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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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des Prozessualen anstelle der in sich ruhenden Form, Hang zum Mystizismus – all <strong>das</strong> schien die<br />

´deutsche Wesensart´ für den neuen Stil zu prädisponieren.“ 62<br />

Man weiß natürlich nicht, ob Hermann Hesse den Propheten kannte; er schilderte in „Klingsors letzter<br />

Sommer“ einen expressionistischen Schöpfungsprozeß:<br />

„...ein Antlitz wie eine Landschaft gemalt, Haare an Laub und Baumrinde erinnernd, Augenhöhlen<br />

wie Felsspalten – sie sagten, dies Bild erinnere in der Natur nur so wie mancher Bergrücken an ein<br />

Gesicht (...) In diesen rasend gespannten Tagen lebte Klingsor wie ein Ekstatiker. Nachts füllte er<br />

sich schwer mit Wein und stand dann, die Kerze in der Hand, vor dem alten Spiegel, betrachtete<br />

<strong>das</strong> Gesicht im Glas, <strong>das</strong> schwermütig grinsende Gesicht des Säufers. (...) Er hatte einen Traum,<br />

in dem sah er sich selbst, wie er gefoltert wurde, in die Augen wurden Nägel geschlagen, die Nase<br />

mit Haken aufgerissen; und er zeichnete <strong>das</strong> gefolterte Gesicht, mit den Nägeln in den Augen, mit<br />

Kohle auf einen Buchdeckel...“<br />

Der Expressionismus verfuhr nach der Parole „Viel Feind – viel Ehr“, er versuchte durch Provokation<br />

Aufmerksamkeit zu erregen, verschaffte sich dabei ein Heer von internen und externen Feinden und<br />

nur wenige Freunde. In die Ausstellungen zogen jene aus, die <strong>das</strong> Gruseln lernen wollten. Meidner<br />

kritisierte, <strong>das</strong>s die Brücke-Maler die Negerkunst favorisierten, was von den Gegenwartsthemen<br />

ablenke, Max Beckmann beklagte die „sentimentale Geschwulstmystik“, die Dadaisten bestritten den<br />

Anspruch der Expressionisten, Kunst zu schaffen, die die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt,<br />

Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ reihte die Expressionisten in die entartete Kunst<br />

ein, die „Linkskurve“ bezeichnete Kandinsky und Klee als darlings der Bourgeoisie und Alfred Kurella<br />

sah sie unter den Antreibern des Faschismus. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund<br />

dagegen bescheinigte ihnen „echten deutschen Charakter“. 63 Die kulturtheoretischen Fronten waren<br />

so verworren, wie die expressionistische Malerei selbst.<br />

Die Expressionisten waren, auch wenn sie sich zeitweise in Gruppen organisierten, Einzelgänger.<br />

1913 trennten sich die Wege der Brücke-Maler für immer. Nach dem verlorenen Weltkrieg sank die<br />

Produktivität von Kirchner, Pechstein, Nolde, Schmidt-Rottluff und Heckel erheblich, obwohl alle in den<br />

besten Jahren waren. Auch Beckmann, Meidner, Corinth, Barlach gerierten sich als ausgeprägte<br />

Individualisten mit einem Hang zur Exzentrik. Ludwig Rubiner fragte 1912 in der „Aktion“:<br />

„Wer sind die Kameraden? – Prostituierte, Dichter, Unterproletarier, Sammler von verlorenen<br />

Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös<br />

Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfraße, Pennbrüder, Einbrecher, Kritiker,<br />

Schlafsüchtige, Gesindel. Und für Momente alle Frauen dieser Welt. Wir sind der Auswurf, der<br />

Abhub, die Verachtung. Wir sind Arbeitslose, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen. Wir sind<br />

der heilige Mob.“<br />

Rubiner übertrieb die Bedeutung der Frauen; sie hatten im expressionistischen Zwergenhaus<br />

allgemein die Aufgaben, welche seinerzeit Schneewittchen wahrgenommen hatte, zuzüglich die des<br />

Modellsitzens. Auf der anderen Seite untertrieb er ein wenig; unter den Kameraden waren auch<br />

mehrere Rauschgiftsüchtige, überzeugte Rassisten und Antisemiten sowie ein Mörder.<br />

Dem zeitgenössischen intellektuellen Glauben an die reinigende Kraft des Bluts geschuldet, ist die<br />

hohe Zahl an Kriegsfreiwilligen unter den Expressionisten: Franz Marc, Oskar Kokoschka, Ernst<br />

Ludwig Kirchner, Erich Heckel, George Grosz, Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Max Ernst, Otto<br />

Dix, der im expressionistischen Marktsegment führende Kunsthändler Paul Cassierer und Max<br />

Beckmann. Letzterer erklärte seine Entscheidung ästhetizistisch: er würde sich „durch sämtliche<br />

Kloaken der Welt, durch sämtliche Erniedrigungen und Schändungen hindurchwinden, um zu malen.<br />

Ich muß <strong>das</strong>.“ Im April 1915 schrieb der Sanitäter Beckmann seiner Frau, <strong>das</strong>s der Krieg seiner Kunst<br />

zu fressen gäbe. Im Sommer desselben Jahres spalteten sich Ideologie und Realität, ihm wurde<br />

endlich schlecht und er brach zusammen. Dix dagegen hielt durch und wurde mit dem Eisernen Kreuz<br />

dekoriert.<br />

62 s.o. S. 7<br />

63 Norbert Wolf: Expressionismus, Taschen, Köln, S. 22 ff<br />

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