15.11.2012 Aufrufe

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Lediglich ausserhalb Deutschlands, in Wien behauptete sich eine kleine liberale Gruppe von<br />

Wirtschaftsissenschaftlern um Carl Menger, Friedrich von Wieser und Eugen Böhm, Ritter von Bawerk<br />

als Österreichische Schule der Nationalökonomie. Sie erzeugte in Deutschland kein<br />

marktwirtschaftliches Echo und keinen demokratischen Widerhall. Carl Menger hielt die allgemeine<br />

Abkehr von Liberalismus, Freihandel und Kapitalismus für einen Weg ins Verderben und sah sich<br />

durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs darin bestätigt. Die mainstream-Intellektuellen der<br />

Fortschrittspartei und der aus ihr später hervorgehenden DDP sahen <strong>das</strong> Heil dagegen in<br />

Planwirtschaft, Protektionismus und Sozialismus.<br />

Nach der Umwandlung zur reformistischen Fortschrittspartei dominierten Beamte und<br />

Planwirtschaftler die Parteigremien. Zielgruppe der Wahlagitation waren vor allem Mittelständler wie<br />

Handwerker, Angestellte und Freiberufler. Nur ein Teil dieser Klientel stand wirklich auf dem Boden<br />

wirtschaftlichen Fortschritts: Der Reformist und Sozialpsychologe Willy Hellpach (DDP)<br />

charakterisierte den Handwerker so: Besonders sei der "nach Staatshilfe rufende, auf Ausbeutung<br />

jugendlicher Arbeitskraft angewiesene Handwerker, der sich nicht rechtzeitig auf den Boden des<br />

modernen Wirtschaftens zu retten wußte, einer der unerquicklichsten Niedergangstypen geworden."<br />

Genauso verspottete Willy Hellpach <strong>das</strong> halbgebildete und intellektuelle Reformmilieu, den "<strong>Neue</strong>n<br />

Mittelstand":<br />

"Wer es nicht sogleich glauben sollte, daß ein riesengroßer Teil dieser Leute nervös ist, der<br />

<strong>braucht</strong> nur die Mitgliederlisten der Naturheilvereine, der Kaltwassergesellschaften zu durchblättern<br />

oder beim Buchhändler sich zu erkundigen, von wem die Erzeugnisse der Kneipp, Bilz, Louis<br />

Kuhne am meisten gekauft werden. Die Gesundheitsfexerei hat ja in dieser Schicht ihren<br />

unerschöpflichen Wurzelboden." 82<br />

Zwei von vielen Bewegungen dieser reformistischen <strong>Neue</strong>n Mitte waren um die Jahrhundertwende die<br />

Deutsche Reformpartei und Friedrich Naumanns Nationalsozialer Verein. Beide werden hier nur<br />

deshalb gesondert erwähnt, da sie Lieferanten von zwei Ideen waren, die nach dem Weltkrieg<br />

Bedeutung gewinnen sollten: Der Idee, den Antisemitismus als antikapitalistische Keule in den<br />

Vordergrund oder ins Zentrum der politischen Theoriengebäude zu stellen sowie der Idee Nationales<br />

und Soziales miteinander zu verbinden und konsequent in ein Bindewort zu fassen.<br />

Die von August Bebel erwähnten verbeamteten Mittelstandskinder und die immer noch zahlreichen<br />

Handwerker und Landwirte waren den Industriellen zahlenmäßig hoch überlegen. Sie gaben den Ton<br />

an, spätestens seit 1910 auch bei den Mittelparteien, die ab diesem Zeitpunkt keine Liberalen mehr<br />

waren, sondern Reformisten.<br />

Die neue Aera zeigte sich in vielen Führungsfiguren. Der nationalsoziale Reformpolitiker Friedrich<br />

Naumann war kein Papst der Marktwirtschaft sondern tat sich als Chef-Ideologe des handwerkelnden<br />

Werkbundes hervor und wurde erster Vorsitzender der DDP. Der Architekt der neudeutschen<br />

Planwirtschaft Walter Rathenau wurde nach dem Krieg ebenfalls Mitglied dieser Partei.<br />

Der große Teil der Reformeliten war vor und nach dem ersten Weltkrieg parteipolitisch neutral oder<br />

stand den Parteien eher ablehnend gegenüber, da man sich selbst ja eben als Elite auffaßte und nicht<br />

als Teil einer wie immer gearteten Masse. Die Reformeliten waren und blieben überwiegend<br />

selbstgestrickt, sie waren oft zu sperrig, um sich vor Parteikarren zu spannen, oder hinter ihnen<br />

herzutraben. Sie standen in der Tradition des "Einzigen und seines Eigenthums" und dünkten sich als<br />

Prototypen des Übermenschen. Erst in den zwanziger Jahren drängten viele in die extremen<br />

Reformparteien NSDAP und KPD.<br />

Ein Vorkämpfer der 89´er Revolution flüsterte seinem Nachbarn nach einer Debatte im Dezember<br />

1989, bei der er mit der deutschen Einheit zum wiederholten Male Probleme gehabt hatte, zu:<br />

"Ein Drittel von uns Dissidenten waren Querulanten".<br />

Das traf auf die Reformeliten der Jahrhundertwende genauso zu.<br />

82 Udo Leuschner: "Nervosität und Kultur", Willy Hellpachs Sozialpsychologie in<br />

t-online.de/psychologie/hellpach1.htm<br />

69

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!