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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Die Revolution von 1918 erscheint ab der dritten Novemberwoche in einem anderen Licht; ab da war<br />

sie eine reaktionäre Revolte gegen die parlamentarische Demokratie und gegen die Angleichung der<br />

deutschen Verhältnisse an den fortgeschritteneren Westen. Es war eine reaktionäre Bewegung vor<br />

allem derer, die den Ersten Weltkrieg herbeigesehnt, herbeigedichtet, herbeigemalt, herbeigebaut,<br />

herbeigeschrieben, herbeigeschossen und herbeigeredet hatten. Man kann fast von einem<br />

Revanchistentreffen sprechen, wenn man von den Arbeiter- und Soldatenräten der ersten zwei<br />

Wochen einmal absieht. Die Soldaten waren Mitte November bei ihren Familien zu Hause oder auf<br />

dem Wege dorthin. Übrig blieben die Münchner Bohéme, zum Beispiel der ewige Junggeselle Adolf<br />

Hitler, einige Berufsrevolutionäre wie Karl Liebknecht, der faschistoide „Rat geistiger Arbeiter“, die<br />

Freichors und die Funktionäre von USPD und KPD. Um den Idealismus als Gegenbild zum angloamerikanischen<br />

Kapitalismus über die deutsche Niederlage zu retten, wurde Rußland von einem Teil<br />

der Intellektuellen als letzte siegreiche Bastion des Antikapitalismus und Idealismus erkannt und zum<br />

Leitbild erwählt, die anderen bereiteten den Zweiten Weltkrieg vor, um die Siegwürdigkeit der<br />

Deutschen Ideologie ein zweites Mal zu testen.<br />

Begriffe wie Kapitalismus, Bürgertum, Faschismus, Sozialismus und Marxismus werden im<br />

allgemeinen Sprachgebrauch, in der Publizistik, ja selbst in der Geschichtswissenschaft sehr unscharf<br />

definiert. Die peinlichsten Erklärungsversuche entstehen z.B. durch die gedankenlose Anwendung<br />

eines metaphysischen Begriff des "Kapitalismus", wo England, die USA, Deutschland, Frankreich,<br />

Italien, Skandinavien, <strong>das</strong> vorrevolutionäre Russland, <strong>das</strong> Venedig des 17. Jahrhunderts und vielleicht<br />

sogar der nahe und ferne Osten über einen gemeinsamen kapitalistischen Leisten geschlagen<br />

werden. Eine abstruse Konsequenz dieser schwammigen grundungenauen Begrifflichkeiten war der<br />

sozialdemokratische Kinderglaube, die industriellen Verbandsmonster der Weimarer Republik<br />

demokratisieren, politisieren und auf diesen wilden ökonomischen Tigern unfallfrei durch die Pforten<br />

des demokratischen Sozialismus reiten zu können.<br />

Die intellektuellen Schwierigkeiten können leicht gelöst werden, wenn die internationalen<br />

Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung und -verfassung zum Vergleich herausgestellt werden, die<br />

für die objektive Entwicklung der Volkswirtschaften wie die Eigenwahrnehmung der Bewohner<br />

verschiedener Staaten entscheidend waren. Wenn man <strong>das</strong> alte und <strong>das</strong> neue Deutschland verstehen<br />

will, so muß man den unbändigen Drang zu wirtschaftlichen Korporationen als Rückgriff auf die Kultur<br />

der Zünfte erkennen. Der Gedanke dieser durch Verbände repräsentierten Wirtschaft ist in<br />

Deutschland und Italien noch heute so lebendig wie in fast keinem anderen europäischen Staat, und<br />

<strong>das</strong> war von 1890 bis 1945 noch stärker ausgeprägt als heute. Der korporatistische Zunftgeist wurde<br />

zum Leitbild erhoben und weitgehend aufrechterhalten, und wo er der Zeit nicht standgehalten hatte,<br />

nach der Machtübernahme Mussolinis und Hitlers rekonstruiert.<br />

Das Überstülpen der Klassenstruktur aus dem Kommunistischen Manifest auf die Weimarer<br />

Verhältnisse war, soweit es denn überhaupt stattfand, sehr weit hergeholt, hatte teilweise abstruse<br />

Fehleinschätzungen zur Folge: Die "<strong>Neue</strong>n Blätter für den Sozialismus" behaupteten ebenso wie die<br />

"Rote Fahne", daß jüdische Zeitungsverleger mit deklassierten nationalsozialistischen Kleinbürgern<br />

gemeinsame Sache gegen die revolutionäre Arbeiterklasse machen würden. In Wirklichkeit paktierte<br />

die KPD mit der NSDAP gelegentlich, zum Beispiel beim Hitler-Stalin-Pakt.<br />

Die marxistische Klassenanalyse war für ein Land der Zunftler und der Stände nicht gemacht worden<br />

und Karl Marx hatte sie auf Preußen, geschweige denn auf Deutschland seit den 50er Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts nicht mehr angewendet, weil er wusste, daß sie auf ein weitgehend vorbürgerliches<br />

Land, auf ein Land mit weitgehend korporatistischen Strukturen und Träumen nicht paßt.<br />

Es ist an der Zeit, zum Ausgangspunkt der Analyse des Entstehens des Nationalsozialismus eine<br />

Betrachtung elitaristischer Grundstömungen und korporatistischer Rückerinnerungen zu machen, statt<br />

den „Faschismus“ als Sieg des Monopolkapitals über die Arbeiterklasse zu werten oder als<br />

Auswirkung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus im allgemeinen. Genauso falsch ist es, den Sieg des<br />

Nationalsozialismus als Déja-vu des Kaiserreichs zu erkennen. Er ist ein Erfolg der elitaristischen<br />

Jugendbewegung, die sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ungestört ausbreiten konnte,<br />

die kulturellen Fundamente des Staats unterwühlen konnte, ohne vor 1933 jedoch die totale politische<br />

Macht zu erobern.<br />

Es ist ein Paradigmenwechsel bei der ökonomischen Analyse Deutschlands erforderlich. Für <strong>das</strong><br />

Deutschland in der Epoche des Imperialismus ist selbst die Wirtschaftstheorie der Historischen Schule<br />

zielführender beim Rätsellösen, als die des Kapitalismus der freien Konkurrenz. Viele Erscheinungen<br />

des deutschen Wirtschaftslebens und der Wirtschaftsverfassung lassen sich mit einem geologischen<br />

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