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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Reformbeflissenen und mehr noch der Reformmitläufer der Jahre zwischen 1890 und 1930 strandete<br />

in der NSDAP bzw. KPD oder wählte beim Finale der Weimarer Republik dreimal hintereinander<br />

NSDAP und KPD.<br />

Heute wird oft behauptet, daß die kulturelle Betätigung der Jugend und die Bildung vor dem<br />

Radikalismus schützen würden. Diese optimistische Annahme wird durch die Geschichte nicht<br />

gestützt. Unter bestimmten Voraussetzungen sind Kultur und Bildung der Nährboden für radikale<br />

Abenteurer. Pol Pot beispielsweise absolvierte seine Studien an der Sorbonne; Lenin wallfahrtete auf<br />

den Monte Veritá, Adolf Hitler besuchte im Übermaß Museen und die Opern Richard Wagners.<br />

Bildung ist kein Wert an sich. Es muß deutlich mehr über Inhalte von Kultur und Bildung nachgedacht<br />

werden.<br />

Diese Buch ist ein Buch für die Jugend, nicht so sehr, weil es Auskünfte über eine lange vergangene<br />

Zeit liefert, sondern weil es die Lebenslügen unserer heutigen Gesellschaft offen legt. Die heute<br />

behaupteten festen Grenzen zwischen Nationalsozialismus und Faschismus einerseits und<br />

Leninismus und Reformismus andererseits hat es historisch erst seit 1941 gegeben: Seit dem Krieg<br />

gegen die Sowjetunion und seit der Wannseekonferenz. Vorher gab es nicht nur Berührungen,<br />

Übertritte, gegenseitige Sympathien, sondern vor allem eine gemeinsame Herkunft aus der<br />

reformistischen Jugend- und Lebensreformbewegung, aus dem mitteleuropäischen Elitarismus.<br />

Es gibt in der Geschichtswissenschaft die schädliche und schändliche Tendenz, die Geschichte<br />

rückwärts zu schreiben. Von der bedingungslosen Kapitulation über die Gaskammern von Auschwitz,<br />

die Wannseekonferenz, die Ausstellung „Entartete Kunst“ zur Machtergreifung als Betriebsunfall der<br />

Geschichte. Alle jene, die bei der Wannseekonferenz nicht dabei waren, die von Auschwitz nichts<br />

wussten und die einen Platz unter den Entarteten verpasst bekommen hatten, stellten sich mit Hilfe<br />

dieser rückwärtigen Perspektive auf den Nationalsozialismus den Persilschein aus. Thomas S. Kuhn<br />

schreibt über <strong>das</strong> Problem der rückwärtigen Geschichtsbetrachtung: "Die Wissenschaftler sind<br />

natürlich nicht die einzige Gruppe, die dazu neigt, die Vergangenheit ihrer Disziplin sich gradlinig auf<br />

den gegenwärtigen Stand entwickeln zu sehen. Die Versuchung die Geschichte rückwärts zu<br />

schreiben ist allgegenwärtig und dauerhaft." 7 Bei der chronologischen Verfolgung der geschichtlichen<br />

Tatsachen, beim Vorwärtsschreiben der Geschichte fällt auf, <strong>das</strong>s es in Wirklichkeit einen<br />

gesellschaftlichen Minimalkonsenz aller deutschen gesellschaftlichen Gruppen gegeben hat;<br />

gemeinsame convince ordains überzogen alle Parteien und Gruppierungen, die Wissenschaft, die<br />

Wirtschaft und den Weinberg der deutschen Kultur wie Mehltau. Thomas S. Kuhn hat solche<br />

ideologischen Plattformen als Paradigmata bezeichnet: ihre Leistung sei neu genug, um eine<br />

beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, andererseits offen genug, um den Anhängern die<br />

Lösung von ungelösten Problemen zu ermöglichen. So wie heute <strong>das</strong> Paradigma der Senkung der<br />

Lohnnebenkosten als Achse des vermeintlich ökonomisch Bösen von der Linkspartei bis zur FDP alle<br />

in seinen Bann zieht, so war es vor 100 Jahren die Idee der Schaffung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> und<br />

dessen Führung durch Übermenschen, ebenso wie der Ersatz christlicher Nächstenliebe durch Blut-,<br />

Boden- und Gewaltsexistenzialismus. Kuhn schreibt zum ideologischen Gruppenzwang: „Jene, die<br />

ihre Arbeit nicht anpassen wollen oder können, müssen allein weitermachen oder sich einer anderen<br />

Gruppe anschließen.“ 8 Die anderen Gruppen sind, solange sie <strong>das</strong> herrschende Paradigma nicht<br />

durch ein neues ersetzen können, deutlich in der Defensive.<br />

Es heißt so schön: „Wehret den Anfängen“. Das ist ein wertloses und folgenloses Lippenbekenntnis,<br />

wenn man die Geschichte rückwärts betrachtet. Den Anfängen kann man nur wehren, wenn man die<br />

Geschichte des Nationalsozialismus von „vorn“ nach „hinten“ erzählt, von 1890 nach 1933 und nicht<br />

rückwärts von 1945 nach 1933 und davor ist Schluß. Die Zahl der Mitwirkenden ist chronologisch<br />

vorwärts erzählt nämlich mehr als zehnfach so groß, als chronologisch rückwärts betrachtet. Viele<br />

Mitläufer und Wegbereiter des Führers zerstritten sich zwischen 1920 bis 1938 mit dem Hitler und der<br />

Bewegung. Übrig blieben nur die ewigen Jasager und die zahlreichen Opportunisten. Andere<br />

Weggefährten und Brückenbauer des langen Marsches in den Nationalsozialismus hatten 1933 ihre<br />

Erdenbahn bereits abgeschlossen und brutzelten in der völkisch-elitaristischen Hölle. Sie tauchen alle<br />

sang- und klanglos ab, wenn die Geschichte der NSDAP erst 1920 beginnt und die Genossen von<br />

Boden und Blut erst 1933 ihre wirklich große Fahrt aufnehmen. Aufschlussreich waren die Nürnberger<br />

Prozesse, wo einige Größen der NSDAP behaupteten, Wiederstandskämpfer gegen Adolf Hitler<br />

gewesen zu sein.<br />

7 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, suhrkamp, ffm, 1967, S. 149<br />

8 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, suhrkamp, ffm, 1967, S. 33<br />

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