Schana Tova - Abraham Geiger Kolleg
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Lieberales Erbe<br />
Lily Montagu:<br />
Die erste Frau auf einer deutschen Bima<br />
von Hartmut G. Bomhoff<br />
Als am 19. August 1928 mit Hon. Lily H. Montagu<br />
(1873–1963) erstmals in Deutschland eine<br />
Frau im öffentlichen Gottesdienst auftrat, so<br />
war das eine Sensation. „Halb Äbtissin, halb<br />
Heilsarmee, denkt Dein rebellisches Herz“,<br />
resümierte Dr. Bertha Badt-Strauss, die als<br />
promovierte Germanistin seinerzeit selbst eine<br />
Pionierin war, nach der Drascha, die Montagu<br />
von der Kanzel der Jüdischen Reform-Gemeinde<br />
in der Johannisstraße hielt. „Und doch<br />
fühlst du, diese Frau ist ganz einsam, ganz in<br />
sich versunken, ganz allein mit ihrem Gott.“<br />
Die Bankierstochter und Sozialarbeiterin zählte<br />
damals längst zu den tatkräftigen Vordenkern<br />
des liberalen Judentums und war 1926<br />
Wegbereiterin bei der Gründung der World<br />
Union for Progressive Judaism gewesen, der<br />
sie von 1954-1959 als Präsidentin vorstehen<br />
sollte. In Berlin sprach sie auf Deutsch über<br />
die Beziehungen der persönlichen Religion zur<br />
Gemeinschaftsreligion. Hier einige Auszüge:<br />
„Die Beziehungen zwischen dem Menschen und<br />
seinem Gott sind so heiliger Natur, dass wir es<br />
nicht oft unternehmen, sie zum Gegenstand<br />
einer Kanzelrede zu machen. (…) Die religiöse<br />
Gemeinschaft, der wir angehören, beeinflusst<br />
unsere Ansichten und gibt unsere Religion das<br />
Charakteristische: sie macht sie in der Tat zu<br />
dem, was sie ist. (…) Unsere Väter lehrten, das<br />
ein rechtschaffenes Leben zu Gott führt. Wenn<br />
unsere Leben ein jüdisches Leben sein soll, so<br />
genügt es nicht zu sagen, dass wir theoretisch<br />
an Rechtschaffenheit, Wahrheit, Liebe und<br />
Schönheit glauben. Wir müssen dieses Glaubensbekenntnis<br />
auch in unserem Lebenswandel<br />
zum Ausdruck bringen. (…) Weil uns die Lehre<br />
der Einheit Gottes überliefert worden ist, fühlen<br />
wir heute, dass das ganze Leben: Körper, Seele<br />
und Gemüt, geheiligt werden soll; denn der<br />
Ausdruck Seines Selbst ist die Schöpfung. (…)<br />
Gemeinschaftsreligion hat teil an der Entwicklung<br />
der persönlichen Religion. Sie ist die<br />
Substanz, welche, welche der persönlichen<br />
Religion eingeimpft ist, doch der Vorgang dieser<br />
Impfung muss ein individueller sein. Jede<br />
menschliche Seele muss durch Denken, Gebete<br />
und Studium ihre eigene Religion kultivieren.<br />
Wir Juden erschaffen – jeder für sich – aus den<br />
Überlieferungen des Judentums eine lebendige<br />
Tradition. Wir müssen jedoch die Lehren, die<br />
uns überliefert wurden, durchdenken und<br />
anwenden. Im Gebet finden wir die Hilfe, die wir<br />
suchen, im Gebet, das uns mit Gott verbindet.<br />
Wir müssen studieren, lesen und mit der Zeit,<br />
die dieses Studium verlangt, nicht geizen. Wir<br />
müssen versuchen, eine religiöse Lebensanschauung<br />
zu gewinnen, zu denken als sowohl<br />
als zu beten. (…) Wir müssen uns die Frage<br />
stellen: Leben wir so, dass wir uns der Gegenwart<br />
Gottes bewusst sind, und dass wir täglich<br />
etwas von seiner liebe zum Ausdruck bringen?<br />
(…) Es folgt daraus, dass, wenn wir ganz<br />
leben wollen, wir dafür Sorge tragen müssen,<br />
unser Leben mit dem Göttlichen in Fühlung zu<br />
bringen. (…) In der Tat ist durch die Beziehung<br />
