Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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„Ich hatte meinen ganzen Tag für mich, wohnte still und schön in altem Gemäuer vor der Stadt und<br />
hatte auf meinem Tisch ein paar Bände Nietzsche liegen.“<br />
Kulturell und wirtschaftlich wurde nach dem Ersten Weltkrieg <strong>das</strong> fortgeführt, was vor dem Krieg<br />
begonnen hatte: elitäre, antidemokratische und diktatorische Strukturen triumphierten in den Medien,<br />
im Kulturbetrieb und in der Wirtschaft. Insofern ist die Weimarer Republik keine gesonderte Epoche,<br />
sondern sie fügt sich in <strong>das</strong> Vorher und Nachher widerstandslos und nahtlos ein. Die Änderung der<br />
Regierungsform in eine parlamentarische war nicht nur kulturell, sondern auch in Bezug auf die<br />
Wirtschaftsverfassung ein Anachronismus. Die verzunftete Vorkriegs-, Kriegs- und<br />
Nachkriegswirtschaft wäre mit dem Kaiserreich besser klargekommen, und sie sollte zukünftig mit<br />
dem Nationalsozialismus besser harmonieren, als mit einer parlamentarischen Republik. Es wird<br />
immer behauptet, die Revolution von 1918 wäre verspätet gewesen: Hätte sie rechtzeitig vor Friedrich<br />
Nietzsche und Friedrich Naumann stattgefunden, zu Lebzeiten von Friedrich Engels? Auch vor<br />
Nietzsche und Naumann, vor der elitaristischen Kulturrevolution, hätte sie sich mit dem<br />
Romantizismus und seinem ökonomischen Fundament, dem ständegesellschaftlichen Überhang, den<br />
umfangreichen Überbleibseln des korporatistischen Mittelalters auseinandersetzten müssen, und wäre<br />
an diesen "Resten" mit hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert oder auf <strong>das</strong> Maß an Zielen<br />
zurechtgestutzt worden, welches sich mit den Tricks des tapferen Schneiderleins erreichen ließ.<br />
Ein grelles Schlaglicht auf den ideologischen Zustand der USPD und der links von der<br />
Sozialdemokratie stehenden Revolutionäre wirft die Münchner Räterepublik. Noch heute ist<br />
Schwabing der ungläubigste bayrische Wahlkreis. Nach dem Ersten Weltkrieg war fast ganz München<br />
ein einziges Schwabing. Das reformistische USPD-Mitglied Kurt Eisner, ein Student von Kant und<br />
Nietzsche, bärtiger Theaterkritiker der "Münchner Post" wurde Ministerpräsident der Räterepublik. Die<br />
Münchner wurden von glühenden Reden vom Reich des Lichts, der Schönheit und der Vernunft<br />
genervt, sie antworteten mit dem Spottlied "Revoluzilazilizilazi hollaradium, alls drah ma um, alls kehr<br />
ma um, alls scheiß ma um, bum, bum!" Thomas Mann schrieb am 16. November 1919 in sein<br />
Tagebuch:<br />
„Der eigentliche Proletarier-Terrorismus droht. (...) Andererseits Progrom-Stimmung in München,<br />
Widersetzlichkeit gegen <strong>das</strong> Judenregiment.“<br />
Bei den Parlamentswahlen im Januar 1919 erlitt die USPD eine vernichtende Niederlage. Als Eisner<br />
gerade im Begriff war zurückzutreten, wurde er vom Grafen Arco-Valley ermordet. Nach Eisners Tod<br />
errichtete der Zentralrat unter dem Sozialdemokraten und späteren Nationalbolschewisten Ernst<br />
Niekisch eine Diktatur, bis der anarchistische Schriftsteller und Schwärmer Erich Mühsam sowie der<br />
expressionistische Kriegsverherrlichungsliterat Ernst Toller die Welt per Erlaß in eine Wiese voller<br />
Blumen, in der jeder sein Teil pflücken könne verwandelten.<br />
Sie befahlen den Zeitungen auf der Titelseite Gedichte von Hölderlin und Schiller zu publizieren,<br />
neben den neuesten Revolutionsdekreten. Mühsams politischer Beitrag beschränkte sich im<br />
wesentlichen darauf, unter dem Titel „Der Lampenputzer“ die Mehrheitssozialdemokraten zu<br />
attackieren.<br />
Der revolutionäre Außenminister Dr. Franz Lipp schrieb ein Telegramm an den „Genossen Papst,<br />
Peter-Kathedrale, Rom“, in welchem er den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann<br />
beschuldigte, mit den Schlüsseln zur Toilette durchgebrannt zu sein. 202<br />
Nach dem durch diese kindischen und schöngeistigen Eskapaden provozierten Rücktritt von Niekisch<br />
und den meisten Ministern ergriff im entstandenen geistigen und personellen Vakuum auf Geheiß<br />
Moskaus eine Gruppe von elitaristischen Berufsrevolutionären um Max Lewien, Eugen Leviné und<br />
Paul Borissowitsch Axelrod, die letzteren beiden russische Geheimagenten, die Macht.<br />
Beschlagnahmekommissionen, Geiselverhaftungen, Geiselerschießungen, revolutionäre Willkür und<br />
der Hunger gewannen die Oberhand. 203 Von expressionistischen Bohèmiens bis zu leninistischen<br />
Berufsrevolutionären war nacheinander alles, was die Lebensreform ausgebrütet hatte, als<br />
heterodoxes Allerlei an die Hebel der Münchner Ohnmacht geraten. Fast überflüssig zu erwähnen,<br />
daß sich der Gefreite Adolf Hitler der Roten Armee unterstellte, Quartier in der Kaserne in<br />
Oberwiesenfeld nahm und bis zu seiner Verhaftung durch <strong>das</strong> in München einrückende Freikorps Epp<br />
202 Gordon A. Craig, Germany 1866 bis 1945, Oxford University Press 1981,übersetzt von Jörg Fröse<br />
203 J. Fest: Hitler, Ullstein, S. 169 ff.<br />
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