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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Endzeitstimmung<br />

Der Marsch durch die Institutionen der Gehirne<br />

Die Lebensreform hatte als Liebhaberei und Rechthaberei von schrulligen Sektierern ihren Anfang<br />

genommen. Ob Kohlrabiapostel, Theosophen, Leibeszüchter, Nacktbader, Vegetarier, Okkultisten,<br />

Astrologen oder Anthroposophen, viele dieser Sonderlinge gaben sich geheimnisvolle Regeln, lebten<br />

nach komplizierten Heilslehren, die nicht leicht zu verstehen waren, selbst harmlose Kleingärtner<br />

unterwarfen sich demutsvoll umfangreichen Satzungen und mächtigen Vereinsvorständen.<br />

Verbindungen von Turnen mit Okkultismus und Buddhismus, von Architektur mit Nietzsches<br />

Philosophie, von ekstatischem Tanz mit Vegetarismus erforderten die Einübung bizarrer<br />

Gedankengebäude, die nur von einem kleinen Teil der Kulturbürger einigermaßen im Sinne ihrer<br />

Schöpfer verstanden wurden.<br />

Spaß an der Körperlichkeit vermittelt über den Sport war eins der Einfalltore der Lebensreform in die<br />

Massengesellschaft.<br />

Es mußte <strong>das</strong> kommen, was kommen mußte, die Popularisierung der neuen elitären Theorien auf ein<br />

allgemein verständliches Niveau. Kollossale Gedankengebäude mit enormen Volumina wurden<br />

binnen verhältnismäßig kurzer Zeit auf die Stärke einer Flunder herabgebügelt. Was blieb nun bei der<br />

Masse hängen? Viele Sportarten erlebten ihre Geburt als Massensport, insbesondere der Fußball.<br />

Eine Luft- und Lichtsucht ergriff die Massen, man verbrannte sich die Haut beim Sonnenbaden und<br />

schlief auch im tiefsten Winter nachts bei geöffnetem Fenster.<br />

Dieses Phänomen des Flachbügelns von Ideologie skizzierte schon Milton in „Das verlorene<br />

Paradies“, es ist mehr ein Wahrnehmungs- als ein Manipulationsproblem:<br />

Doch wisse du,<br />

Daß in der Seele sich manch mindre Kraft,<br />

Die der Vernunft als höchster dient, befindet;<br />

Darunter wirkt, im Range ihr zunächst,<br />

Die Phantasie; aus allen äußern Dingen,<br />

Die uns die fünf wachsamen Sinne zeigen,<br />

Formt sie die Einbildungen, Luftgestalten,<br />

Die die Vernunft, verknüpfend oder trennend,<br />

Zusammenfügt zu dem, was wir, bejahend<br />

Oder verneinend, unser Wissen nennen<br />

Oder die Meinung; und zurück sich zieht<br />

In ihr geheimstes Fach, indes wir schlafen.<br />

Oft, wenn sie weg ist bleibt die Phantasie,<br />

Die mimende, noch wach, sie nachzuahmen,<br />

Nur daß sie oft, Gestalten falsch verbindend,<br />

Verpfuschte Arbeit leistet, und zumal<br />

In Träumen, wo sie Wort und Tat, die längst<br />

Vergangen oder jüngst geschehn verklittert.<br />

Ein Unbekannter hatte 1900 über Vergangenheit und Zukunft, Religion und Natur getextet und dem<br />

Lebensgefühl der Jahrhundertwende Ausdruck verliehen:<br />

Zum neuen Jahrhundert.<br />

So lang' <strong>das</strong> alte Jahrhundert war,<br />

Nun ist es endlich zu Ende,<br />

Und auf der Zukunft Brandaltar<br />

Erglühen die Sehnsuchtsbrände.<br />

Hochauf zum Himmel <strong>das</strong> Feuer loht,<br />

Das Feuer der jungen Herzen.<br />

Die alte Geisternacht ist tot,<br />

Und tot sind die alten Schmerzen.<br />

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