zu Gott die Idee der Ewigkeit im menschlichen<br />
Herzen zuerst erwacht, und jeder von uns<br />
kann durch Gebet und Andacht den Höhepunkt<br />
des persönlichen Glaubens erreichen. Dann<br />
werden wir fühlen, dass wir ewig leben, wenn<br />
wir lieben; dann werden wir wissen, dass das<br />
Suchen nach Wahrheit uns zu einem Dienst ruft,<br />
der immer währen muss. Danken wir Gott, dass<br />
wir Männer und Frauen erfahren dürfen, was<br />
Liebe ist, und was das Suchen nach Wahrheit<br />
bedeutet. Danken wir Gott, dass unser Ende in<br />
Ihm allein ruht.“<br />
5<br />
9. Jahrgang | Ausgabe 1<br />
Grußwort<br />
von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse<br />
zum Jüdischen Neujahrsfest 5764<br />
Am Ende eines Jahres<br />
zieht man Bilanz: Was war<br />
gut? Was war schlecht?<br />
Zu den Enttäuschungen<br />
des Jahres gehört, dass<br />
der Friedensprozess<br />
im Nahen Osten keine<br />
Fortschritte gebracht hat.<br />
Wiederholt sah es zwar<br />
danach aus, dass – endlich – die Spirale von<br />
Hass und Gewalt durchbrochen werden könnte.<br />
Doch die Hoffnung, dass eine politische<br />
Lösung zustande kommt, die den Menschen<br />
Sicherheit und Frieden bringt, nehmen wir<br />
unerfüllt mit ins neue Jahr.<br />
Genauso bitter: Antisemitismus und rechtsextreme<br />
Gewalt sind hierzulande nicht gebrochen.<br />
Auch im abgelaufenen Jahr wurden wieder jüdische<br />
Friedhöfe geschändet, waren Juden Ziel<br />
antisemitischer Schmähungen und Opfer von<br />
Gewalt. Die Tatsache, dass jüdische Einrichtungen<br />
in Deutschland unter Polizeischutz stehen<br />
müssen, sagt alles: Juden in Deutschland können<br />
sich nicht – noch immer nicht! – wirklich<br />
sicher und respektiert fühlen. Das wird erst<br />
dann der fall sein, wenn in dieser Gesellschaft<br />
ein Klima herrscht, in dem Hass und Intoleranz<br />
keinerlei Platz mehr haben. Dass mehr, noch<br />
viel mehr Menschen gemeinsam für dieses Ziel<br />
arbeiten, ist mein Wunsch für das neue Jahr.<br />
Im abgelaufenen Jahr können wir aber auch<br />
Positives registrieren: Ein Ereignis von historischer<br />
Bedeutung war die Unterzeichnung des<br />
Staatsvertrages zwischen dem Zentralrat der<br />
Juden in Deutschland und der Bundesregierung<br />
am 27. Januar, dem Tag der Erinnerung an die<br />
Opfer des Nationalsozialismus. Dieser Vertrag,<br />
dem der Deutsche Bundestag einstimmig<br />
zugestimmt hat, ist Zeichen des Vertrauens der<br />
jüdischen Gemeinschaft in die deutsche Gesellschaft<br />
und Demokratie. Gerade in Deutschland,<br />
wo der Völkermord an den europäischen<br />
Juden mit verbrecherischer Systematik geplant<br />
und ausgeführt worden ist, wird aktives<br />
jüdisches Leben damit nicht nur anerkannt,<br />
sondern gefördert. Nach dem Holocaust war<br />
nicht daran zu denken, dass jemals wieder<br />
jüdisches Leben in Deutschland möglich sein<br />
könnte. Heute erlebt das jüdische Leben eine<br />
erfreuliche, ja wunderbare Renaissance bei<br />
uns. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland<br />
bilden inzwischen die drittgrößte Gemeinschaft<br />
in Europa. Das ist eine hoffnungsvolle<br />
Entwicklung, die jede Unterstützung verdient.<br />
In diesem Sinne: Möge auch im neuen Jahr<br />
religiöses und kulturelles jüdisches Leben in<br />
Deutschland viel Ermutigung finden.<br />
Ich wünsche Ihnen allen ein friedliches,<br />
gesundes, gutes neues Jahr 5764.