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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Gegen die gerade Linie, <strong>das</strong> Dreieck, die Kolonne rebellierte die geschwungene Linie als<br />

Natursymbol. So wie die Grünen die Naturnähe des <strong>Menschen</strong> und der Gesellschaft zelebrieren, so<br />

taten <strong>das</strong> um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die Eliten der Lebensreform.<br />

Um die Jahrhundertwende traten die Apostel der Lebensreform immer selbstbewußter auf die Bühne.<br />

Die Lebensreform und der mit ihr zeitweise eng verbundene Jugendstil werden oft als<br />

Protestbewegung gegen den kulturellen Traditionalismus, den sogenannten Muff der Kaiserzeit<br />

beschrieben.<br />

Darüber hinausgehend nahm die Reform durch ihre Angriffe auf die Technik und Industrialisierung die<br />

Kinder der in den wirtschaftlichen Strudel der Industrialisierung geratenen alten Schichten der<br />

Handwerkerschaft, der Krämerei, der Fuhrleute und Landwirte mit. Wie es sich mit Protesten oft<br />

verhält: die Protestanten standen fest auf dem Boden des tradierten vorindustriellen Systems und<br />

rebellierten gegen den Vorwärtsgang.<br />

Beispiel Fidus, Umarmung. Für die spätkaiserzeitliche Kunstauffassung ist die Reduktion des Gezeigten auf die<br />

reine Physis sehr typisch. Charaktereigenschaften spielen keine Rolle, beide Akteure zeigen kein Gesicht. Man<br />

ahnt nur jene lebenswichtige Emotion, die dem Fortpflanzungsbestreben beigegeben ist. Die Biologie hatte die<br />

Oberhand über den Verstand gewonnen, <strong>das</strong> Luststöhnen wurde in den bewussten Gegensatz zur tradierten<br />

Moral gestellt, so wollte es Nietzsche, und so malte es Fidus. Beide Akteure der Umarmung waren blond.<br />

Sicher konnte den Reformisten die herrschende junkerliche Kaste auf den Gebieten des<br />

Vegetarismus, des Wassertretens, des Nacktbadens und bei der Esoterik wenig vormachen. Das<br />

Gefühl "alles muß anders werden" verband den Berliner Hof und die Reformer jedoch wieder. Was<br />

Wilhelm sich an <strong>Neue</strong>rungen in der europäischen Außenpolitik leistete, <strong>das</strong> muteten die Reformisten<br />

dem kleinen Territorium ihres Körpers zu: "Der Platz an der Sonne" sollte nicht nur vom Kaiser für <strong>das</strong><br />

Reich erkämpft werden, sondern auch von Krethi und Plethi am Strand.<br />

Deutschlands Zukunft lag auf dem Wasser: betagte Admirale bauten an einer kaiserlichen Marine mit<br />

ständig wachsender Feuerkraft, während die Jugend die Strandbäder entdeckte. In den ganzen<br />

eineinhalb Jahrzehnten von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkriegs kam kein<br />

einziger demokratischer Impuls von der Lebensreform und vom Jugendstil und ebensowenig<br />

demokratische Impulse kamen vom Kaiser. Vielmehr zeigten die Reformbewegungen monarchische<br />

Tendenzen: So wie der Kaiser mit dem monarchischen Prinzip einen Wahrheitsanspruch verkörperte,<br />

so taten <strong>das</strong> die Reformer mit antidemokratisch-elitären Konzepten auch.<br />

Peter Behrens entwarf 1900 in seiner Schrift "Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des<br />

Theaters als höchstem Kultursymbol" ein fiktives Festspielhaus:<br />

"Am Saum eines Haines, auf dem Rücken eines Berges soll sich <strong>das</strong> festliche Haus erheben. So<br />

farbenleuchtend, als wolle es sagen: Meine Mauern bedürfen des Sonnenscheins nicht! - Meine<br />

Säulen sind umkränzt, und von sieben Masten wehen lange weiße Fahnen. Auf der hohen Empore<br />

stehen Tubenbläser in glühenden Gewändern und lassen ihre langgezogenen Rufe weit über <strong>das</strong><br />

Land und die Wälder ertönen. Es öffnen sich langsam die großen Thorflügel, und man tritt hinein in<br />

den hohen Raum. Hier sind alle Farben tiefer gestimmt, wie zur Sammlung. Hatten wir unten in<br />

unserer gewohnten Umgebung alles so gestaltet, daß es Bezug auf unser tägliches Leben habe,<br />

auf die Logik unserer Gedanken, auf unser sinnliches Zweckbewußtsein, nun erfüllt uns hier oben<br />

der Eindruck eines höheren Zweckes, ein ins Sinnliche nur übersetzter Zweck, unser geistiges<br />

Bedürfnis, die Befriedigung unserer Übersinnlichkeit....Wir sind geweiht und vorbereitet auf die<br />

große Kunst der Weltanschauung!" 12<br />

Welche Weltanschauung <strong>das</strong> war, kann man an der späteren Karriere von Behrens ablesen. Nach<br />

1933 war Peter Behrens Mitbegründer des führertreuen Verbandes für Deutsche Wertarbeit, der sich<br />

als Nachfolgeorganisation des Werkbunds verstand. 1936 erhielt er durch die Fürsprache Albert<br />

12 Solche Vorstellungen kamen offensichtlich in der Bohème an: In ähnlichen Worten stellte sich 1906 der<br />

15jährige Adolf Hitler sein herrschaftliches Traumhaus vor: Er wählte die Einrichtung, prüfte die Möbel und Stoffe,<br />

entwarf Dekorationsmuster und entwickelte Pläne für ein Leben edler Ungebundenheit und großzügiger Liebe zur<br />

Kunst, <strong>das</strong> von einer grauhaarigen, aber unerhört vornehmen Dame betreut werden sollte, und er stellte sich vor,<br />

wie sie bereits im festlich beleuchteten Treppenhause die Gäste empfangen würde, die zu einem ausgewählten,<br />

hochgestimmten Freundeskreise gehören. (J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 54)<br />

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