Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Botschaft in Moskau zuflossen. Hierfür hatte sich der deutsche Botschafter in der Sowjetunion, Ulrich<br />
Graf von Brockdorff-Rantzau (1869-1928), "im Interesse der Ausgestaltung" der "kulturellen wie<br />
politischen Beziehungen" zur Sowjetunion persönlich eingesetzt. Eine finanzielle Unterstützung der<br />
nützlichen Rolle des Hygienikers für die deutsch-sowjetischen Beziehungen erscheine "gerade im<br />
gegenwärtigen Augenblick um so notwendiger (…) als von französischer Seite bereits von langer<br />
Hand vorbereitete Versuche unternommen" würden, die russische medizinische Welt unter<br />
französischen Einfluß zu bringen". 301<br />
Im Jahre 1932 verließ Heinz Zeiss die Sowjetunion, noch dorten war er 1931 der NSDAP beigetreten.<br />
Zu einer Zeit, als sich Mussolini und Stalin gegenseitig politische Tips gaben, war <strong>das</strong> kein Affront. Die<br />
Öffentlichkeit nahm die elitaristischen Diktaturen der zwanziger und dreißiger Jahre als eine<br />
aktivistische Einheit wahr, <strong>das</strong> große Schisma zwischen den Heilslehren wurde erst später verkündet.<br />
Zurück ins Jahr 1922. Rathenau stand vor der Option, sich für die Erlangung der englischen<br />
Unterstützung bei der langsamen Revision des Versailler Vertrags zu entscheiden, oder den Versuch<br />
zu wagen, die Alliierten durch den Abschluß eines Vertrages mit Rußland zu provozieren oder gar<br />
einen Erpressungsversuch zu wagen. Wenn ihr unsere Wünsche und Belange nicht akzeptiert, so<br />
verbünden wir uns eben mit Rußland, so lautete die politische Botschaft. Als außenpolitischer<br />
Wiedergänger Wilhelms I. entschied sich Rathenau nicht für geduldiges Verhandeln, sondern für die<br />
außenpolitische Provokation. Es war jedoch Kanonenbootpolitik ohne Kanonenboote; wo Wilhelm mit<br />
dem Säbel gerasselt hatte, hatte er noch einen gewissen Respekt abfordern können; nun handelte es<br />
sich um leere Drohungen, ohne über wirkliche Machtmittel zu gebieten.<br />
In Rapallo trafen sich Reichskanzler Wirth (mit Bauch), die russischen Kommissare Krassin (mit<br />
Spitzbart), Tschitscherin und Joffe (beide mit Spitzbart und Brille). Spitzbart, Bauch und Brille – <strong>das</strong> ist<br />
nicht des Volkes Wille.<br />
Zu Hause angekommen, verkauften Rathenau und sein unfähiger Chef, der Reichskanzler Wirth, den<br />
Vertragsabschluß als Erweiterung des deutschen Handlungsspielraums. Reichspräsident Ebert war<br />
eher Schüler August Bebels sowie Karl Marxens und insofern mehr der Westbindung Deutschlands<br />
zugeneigt. Der Reichspräsident war not amused, da man ihn bei der Entscheidung übergangen hatte.<br />
Gerade an dieser Episode wird deutlich, daß der SPD nicht immer und überall der schwarze Peter<br />
zugeschoben werden sollte. In der Rapallo-Frage wurde die SPD von ihren Koalitionspartnern "links<br />
überholt", besser: die Partner Rathenau und Wirth erinnerten sich eher an die Tage von Tauroggen<br />
und für Rathenau gilt darüber hinaus der Verdacht der reformatorischen Überzeugung: "Im Osten geht<br />
die Sonne auf".<br />
In alle Aktivitäten der Sondergruppe „R“ war der Reichspräsident nicht eingebunden. Erst im Juni 1921<br />
wurden Reichskanzler Wirth, Reichswehrminister Geßler und Ago von Maltzahn über die<br />
Rüstungsabsprachen der Reichswehr mit Sowjetrußland informiert. Im Sommer 1922 stellte der<br />
Außenminister Brockdorf-Rantzau fest, <strong>das</strong>s Ebert und die Parteiführer immer noch nichts wussten.<br />
Die Verschwörer wussten inzwischen offensichtlich ganz genau, wen sie einweihen konnten und wen<br />
nicht, wer die finsteren Pläne akzeptierte, und wer ihnen im Wege gestanden hätte, wenn, ja wenn er<br />
denn etwas gewusst hätte.<br />
Zwischen Kommissar Tschitscherin und Reichskanzler Wirth wurde nach dem Abschluß des Vertrags<br />
von Rapallo über die Wiederherstellung der gemeinsamen Grenze von 1914 gesprochen. General von<br />
Seeckt freute sich darüber und verfasste im September 1922 ein Memorandum mit folgendem Inhalt:<br />
„Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß<br />
verschwinden und wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Russland mit deutscher<br />
Hilfe.“ Bei den Verhandlungen mit der Roten Armee werde die deutsche Regierung natürlich offiziell<br />
ausgeschaltet bleiben, um internationale Konflikte zu vermeiden. 302<br />
Die diplomatische Katastrophe von Rapallo führte in <strong>das</strong> Abenteuer des Konflikts mit Frankreich und<br />
der spätere Außenminister Stresemann hatte jahrelang am zerschmissenen außenpolitischen<br />
Porzellan zu reparieren und zu kitten. England, <strong>das</strong> bis dato eine ausgleichende Rolle spielte, wurde<br />
für einige Zeit an die Seite Frankreichs zurückgedrängt, der französische Premier Poincaré verstand<br />
<strong>das</strong> Verhalten Rathenaus als Kriegerklärung für den Status Quo und drohte militärische Interventionen<br />
gegenüber Deutschland an, die früher als in Deutschland erwartet, auch zur Ausführung kamen. Der<br />
301 s.o.<br />
302 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 296 ff.<br />
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