Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Kurz vor dem Ende des Weltkriegs, kurz vor dem militärischen Zusammenbruch an der Westfront,<br />
nach dem deutschen Sieg im Osten veröffentlichte er einen Aufruf "An Deutschlands Jugend":<br />
"Neu wird unsere Lebensweise, unsere Wirtschaft, unser Gesellschaftsbau und unsere Staatsform.<br />
Neu wird <strong>das</strong> Verhältnis der Staaten, der Weltverkehr und die Politik. Neu wird unsere<br />
Wissenschaft, ja selbst unsere Sprache." 73<br />
Alle Prognosen sollten sich leider bewahrheiten, allerdings unter nationalsozialistischen Vorzeichen.<br />
Selbst die Sprache wurde reformiert - statt von der Nase sprach man vom Gesichtserker - von der<br />
Staatsform, dem Verhältnis der Staaten zueinander und der neuen Lebensweise in<br />
Konzentrationslagern ganz zu schweigen.<br />
Rathenau gehörte im Weltkrieg zu den Durchhaltefanatikern:<br />
„Ein für allemal: wir halten den Krieg beliebig lange aus, an Rohstoff, Nahrung, <strong>Menschen</strong>zahl,<br />
Kraft und Willen, mit mehreren, mit wenigen, mit keinen Genossen." 74<br />
Er machte der Obersten Heeresleitung zum Vorwurf, den Westmächten die Kapitulation angeboten zu<br />
haben: Unter der Überschrift "Ein dunkler Tag" schrieb er in der Presse:<br />
"Der Schritt war übereilt. Wir alle wollen Frieden. Wir, die wenigen, haben gemahnt und gewarnt,<br />
als keine Regierung daran dachte, der Wahrheit in Auge zu blicken. Nun hat man sich hinreißen<br />
lassen, im unreifen Augenblick, im unreifen Entschluß. Nicht im Weichen muß man Verhandlungen<br />
beginnen, sondern zuerst die Fronten befestigen.... Hat man <strong>das</strong> übersehen? Wer die Nerven<br />
verloren hat, muß ersetzt werden...Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden<br />
der Unterwerfung." 75<br />
Die ganze Unklarheit der Rathenau´schen Konzeptionen läßt sich nur vor dem Hintergrund der<br />
Rezeption von Lebensreformkonzepten verstehen. Der Volksstaat, die Volksgemeinschaft, die irdische<br />
Mission des deutschen Geistes, die im Osten aufgehende Sonne der jungen Völker und ein<br />
abgefahrener unrealistischer und schwankender Zukunftsglaube, <strong>das</strong> waren durchweg<br />
zeitgenössische jugendbündlerische Vorstellungen. Rathenau erkannte nicht, daß diese Konzeptionen<br />
auch eine mehr oder weniger verdeckte antisemitische Spitze hatten. Er stand zeitweilig mit an der<br />
Spitze eines Impulses, der zunächst ihn persönlich verschlingen sollte, später Deutschland und am<br />
Ende die ganze Welt in Unordnung stürzte.<br />
An der Nahtstelle von Ökonomie und Kultur feierte der Herausgeber des „Archiv für<br />
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ Edgar Jaffé vor dem Weltkrieg seine Feste mit der Schwabinger<br />
Künstlerschaft und Halbwelt. Sein Haus in München stand für jeden dahergelaufenen Reformisten<br />
sperrangelweit offen. Der reformistischen Logik folgend wurde Jaffé Mitglied der USPD und<br />
Finanzkommissar bei den chaotischen Münchner Räten.<br />
Wenn es Beweise geben sollte, wie fragil die Marx´sche Lehre von der ökonomischen Basis der<br />
Gesellschaft eigentlich war, so muß man sich die Lebensläufe aller deutschen Ökonomen ansehen:<br />
Sie waren alle in kulturellen und sozialen Dingen genauso engagiert, wie in ökonomischen. Der<br />
Mensch ist nicht so konstruiert, <strong>das</strong>s eine Grenze zwischen Basis und Überbau durch sein Gehirn<br />
hindurchläuft, deren Überwachungskameras und Detektoren dem Bewusstsein ansagen: Jetzt hast du<br />
gerade die Stacheldrahtgrenze zwischen Basis und Überbau verletzt. Vielfach bestimmten die<br />
kulturellen Prägungen von Sombart, Brentano, Jaffé, Weber, Rathenau und Naumann die<br />
ökonomische Anschauung, und nicht umgekehrt.<br />
Ein weiterer Multiplikator des Nietzscheanismus war zweifellos Harry Graf Kessler, dessen<br />
Beziehungen mehr in die Kunst- und Politikszene hereinreichten, als in die der Wirtschaft.<br />
Auf der einen Seite reichten seine Verbindungen zum George-Kreis in Schwabing,<br />
nachweisbar ist zum Beispiel sein Besuch bei Ludwig Derleth, andererseits stand er in<br />
73<br />
Herbert Schwenk: "Ein Baum der mehr Blüten als Früchte trägt..." in www.luiseberlin.de/bms/bmstxt00/0006porb.htm<br />
74<br />
Thiel, Rudolf: Die Generation ohne Männer, Berlin 1932, Seite 238<br />
75<br />
Thiel, Rudolf: Die Generation ohne Männer, Berlin 1932, Seite 260<br />
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