Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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zwanziger Jahren wurde der Heimatstil populärer und in den Dreißigern hingen seine Gemälde auf<br />
Ausstellungen in der oberen Reihe, für seine literarischen Blut- und Boden-Romane wurden die<br />
Walzen der Druckmaschinen nicht müde umzulaufen.<br />
Eine innige Verbindung von Dekadenz und dem „modernen <strong>Menschen</strong>“ findet sich auch bei Hermann<br />
Hesse. Beim Niederschreiben des Erziehungsromans „Unterm Rad“ hielt es Hesse nur bis zur Seite 2<br />
aus, ohne sich als Nietzsche-Apologet zu outen. Kaum hatte er die Hauptpersonen, Hans Giebenrath<br />
als begabtes Kind und seinen Vater einigermaßen leidlich vorgestellt, so kam er bereits auf <strong>das</strong><br />
Unverhältnis einer kleinen Landstadt zum Elitarismus zu sprechen:<br />
„Ein modern geschulter Beobachter hätte, sich an die schwächliche Mutter und an <strong>das</strong> stattliche<br />
Alter der Familie sich erinnernd, von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden<br />
Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine Leute von dieser Sorte zu<br />
beherbergen, und nur die Jüngeren und Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten<br />
von der Existenz des „modernen <strong>Menschen</strong>“ durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde. Man<br />
konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden Zarathustras zu kennen;...“<br />
Die Dekadenz blühte im Rahmen der Kulturkrise der Jahrhundertwende weiter auf, in der<br />
Lebensreformbewegung die ebenfalls von dieser Krise angetrieben wurde, entwickelte sich fast<br />
gleichzeitig Widerspruch. In der 1896 gegründeten Zeitschrift „Jugend“ erschien 1898 ein Artikel,<br />
welcher die Überschrift „Anti-Fin de siècle“ trug und sich polemisch gegen die „Müdigkeitsbruderschaft<br />
der Dekadenten“ wandte. 49 Die Auseinandersetzung mit der Dekadenz wurde im Folgenden eine<br />
Konstante der Jugendbewegung. Die Kampfformen waren so heterodox wie diese Bewegung selber:<br />
Ausdruckstanz, Rassismus, Vegetarismus, Nudismus, Krieg, Sport, Euthanasie. Eine kurzlebige<br />
Variante war der Renaissancismus; <strong>das</strong> Theaterblut einer Reihe von Cesare-Borgia-Dramen<br />
überschwemmte die deutschen Bühnen, in den die Zuschauer an blutige Größe und wilde Schönheit<br />
gewöhnt wurden; in den Wohnzimmern der Bildungsbürgerschaft türmten sich Nachahmungen von<br />
italienischen Abgüssen.<br />
Reiterbroncen standen auf dem Rauchtisch im Herrenzimmer, auf dem Weg zur Toilette stolperte man<br />
über ebenerdige nackte Athleten des Franz von Stuck. Die Möbelhandwerker schufen aufwendige und<br />
überladene Renaissancefronten aus Furnier und Schnitzwerk, oft als Meisterstück.<br />
Die expressionistischen Künstler der sogenannten Moderne könnte man nach der Logik Adolf Hitlers<br />
als Erben der Dekadenz und Entartung auffassen. Das ist jedoch etwas zu einfach, da sich Dekadenz<br />
und Lebensphilosophie beeinflussten. Nicht nur die Dekadenz ging in <strong>das</strong> Denken Nietzsches ein, und<br />
wurde ausführlich reflektiert, sondern die Philosophie Nietzsches bestimmte auch <strong>das</strong> Denken und<br />
Handeln der Expressionisten. Insbesondere der Elitarismus, den es vor Nietzsche als Ästhetizismus<br />
bereits gab, wurde im dekadent-expressionistischen Milieu rezipiert und weiterentwickelt. Neben<br />
einem starken Hang zum Elitarismus war es besonders die weitverbreitete Manie, die tradierten Werte<br />
abzulehnen und bewusst umzuwerten, medienwirksame Tabubrüche zu begehen, selbst und gerade<br />
auch um den Preis nicht volkstümlich und massenwirksam zu sein.<br />
Der moderne Ästhetizismus begegnet uns bereits anläßlich der italienischen Reise des Geheimrats<br />
von Goethe.<br />
„Über die bildende Nachahmung des Schönen, unter diesem Titel ward ein Heft von kaum vier<br />
Bogen gedruckt, wozu Moritz <strong>das</strong> Manuskript nach Deutschland geschickt hatte, um seinen<br />
Verleger über den Vorschuß einer Reisebeschreibung nach Italien einigermaßen zu<br />
beschwichtigen“, so leitete Goethe <strong>das</strong> ideologisch heißeste Kapitel seines Buchs ein, nicht ohne<br />
zu erwähnen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Heftel aus Goethes Gesprächen mit Karl Philipp Moritz hervorgegangen sei<br />
und Moritz <strong>das</strong> Gesprochene nach seiner Art benutzt und ausgebildet habe. Wenns gut ist, ist´s<br />
von mir, wenn nicht, hat´s der Moritz schlecht ausgebildet. Das war so ein typischer Goethe. Moritz<br />
hielt den Kult des schaffenden Genius in folgenden Worten Goethes fest: „Der Horizont der<br />
bildenden Kraft aber muß bei dem bildenden Genie so weit wie die Natur selber sein: <strong>das</strong> heißt die<br />
Organisation muß so fein gewebt sein und so unendlich viele Berührungspunkte der<br />
allumströmenden Natur darbieten, <strong>das</strong>s gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen<br />
der Natur im großen, hier im kleinen sich nebeneinanderstellend, Raum genug haben, um sich<br />
einander nicht verdrängen zu lassen. (...) All die in der tätigen Kraft bloß dunkel geahndeten<br />
Verhältnisse jenes großen Ganzen müssen notwendig auf irgendeine Weise entweder sichtbar,<br />
49 Bengt Algot Sörensen: Geschichte der deutschen Literatur 2, Verlag C.H. Beck, 1997, S. 129<br />
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