Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Tor weit geöffnet, die unter welchen Vorwänden auch immer die Welt mit wenig erprobten neuen<br />
Gesetzen regieren wollten. Das aufgestoßene Tor eröffnete den Weg auf eine breite Reform- und<br />
Versuchsstrecke, die an ihrem Ende in einer kolossalen Sackgasse endete, an deren Ende große<br />
Öfen standen. Im Kaiserreich lag die Kinderstube der neuen Reformideen, die Jugendzimmer waren<br />
die Unterstände des Weltkriegs, die Weimarer Republik steuerte eine Experimentierküche bei, in der<br />
versucht wurde aus den ungeeigneten Zutaten des Elitarismus ein parlamentarisches Süppchen zu<br />
kochen und im Dritten Reich endlich brach die Kellerperiode des Reformismus an: im Heizungskeller<br />
und in gefliesten Waschräumen wurde mit vollem Dampf auf die lange prophezeite Reinigung<br />
hingearbeitet, die sich als <strong>das</strong> entpuppte, was die Kriegsliteraten vorausgesagt hatten: als<br />
Reinigungskatastrophe.<br />
Die Befindlichkeit der Bildungsbürger des ausgehenden 19. Jahrhunderts und insbesondere der<br />
Lebensreformer war trotz oder gerade wegen der Fortschritte auf allen Gebieten<br />
zivilisationspessimistisch. Dieser Pessimismus wechselte sich oft ohne Übergänge mit Überschwang<br />
ab. So auch bei Nietzsche. Angriffe gegen die Verwissenschaftlichung des Lebens verbunden mit<br />
einem virulenten Kulturpessimismus wechselten sich mit Phantasien vom Übermenschen und einer<br />
neuen Kulturperiode ab.<br />
Solch ein Hin- und Her zwischen Vorwärts und Rückwärts, zwischen schnell und langsam, zwischen<br />
Groß- und Kleinmut, zwischen Macht und Ohnmacht ist Umbruchperioden eigen.<br />
Die von Nietzsche propagierte Umwertung der Werte wurde sicher von Adolf Hitler so verstanden, wie<br />
Nietzsche sein Schlagwort gemeint hatte, als Zeichen zum Großangriff auf den demokratischen Status<br />
Quo. Die Umwertung der Werte stand im selben gesellschaftlichen Umfeld wie Wilhelms "Ich führe<br />
euch herrlichen Zeiten entgegen", „Alles muß anders werden“ oder "Wir wollen niemanden in den<br />
Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne."<br />
Nietzsches Reformhaus führte einige Produkte, die bei der Reformkundschaft gut ankamen. Sie<br />
bedienten ein neues Lebensgefühl der Machbarkeit und des Aufbruchs in große Weiten und große<br />
Zeiten. Zurück zu den Wurzeln war gerade nicht in, fort in kosmogene Weiten, fort in kosmogene<br />
Gedanken, Aufbruch zu neuen Ufern. Der "Übermensch", die "blonde Bestie", die "Sklaven- und<br />
Herrenmoral", <strong>das</strong> "unwerte Leben", der "Wille zur Macht", <strong>das</strong> waren Propagandapässe, die nicht nur<br />
dem Adolf Hitler in den Lauf gespielt wurden. Nietzsche drohte:<br />
"Ich kenne mein Loos: Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas<br />
Ungeheueres anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf der Erden gab, an die tiefste<br />
GewissensCollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was geglaubt, gefordert<br />
geheiligt worden war...Denn wenn ein Vulkan in Thätigkeit tritt, so haben wir Convulsionen auf<br />
Erden, wie es noch keine gab. ...es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gab". 36<br />
Wer war Nietzsche nun eigentlich? War er der Erfinder des Nationalsozialismus? Seine Philosophie<br />
spiegelte den Zeitgeist, der nach vielen Volten zum Nationalsozialismus führte, am treffendsten. Seine<br />
Schlagworte fokussierten die im Raume umherschwirrenden Gedanken auf einen Punkt. Seine<br />
Ablehnung einer 2000jährigen christlichen Tradition ermöglichte <strong>das</strong> Vorstoßen in längst<br />
zurückgelassene politische und moralische Räume, in mühsam erkämpfte moralische Tabuzonen.<br />
Nietzsche war nicht nur der schöpferische Createur eines unchristlichen Krieges der Starken gegen<br />
die Schwachen, sondern er war <strong>das</strong> Medium der rückständigen deutschen Gesellschaft, in der nicht<br />
die produktiven Kräfte, sondern um mit Marx zu sprechen die zur Illusion privilegierten Stände, die<br />
Ideologen, die Schulmeister, die Studenten und Tugendbündler den Ton angaben.<br />
„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, <strong>das</strong> überwunden werden soll. Was habt<br />
ihr gethan, ihn zu überwinden?“<br />
„Was ist der Affe für den <strong>Menschen</strong>? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben<strong>das</strong><br />
soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.“<br />
"Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!"<br />
36 F. Nietzsche, Fragmente Dez. 1888-Anfang Januar 1889. Kurz nach der Niederschrift fiel er in geistige<br />
Umnachtung.<br />
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