Teruko Yokoi Mond · Sonne · Jahreszeiten · - Wolfsberg
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Im Widerschein der Zeichen<br />
Therese Bhattacharya-Stettler<br />
«Gedichte sind Bilder, Bilder sind Gedichte», heisst es sinngemäss in einem<br />
frühen japanischen Text. Wenn <strong>Teruko</strong> <strong>Yokoi</strong> diesen Ausspruch variiert, indem<br />
sie darlegt: «Meine Bilder sind in Farbe geschriebene Gedichte zu vier Jahres -<br />
zeiten» 1 , so umschreibt sie damit ihr künstlerisches Credo. Das Wort, die Literatur<br />
sind ihr seit jeher ausgesprochen wichtige Wegbegleiter. Sie hält selbst<br />
regelmässig ihre Gedanken schriftlich fest und fügt zuweilen Worte in gemalte<br />
Werke ein.<br />
Ihr Vater, von dem sie die frühesten Impulse entgegengenommen hat,<br />
war Vorsteher einer Grundschule; er war aber auch ein Verfasser von Haikus,<br />
jene mit ihren nur 17 Silben kürzeste Gedichtform der Welt. Er war ein Buchliebhaber<br />
und vor allem auch ein Kalligraf – ein Vertreter jener meditativen<br />
fernöstlichen Schriftkultur, für die die ästhetische Ausgewogenheit und das<br />
Sichtbarmachen von Emotionen weit wichtiger sind als die reine objektive<br />
Lesbarkeit. Wesentliche Bestandteile des Schreibprozesses sind für die Kalligrafie<br />
die Tusche – die mit dem Reibstein angerieben wird –, der Pinsel und<br />
das Papier. Es sind Werkzeuge, die auch für <strong>Teruko</strong> unentbehrliche Inspi ration<br />
bedeuten. Schreiben und Malen sind in Japan ohnehin aufs Engs te verwandt,<br />
beide äussern dieselbe poetische Weltsicht. Im Schaffen der Tochter<br />
kam jedoch als wichtigstes Element die Farbe hinzu, die – vergleichbar mit<br />
der kalligrafischen Abbreviatur – ebenfalls Zeichen sinnlicher Wahrnehmung<br />
kondensiert. <strong>Teruko</strong> <strong>Yokoi</strong> entwickelte über viele Jahre ihren persönlichen<br />
Stil und machte die Farben und den Rhythmus der Natur mit ihren <strong>Jahreszeiten</strong><br />
zu ihrem Hauptmotiv.<br />
Erfüllt ihre Kunst auch die Definition von Malerei als Ars pingendi<br />
gemäss dem Frührenaissancekünstler Piero della Francesca, wonach diese<br />
‹nichts als die Darstellung von Flächen und Körpern ist, welche je nach ihrer<br />
Lage immer kleiner oder grösser werden›, bereichert sie sie dennoch um ein<br />
wesentliches Element: das Zeichenhafte.<br />
Der französische Philosoph und Mitbegründer des Poststrukturalismus<br />
Roland Barthes beschrieb 1970 in seinem hervorragenden Essay L’empire des<br />
signes 2 seine persönlichen Erfahrungen mit der geheimnisvollen Welt der<br />
Symbole im Land der aufgehenden <strong>Sonne</strong> und formulierte die Eigenheiten,<br />
die die Begegnung mit sprachlichen und bildhaften Zeichen und die Erkenntnis<br />
von deren ‹Leere› mit sich bringen. Er war der Meinung, dass die treffende<br />
Kürze und Einfachheit des Haikus bei aller Klarheit doch vor allem dem<br />
Code der Gefühle, der ‹poetischen Empfindung›, zuzuordnen sei.<br />
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