Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
selbst wurde im Nachhinein neu ausgedeutet: Der russische Bolschwismus sei bereits die Eröffnung<br />
eines allgemeinen Kriegs gegen Mammonismus und Imperialismus, und in erster Linie gegen den<br />
englischen Hyperimperialismus, gegen den der deutsche Imperialismus 1914<br />
vergeblich angetreten sei. Als Kampf gegen den außerordentlich mächtigen und selbstsicheren<br />
Imperialismus und Kapitalismus der Ententeländer wäre der Weltkrieg ein Kampf mit untauglichen<br />
Mitteln gewesen. 193 Die Rolle Deutschlands wurde nicht nur von Paquet, sondern von vielen<br />
ehemaligen Kriegstreibern umgekehrt dargestellt, als bei Kriegsbeginn. Vom uneingeschränkt<br />
idealistischen, antikapitalistischen Widerpart Englands zu einem materialistischen, kapitalistischen<br />
Nachahmer Englands. Diese nachträgliche Systemberichtigung war erforderlich, um die per Definition<br />
erklärte Sieghaftigkeit des Idealismus über den Mammonismus angesichts der deutschen Niederlage<br />
festzuhalten.<br />
Der Nietzsche-Leser wird sich an dieser Stelle an die Ausfälle des Meisters gegen <strong>das</strong> Deutsche<br />
erinnern:<br />
„Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur.“ 194<br />
„Alle großen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!...Die<br />
Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten grossen Zeit, der Renaissancezeit<br />
gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werthe, wo die vornehmen zum<br />
Leben ja sagenden, die Zukunft-verbürgenden Werthe am Sitz der entgegengesetzten, der<br />
Niedergangs-Werthe zum Siege gelangt waren – und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein!<br />
Luther, dieses Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, <strong>das</strong><br />
Christenthum wiederhergestellt, zum Augenblick, wo es unterlag... Das Christenthum, diese<br />
Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben!“ 195<br />
Genauso wie Nietzsche den Deutschen Luther verübelte, so die Freiheitskriege:<br />
„Die Deutschen haben endlich, als auf der Brücke zwischen zwei décadence-Jahrhunderten eine<br />
force majeure von Genie und Willen sichtbar wurde, stark genug aus Europa eine Einheit, eine<br />
politische und wirtschaftliche Einheit, zum Zwecke der Erdregierung zu schaffen, mit ihren<br />
Europa um den Sinn, um <strong>das</strong> Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon´s<br />
gebracht, - sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese<br />
culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt, den Nationalismus, diese névrose nationale,<br />
an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europa´s, der kleinen Politik: Sie<br />
haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie haben es in eine Sackgasse<br />
gebracht.“ 196<br />
Die Nietzschekenner unter den Intellektuellen konnten also Deutschlands Niederlage leichten Herzens<br />
verkraften, bewegte sich ihr Denken doch in keinem nationalen Gefängnis, sondern vom Anfang an im<br />
Wahn einer Weltherrschaft, die sich nun als Weltherrschaft des internationalen Proletariats offenbarte.<br />
Darum auch die zahlreichen Vergleiche, die Alfons Paquet zukünftig zwischen Napoleon und Karl<br />
Radek konstruieren sollte.<br />
Paquets Charakterisierung der Deutschen als „unaufrichtiges schielendes Gesindel, Sklavenmasse“<br />
könnte ebenfalls direkt durch Nietzsche inspiriert sein:<br />
„Der ist meine schlechte Luft: ich athme schwer in der Nähe dieser Instinkt<br />
gewordnen Unsauberkeit in psychologicis, die jedes Wort, jede Miene eines Deutschen verräth....<br />
Aber Psychologie ist beinahe der Maassstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse...<br />
Und wenn man nicht einmal reinlich ist, wie sollte man Tiefe haben? Man kommt beim Deutschen,<br />
beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen... Das erste, worauf hin ich mir<br />
einen <strong>Menschen</strong> , ist ob er ein Gefühl von Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang,<br />
Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distingiert: damit ist man gentilhomme;<br />
in jedem anderen Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! So gutmüthigen Begriff<br />
193 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 211<br />
194 F. Nietzsche, ecce homo, dtv München, 2005, S. 42<br />
195 s.o. S. 116f.<br />
196 s.o. S. 117<br />
133