17.11.2012 Aufrufe

Schana Tova - Abraham Geiger Kolleg

Schana Tova - Abraham Geiger Kolleg

Schana Tova - Abraham Geiger Kolleg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Essay<br />

Wir sind alle Reformer<br />

Im Judentum hat Erneuerung Tradition<br />

von Primar Dr. Theodor Much<br />

Der Bruderzwist unter Juden um die Notwendigkeit<br />

von religiösen Reformen im Judentum,<br />

erhitzt die Gemüter seit jeher. Besonders<br />

intensiv wird diese Frage seit rund 200 Jahren<br />

(als Folge des Aufkommens der Reformbewegung<br />

in Deutschland) diskutiert und je nach<br />

Standpunkt der Diskutierenden äußerst unterschiedlich,<br />

ja teilweise konträr bewertet.<br />

Während (ultra)orthodoxe Juden (und in ihrem<br />

Sog auch viele in religiösen Fragen indifferente,<br />

säkulare Juden), die Notwendigkeit von<br />

religiösen Reformen völlig negieren, sie als<br />

„unnötig, schädlich und gefährlich” ansehen<br />

und sich dabei auf das Dogma von der „Torah<br />

min haschamaim” berufen („Moses erhielt alle<br />

Gebote – selbst die mündliche Überlieferung<br />

– direkt von Gott am Sinai”: „für Änderungen<br />

ist daher kein Platz”), sind religiöse Juden,<br />

die sich nicht als orthodox verstehen (sondern<br />

als konservativ oder progressiv), naturgemäß<br />

anderer Meinung.<br />

Für Gegner jeder Reform existiert im Allgemeinen<br />

nur „ein einziges authentisches<br />

Judentum”, ein Judentum, das „von <strong>Abraham</strong><br />

über Moses bis zum heutigen Tag unverfälscht,<br />

von Generation zu Generation weitergereicht<br />

wurde”: nämlich die „Orthodoxie.”<br />

Wer so denkt, argumentiert, „dass religiöse<br />

Reformen im Judentum überflüssig und gefährlich<br />

seien, weil nach Entfernung einzelner<br />

Bausteine, das Gesamtgebäude früher oder<br />

später zum Einsturz gebracht wird und die Assimilation<br />

dann nicht mehr zu verhindern sei.”<br />

In den Augen nichtorthodox-religiöser Juden ist<br />

diese Argumentationslinie falsch, auch weil sie<br />

geschichtliche Entwicklungen und Realitäten<br />

der jüdischen Welt nicht zu Kenntnis nimmt.<br />

Denn keiner, der sich mit der Geschichte des<br />

Judentums ernsthaft auseinandersetzt, wird<br />

bestreiten, dass das gesamte heutige Judentum<br />

in all seinen Aspekten sich sehr wesentlich<br />

vom Judentum des Mittelalters unterscheidet,<br />

und letzteres wiederum ist ein völlig anders<br />

Judentum als das weiter zurückliegender<br />

Epochen.<br />

Gäbe es so etwas wie Zeitreisen, dann würde<br />

ein Zeitgenosse von Moses, der eine solche<br />

Reise antritt, sich weder im mittelalterlichen,<br />

geschweige denn im heutigen Judentum,<br />

zurechtfinden. Unser Zeitreisender würde alle<br />

heutigen Juden als „Reformer und Dissidenten”<br />

sehen und (wahrscheinlich) verdammen. Das<br />

Wort „Reform” bedeutet laut allgemeiner<br />

Übereinkunft eine Umgestaltung bestehender<br />

Verhältnisse, eine Verbesserung ohne Gewalteinwirkung<br />

(im Gegensatz zur Revolution). Reformen<br />

im Sinne dieser Definition gab es – wie<br />

im Folgenden gezeigt werden soll – zu allen<br />

Zeiten im Judentum, auch wenn eine jüdische<br />

Reformbewegung im engeren Sinne erst seit<br />

rund 200 Jahren existiert.<br />

Beispiele für solche Neuerungen und Verbesserungen<br />

im Judentum gibt es viele, und es<br />

erstaunt mich immer wieder, wie vielen Menschen<br />

diese einfache Tatsache nicht bewußt<br />

ist.<br />

Schon im 5. Buch Moses kann der Bericht von<br />

den Töchtern des Zelofchads gelesen werden.<br />

Dort wird erzählt, dass Frauen, deren Vater<br />

ohne männliche Erben verstorben war, von Moses<br />

das Recht auf Erbschaft forderten. Moses,<br />

der keine sofortige Antwort auf das Problem<br />

wusste, zog sich zurück um mit Gott darüber zu<br />

beraten, um erst danach die Entscheidung zu<br />

treffen, dass auch Frauen erben dürfen. Diese<br />

Episode zeigt deutlich, daß Moses nicht alle<br />

Gesetze am Sinai von Gott erhielt und selbst er,<br />

um bestehende Ungerechtigkeiten auszumerzen,<br />

es für legal hielt, Reformen einzuführen.<br />

Doch auch viele andere biblisch fixierte Gesetze<br />

wurden von unseren Vorfahren im Sinne<br />

