spätkaiserzeit erzeugte Überspannung der deutschen<br />
Nerven und Kräfte nicht beendete, sondern auf den Schlachtfeldern Europas, Afrikas und Asiens noch<br />
steigerte. Auch wird oft wird behauptet, der Jugendstil sei vor oder mit dem Ausbruch des Weltkriegs<br />
beendet worden. Das stimmt für die Architektur teilweise, allein aus Kostengründen konnten im Krieg<br />
und nach dem Krieg die aufwendigen handwerklichen Ausführungen nur noch selten realisiert werden,<br />
für die Malerei, die Illustration und die bildende Kunst mit ihren billigen Reproduktionstechniken<br />
insgesamt trifft <strong>das</strong> nicht zu. Fidus und viele andere arbeiteten nach dem Kriege in unveränderter<br />
Manier weiter, 1918 verherrlichte er den deutschen Frieden im Osten und die deutsche Art, noch<br />
etwas monumentaler als vor dem Kriege. Alle bedeutsamen wirtschaftlichen, kulturellen und<br />
politischen Änderungen, die als Imperialismus, als Lebensreform und als Kulturkrise des Fin de siècle<br />
beschrieben worden sind, traten ab 1885 in Erscheinung und nicht erst im Ersten Weltkrieg und schon<br />
überhaupt nicht erst nach dem Weltkrieg.<br />
Vielfach, exemplarisch bei Sebastian Haffner, wird der Erste Weltkrieg als Quelle der Übel von<br />
Weimar und als Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung angesehen. Der Krieg<br />
habe die <strong>Menschen</strong> verroht und der Zweite Weltkrieg sei die Revanche für den Ersten gewesen.<br />
Warum war dann der Zweite Weltkrieg nicht Ausgangspunkt für den Dritten? Waren die Soldaten des<br />
Zweiten Weltkriegs nicht noch mehr verroht, als die des Ersten? Hatte man nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg nicht mehr Grund zur Revanche, als nach dem Ersten?<br />
Der Erste Weltkrieg ist nicht die Ursache des Zweiten und der Erste Weltkrieg ist auch nicht die<br />
Epochengrenze zwischen dem "langen 19. Jahrhundert" und dem "kurzen 20. Jahrhundert". Die<br />
Epochengrenze zwischen der Zeit der Verbürgerlichung der Gesellschaft mit einhergehender<br />
Individualisierung und der Epoche der Rekorporierung mit Einbindung der <strong>Menschen</strong> in<br />
Großverbände, zwischen individualistischen und korporatistischen Entwürfen muß irgendwo zwischen<br />
der <strong>Romantik</strong> und dem Spätkaiserreich gesucht werden, spätestens um 1890 herum. 1890 ist <strong>das</strong><br />
Jahr, <strong>das</strong> von den Leninisten als Geburtsjahr des Imperialismus gehandelt wurde, es ist jedoch eher<br />
die großkulturelle Ausbreitung des Reformismus und Elitarismus; es markiert den Beginn der<br />
Kulturkrise der Jahrhundertwende ebenso wie den Anfang des industriellen Korporatismus mit seinen<br />
Verbandsmonstern sowie den für den Außenhandel und <strong>das</strong> internationale Bewusstsein schädlichen<br />
Schutzzöllen. Der außenpolitische Lotse Bismarck ging 1890 von Bord, um dem Geistersegler<br />
Wilhelm Platz zu machen. 1890 ist eher <strong>das</strong> Jahr der Zeitenwende, als 1914. Ab 1890 wurde gesät,<br />
1914 bis 1945 hielt der Tod reiche Ernte.<br />
Kaiser Wilhelm II. war ein planloser Wandler zwischen den Welten der alten und der neuen Zeit. Auf<br />
der einen Seite Gottesgnadentum und ein bombastisch-neobarocker Kunstgeschmack, auf der<br />
anderen Seite eine mit den leichtsinnigen und stimmungsvollen Reformideen im Gleichschritt<br />
marschierende Außenpolitik. Wilhelm II. hatte sich für keine Seite der Kulturfront klar entschieden, er<br />
22 H. Mann: Der Untertan, Reclam, Leipzig, 1978, S. 396<br />
23 s.o. S. 393 f.<br />
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