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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Herwarth Walden und Kurt Hiller 1910 bis 1932 herausgegeben wurde. 52 Das neue war, <strong>das</strong>s man<br />

sich auf die Faszination der Großstadt einließ. Der rauschgiftsüchtige Mörder Johannes R. Becher<br />

schuf die futuristischen Gedichte „Lokomotiven“ und „Die neue Syntax“; die Dynamik und Technik<br />

fanden Eintritt in den deutschen Kulturtempel. Der Lyriker Ernst Blass forderte, <strong>das</strong>s die modernen<br />

Dichter die Bilder der Großstadt als Landschaften ihrer Seele darstellen, und nicht die Großstadt an<br />

sich. Die Abstraktionstendenz war nicht zu übersehen: nicht der Einzelne, <strong>das</strong> Individuum wurde<br />

dargestellt, sondern der Mensch an sich. Solch eine großstädtische Seelenlandschaft offenbarte Paul<br />

Boldt:<br />

Auf der Terrasse des Café Josty<br />

Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll<br />

Vergletschert alle hallenden Lawinen<br />

Der Straßentakte: Trams auf Eisenschienen<br />

Automobile und den <strong>Menschen</strong>müll.<br />

Die <strong>Menschen</strong> rinnen über den Asphalt,<br />

Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.<br />

Stirne und Hände, von Gedanken blink,<br />

schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.<br />

Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,<br />

Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen<br />

Und lila Quallen liegen – bunte Öle;<br />

Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen.–<br />

Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,<br />

Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.<br />

Der <strong>Menschen</strong>müll wurde wenig später auf den Schlachtfeldern um Verdun entsorgt.<br />

Man kann vermuten, <strong>das</strong>s einerseits die Vermassung des <strong>Menschen</strong> in der Großstadt reflektiert<br />

wurde, andererseits der aktuelle Grad der psychoanalytischen Durchdringung der menschlichen<br />

Seele. Großen Einfluß hatte Siegmund Freud, der den <strong>Menschen</strong> so darstellte und beschrieb, <strong>das</strong>s er<br />

nicht Herr im eigenen Körper sei, sondern seine Psyche von bösen ödipalen Geistern in den<br />

Schläuchen des Körpers umgetrieben würde. Der Kampf mit dem eigenen Vater, der seinem Sohn in<br />

der ödipalen Phase die sexuellen Reize der Mutter vorenthielt, gewann unter Freuds Einfluß gerade<br />

nach 1910 große Bedeutung: Heym, Benn und Becher führten den Kampf mit dem Vater sowohl<br />

persönlich als auch literarisch, in einigen anderen Fällen kam es zum literarischen Vatermord. Walter<br />

Hasenclever gar ließ 1914 in seinem Roman „Der Sohn“ aus nichtigem Anlaß die männlichen<br />

Mitglieder eines Jugendclubs zu den Klängen der Marseilleise den Mord an ihren Vätern beschließen.<br />

Georg Heym träumte 1910 von Barrikaden und Kriegen. Auskunft gab sein Tagebuch:<br />

„Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der<br />

sich darauf stellte, ich wollte mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder<br />

sei es auch nur, <strong>das</strong>s man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul<br />

ölig und schmierig, wie Leimpolitur auf alten Möbeln.“<br />

Ein Jahr später reimte er schon wieder vom Krieg:<br />

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,<br />

aufgestanden unten aus Gewölben tief.<br />

Eine große Stadt versank in hellem Rauch,<br />

warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.<br />

Aber riesig über glühnden Trümmern steht,<br />

der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht<br />

über sturmzerfetzter Wolken Widerschein<br />

in des toten Dunkels kalten Wüstenein,<br />

52 Walden war in der Weimarer Zeit Kommunist. Er reiste 1932 in die Sowjetunion aus und wurde dort getötet.<br />

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