von Tikkun Olam, Verbesserung der Welt,<br />

außer Kraft gesetzt. Denken wir an die biblischen<br />

Kapitalstrafen für bestimmte Vergehen,<br />

Verbot der Bitterwasserprobe bei Verdacht<br />

auf Ehebruch, den Schuldenerlaß im 7. Jahr<br />

(durch Hillel), die Schwagerehe, Gesetze im<br />

Zusammenhang mit Sklaverei, die Abschaffung<br />

der Polygamie, dem Aussetzen der Opfergesetze<br />

und Reinheitsgebote und sehr vieles<br />

mehr. Selbst die Frommsten der Frommen im<br />

Judentum (Selbstbezeichnung: „Thoratreue”)<br />

sind daher heute nicht mehr in der Lage diesen<br />

Gesetzen zu folgen! Auch die Gebetsliturgie<br />

wurde immer wieder weiter entwickelt und<br />

teilweise erneuert.<br />

So wurden unter anderem Piutim (die synagogale<br />

Poesie) eingeführt, und es entstanden<br />

auch – stets gegen den Widerstand der Traditionalisten<br />

– manche neuen Gebete (wie das Kol<br />

Nidre und selbst von manchen orthodoxen Synagogen<br />

wurde ein Brauch der Reformer – die<br />

Predigt des Rabbiners – übernommen. Auch<br />

die Bat Mizwa-Feier und der Talmud-Tora-Unterricht<br />

für Mädchen in einzelnen orthodoxen<br />

Synagogen, sind Neuerungen im Sinne der<br />

Reformbewegung. Vielen Menschen ist auch<br />

nicht bewußt, dass alte, heute selbstverständliche<br />

Sitten wie das Tragen der Kippa und die<br />

Tradition der materilinearen Abstammungslinie<br />

im Judentum in biblischer Zeit noch unbekannt<br />

waren, also ebenfalls Neuerungen sind.<br />

Reformen im Judentum sind daher nicht eine<br />

„Erfindung” der Reformjuden, sondern notwendige<br />

Selbstverständlichkeiten, die aber<br />

heute von manchen jüdischen Gruppierungen<br />

hartnäckig geleugnet und abgelehnt werden.<br />

Man darf daher mit Gewissheit behaupten,<br />

dass ein Judentum ohne Neuerungen nicht bis<br />

heute überlebt hätte, dass also Reformen für<br />

17<br />

9. Jahrgang | Ausgabe 1<br />

das Weiterbestehen des Judentums eine Notwendigkeit<br />

waren und immer noch sind. Und<br />

wer sich heute Gedanken über das Wunder des<br />

Überlebens des Judentums macht, sollte die<br />

Flexibilität unserer Vorfahren, die Bereitschaft<br />

zu Neuerungen im Sinne von Tikkun Olam als<br />

ein wesentliches Element der Überlebensstrategie<br />

des Judentums nicht geringschätzen.<br />

Solche Reformen dürfen aber nie nach Lust und<br />

Laune (oder aus Bequemlichkeit) durchgeführt<br />

werden, sondern nur von hochqualifizierten<br />

Gelehrten – und soweit wie möglich im Rahmen<br />

der Halacha – ausdiskutiert und eingeleitet<br />

werden. Ein solches Institut, das sich auf<br />

allerhöchstem Niveau mit all diesen Fragen<br />

beschäftigt und Responsen zu allen relevanten<br />

Themen veröffentlicht, ist das Freehof-Institut<br />

für progressive Halacha (Direktor: Rabbiner<br />

Moshe Zemer) in Tel Aviv. Eine logische Folge<br />

all dieser beschriebenen Entwicklungen im<br />

Judentum ist daher die, daß sämtliche heute<br />

lebenden Juden ein Judentum der Reformen<br />

leben, selbst wenn diese Tatsache nicht<br />

allen gefällt. Eine Stagnation durch völlige<br />

Reformverweigerung führt daher das Judentum<br />

unweigerlich in eine gefährliche Sackgasse,<br />

wo die Kluft zwischen der modernen jüdischen<br />

Realität und einem Wunschdenken fundamentalistischer<br />

Gruppierungen immer größer wird<br />

und sich in heftigen Bruderkämpfen entlädt.<br />

Progressive und konservative Juden in aller<br />

Welt sehen daher die Auseinandersetzung mit<br />

dieser gefährlichen Stagnation als eine ihrer<br />

Hauptaufgaben an, um ein Judentum leben<br />

zu können, das bei aller Liebe zur Tradition<br />

auch gesellschaftliche Entwicklungen wie die<br />

Gleichstellung der Frauen berücksichtigt und<br />

das Ungerechtigkeiten (besonders im traditionellen<br />

Ehe- und Scheidungsgesetz) beseitigt<br />

beziehungsweise imstande ist, auf brennende<br />

innerjüdischer Probleme (dazu zählen auch die<br />

Konversion zum Judentum und die vielen interreligiösen<br />

Ehen) vernünftige und praktikable<br />

Antworten zu geben vermag.<br />

Pavel Feinstein: „Sukkot“, 1997 Öl auf Leinwand

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!