Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Schichtenmodell, in dem sich mehrere ältere und neuere Gesellschaftsformationen überlagern und<br />
durchdringen, besser abbilden, als mit einer allgemeingültigen globalen Kapitalismustheorie. Die<br />
Schwierigkeit beim Begreifen dieses Systems aus alten und neuen Formationen und des Triumphs<br />
eines uralten zünftig-korporatistischen Gesellschaftssystems über ein moderneres kapitalistisches<br />
werden darin liegen, daß man nicht gewöhnt ist, zu akzeptieren, daß die Geschichte nicht ein Rad ist,<br />
<strong>das</strong> sich immer metaphysisch nach vorwärts auf ein Ziel hin drehen muß; zum Beispiel auf <strong>das</strong> Ziel<br />
des Sozialismus oder <strong>das</strong> Ziel individueller Freiheit. So zielführend ist Geschichte nicht. Sie beinhaltet<br />
immer auch Traditionalismus und dadurch bedingte Rückfälle. Zwischen zwei historischen Punkten ist<br />
selten die Gerade der wirklich zurückgelegte Weg, manchmal ist es <strong>das</strong> Labyrinth oder die Spirale.<br />
Nur Geschichtsbücher lesen sich oft so, als wäre es eine Gerade gewesen. Das Dritte Reich ist in<br />
solchen Darstellungen rückblickend als Betriebsunfall auf dem linearen Weg der Höherentwicklung der<br />
Gesellschaft betrachtet worden. Das ist nachträgliche Geschichtsbereinigung, die uns ein Zerrbild des<br />
Kaiserreiches und der Weimarer Republik vermittelt. Das Dritte Reich ist eine Konsequenz und kein<br />
Unfall. Um <strong>das</strong> zu erkennen, muß man richtig analysieren und sich vom Vulgärmaterialismus und<br />
einer kritiklosen Einordnung Deutschlands in ein allgemeingültiges globales Kapitalismusmodell<br />
befreien. Mit einem globalen Kapitalismusmodell, angewendet auf Deutschland, weiß man zum<br />
Schluß über nichts alles und über alles nichts.<br />
Dieses Buch wirbt für den Einstieg in ein Gesellschaftsmodell aus kulturellem Magma und erkalteter<br />
politischer Kruste, in ein ökonomisches Sedimentationsmodell verschiedener aufeinanderfolgender<br />
Gesellschaftsformationen zum systematischen Erkennen. Nur systematisches Erkennen ist eben<br />
Wissenschaft.<br />
Drei Bausteine der Machtergreifung?<br />
„Eine genaue Schilderung dessen zu geben, was nie passiert ist, ist die eigentliche Aufgabe des<br />
Historikers“, höhnte Oskar Wilde. „Nur wenig gibt es, <strong>das</strong> sich nicht mittels einer gedachten<br />
Geschichte darstellen lässt“, schrieb Hobbes in seinem „Leviathan“. Der populärste Erfinder und<br />
Propagandist einer gedachten Geschichte über Hitler war Sebastian Haffner. Er malte <strong>das</strong> Bild der<br />
Weimarer Republik mit dem Malkasten der frühen Bundesrepublik. Das erhöhte zwar die<br />
Verständlichkeit für die Leser, sie verstanden aber Unsinn. Das Ergebnis seiner historischen Diskurse<br />
verstellt den Blick auf die Spezifik der Zwischenkriegszeit.<br />
Die Ursachen für <strong>das</strong> Abrutschen in den Nationalsozialismus waren anscheinend so banal. "Die Not<br />
war der erste Grund, der Hitler die Massen zutrieb" schrieb Sebastian Haffner in seinem Rückblick<br />
"Von Bismarck zu Hitler". Den zweiten Grund sah er in einem plötzlich wiedererstarkten<br />
Nationalismus, und den dritten Grund in Hitlers Person selbst, dem größeren politischen Format,<br />
verglichen mit allen anderen, die damals auf der politischen Bühne standen.<br />
Wenn die Rezeptur für den Nationalsozialismus tatsächlich aus Not, Nationalismus und einem für<br />
seine abwegigen Zwecke talentierten Mann besteht, hätte es denn nicht ein bißchen weniger<br />
Tabubruch sein können, hätte es nicht ein Mussolini sein können, oder ein "aufgeklärter" Dutzend-<br />
Diktator, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren in Europa vorherrschend und der Brauch war?<br />
Nationalismus gab es zu dieser Zeit doch auch in Frankreich, in Rußland, in Jugoslawien, in Polen, in<br />
der Tschechoslowakei und in Italien. Not gab es während der Weltwirtschaftskrise fast überall. Warum<br />
überlebte die Demokratie in Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Australien, Kanada,<br />
Tschechien und Skandinavien? Nur weil der Mann fürs Grobe fehlte?<br />
In Saudi-Arabien beträgt <strong>das</strong> pro-Kopf-Einkommen ein Vielfaches des Einkommens von vielen<br />
anderen Ländern Arabiens und der Erde. Ebenso gehörte <strong>das</strong> Deutschland der Epoche von 1890 bis<br />
1945 nicht zu den Elendsgebieten Europas oder gar der Welt. Deutschland war um 1900 ein Land,<br />
<strong>das</strong> zunehmenden Wohlstand in allen Schichten zu verzeichnen hatte. Trotzdem zählen <strong>das</strong><br />
Deutschland um 1900 und <strong>das</strong> Saudi-Arabien um 2000 nicht zu den Ankern für den Weltfrieden, nicht<br />
zu den Oasen der Toleranz und nicht zu den Musterländern der Demokratie. Daß Wohlstand<br />
unmittelbar und automatisch bessere Gesellschaftszustände schafft, ist eben Unsinn, entspricht einer<br />
vulgär-mechanistischen Auffassung, nach der der Transfer von Talern in die Taschen der Werktätigen<br />
den Weg ins irdische Paradies ebnet. Wenn man betrachtet, wer ab 1930 NSDAP wählte, so kann<br />
man die Wohlstandskinder von 1900 nicht übersehen. Der Anteil der Arbeitslosen an Hitlers<br />
Anhängern wird dagegen überschätzt. Pointierend zugespitzt und provokativ könnte man die<br />
Hypothese aufstellen, daß die Kulturkrise der Jahrhundertwende und der aus ihr resultierende<br />
Nationalsozialismus mehr eine Wohlstands- und weitaus weniger eine Elendskrankheit war.<br />
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