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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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vom deutschen Weg handelte, aber <strong>das</strong> war nie die offizielle nationalsozialistische Erklärung für <strong>das</strong><br />

Verbindende zwischen Plutokratismus und Bolschewismus. Der angeblich überlegene Deutsche Weg<br />

hatte als solcher einen Exekutor, der beflissentlich verschwiegen wurde: Der Vollender der deutschen<br />

Sonderwirtschaftsform, Walter Rathenau, war Jude. Man sieht: logisch und historisch war der<br />

nationalsozialistische Antisemitismus nicht zu begründen und nicht zu verstehen. Er war für Hitler und<br />

seinen Führungszirkel ähnlich fundamentale Voraussetzung jeglicher politischen Arbeit, wie der Koran<br />

für die Muslime fundamentale Begründung für ihr Verhältnis zu den Juden und Christen ist.<br />

Nachfragen erübrigen sich in solchen Fällen.<br />

Der Spagat zwischen Plutokratie und Bolschewismus wurde nicht wirklich, nicht endgültig und nicht<br />

zweifelsfrei aufgelöst. Immer wenn die Menschheit solche Rätsel nicht lösen kann, haben<br />

Verschwörungstheorien Konjunktur. Moishe Postone verweist in seinem Aufsatz "Nationalsozialismus<br />

und Antisemitismus" 131 auf ein Naziplakat: Es zeigt Deutschland - dargestellt als starken ehrlichen<br />

Arbeiter -, <strong>das</strong> im Westen durch einen fetten plutokratischen John Bull bedroht ist und im Osten durch<br />

einen brutalen, barbarischen, bolschewistischen Kommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen<br />

Kräfte bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der<br />

Jude. "Das internationale Judentum" wurde abstrahierend als <strong>das</strong> wahrgenommen, was zum<br />

Niedergang althergebrachter sozialer Zusammenhänge und Werte führt.<br />

Hinsichtlich des Antisemitismus gibt es eine Besonderheit vor, während und nach der Zeit der<br />

Weimarer Republik. Während die Zwangs- und Planwirtschaft, die obrigkeitsstaatliche Verfassung, die<br />

Vorbehalte gegen die Parteien, die Mitteleuropakonzeption und der Polenhaß vom Kaiserreich über<br />

die Weimarer Republik ins Dritte Reich kontinuierlich von allen gesellschaftlichen Gruppen und<br />

politischen Parteien herübergetragen wurden, gab es beim Antisemitismus einen Einschnitt. Keine der<br />

drei Verfassungsparteien betrieb während der Weimarer Zeit in ihrem Kern konzentrierte antijüdische<br />

Hetze. Auf zumindest diesem einen Gebiet wurde eine stetige und nachhaltige Politik nur von<br />

völkischen Reformisten, Neokonservativen und Nationalsozialisten, und nicht von allen<br />

gesellschaftlichen Kräften betrieben. Nach dem gewaltsamen Tod des Kriegswirtschaftsführers<br />

Rathenau beispielsweise gab es in weiten Teilen Deutschlands Kundgebungen des Unmuts über den<br />

Antisemitismus.<br />

Das wirklich bestimmende Verhältnis im vorbürgerlichen wilhelminischen Deutschland war nicht ein<br />

Produktionsverhältnis, sondern ein Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis. In Preußen zeigte sich dieses<br />

Verhältnis besonders auf dem Kasernenhof. Einige zeitgenössische Karikaturen zeigen den Juden bei<br />

der Musterung als zu klein oder zu krank, oder er wurde zum Exerzieren als zu ungeschickt<br />

dargestellt. 132 Beim Besuch von Wilhelm II in einer Kleinstadt waren die örtlichen Honoratioren zum<br />

Empfang auf der Rathaustreppe versammelt, darunter auch ein Jude. Wilhelm II fragte ausgerechnet<br />

den Juden, wo er gedient habe. Der Jude hatte nicht gedient.<br />

Ein junger Bohèmien wird im Saft der Jahrhundertwende geschmort ohne zu garen<br />

August Bebel hatte auf manche Dinge einen klaren Blick:<br />

„Deutschland ist <strong>das</strong> klassische Land, <strong>das</strong> diese Überproduktion an Intelligenz, welche die<br />

bürgerliche Welt nicht zu verwerten weiß, auf großer Stufenleiter schafft.“<br />

Das traf auf eine ganze Alterskohorte von Reformisten zu, die etwa 1885 bis 1910 geboren wurden.<br />

Adolf Hitler war einer von ihnen.<br />

1905 hatte Adolf Hitler die Realschule abgebrochen. Er war offensichtlich kein Einzelfall. Nach der<br />

Jahrhundertwende häuften sich die Schulabbrüche in der Literatur: "Freund Hein" von Emil Strauss<br />

(1901), "Traumstunde" von Rainer Maria Rilke (1902), "Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind<br />

(1906), "Der junge Törless" von Robert Musil (1906), "Unterm Rad" von Hermann Hesse (1906) und<br />

"Mao" von Friedrich Huch (1907). In Künstlerkreisen war es augenscheinlich angesagt, die Schule zu<br />

schmeißen, Thomas und Heinrich Mann, Gerhard Hauptmann, Carl von Ossietzky und Hermann<br />

Hesse gehörten zu den prominenten Abbrechern. 133 Dahinter mag sich auch der durchaus logische<br />

Gedanke der Schüler verborgen haben, daß man in einer Welt des sublimierten Gefühls, wie es von<br />

der Jugendbewegung seit Friedrich Nietzsche verfochten worden war, eingepaukte Schulbildung nicht<br />

mehr benötigte. Was sollten Physik und Mathematik in einer Welt, in der die Naturwissenschaft<br />

131 www.gaga.or.at/others/k.../m-postone_nationalsozialismus-und-antisemitismus.htm<br />

132 www.badische-heimat.de/museen/kpm/jd/87.htm<br />

133 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 86<br />

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