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S-Bahn-Krimi Berlin - S-Bahn-Tisch

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S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Krimi</strong> <strong>Berlin</strong><br />

extra<br />

4 Euro // Lunapark21 Extra06 > Frühjahr 2012


LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />

gemeinsam mit dem <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, dem Ortsverband der <strong>Berlin</strong>er<br />

Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), dem Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle<br />

und dem Landesverband <strong>Berlin</strong>-Brandenburg von PRO BAHN gibt die<br />

Redaktion von Lunapark21 dieses Extra heraus. Wir wollen damit Mut<br />

machen und Argumente liefern, damit sich möglichst viele Menschen<br />

engagieren und mithelfen, die unhaltbaren Zustände bei der <strong>Berlin</strong>er<br />

S-<strong>Bahn</strong> zu beenden...<br />

Warum kneift mich niemand, warum wache ich nicht einfach auf?<br />

Warum kommt kein Show-down und beim Abspann weiß ich, dass es nur<br />

ein schlechter Film war?<br />

S-<strong>Bahn</strong> fahren in der Filmstadt <strong>Berlin</strong>, arbeiten im „Desaster-System“ S-<br />

<strong>Bahn</strong>. Pleiten, Pech und Pannen als zwangsläufiges Ergebnis eines Fahrens<br />

auf Verschleiß. Die Strategen der <strong>Bahn</strong>privatisierung schrieben das Drehbuch:<br />

Entlassung von Personal, Streckung der Wartungsintervalle, Vernachlässigung<br />

der Infrastuktur, Einfrieren dringend notwendiger Investitionen…<br />

Die Gentlemen bitten zur Kasse, Mord im Orientexpress, Stranger on a Train.<br />

Hunderte Filme spielen in oder an Zügen mit der Faszination der Eisenbahn.<br />

Die lange Anfangsszene in Spiel mir das Lied vom Tod könnte sich<br />

in die Länge ziehen, würde der Film heute an einem beliebigen <strong>Berlin</strong>er<br />

S-<strong>Bahn</strong>hof gedreht.<br />

Ich habe mich durch Hunderte Plakate von Filmen gearbeitet, in denen<br />

Eisenbahnen eine wichtige Rolle spielen. Mit mehr oder weniger montierenden Eingriffen strickte ich aus einigen davon fiktive<br />

Plakate von fiktiven Filmen über die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> (Originale: siehe unten). Ein echter <strong>Krimi</strong> wäre noch zu drehen, ein Wirtschaftskrimi,<br />

in dessen Abspann nicht darauf hingewiesen werden müsste, dass die handelnden Personen frei erfunden und jede<br />

Ähnlichkeit mit lebenden Menschen zufällig und nicht beabsichtigt seien:<br />

„Der gesamte Vorgang (der S-<strong>Bahn</strong>-Krise) hat für mich längst die Qualität eines Wirtschaftskrimis des<br />

größten deutschen Staatsunternehmens. Ich staune auch über unsere Justiz. Man läuft jedem kleinen<br />

Hühnerdieb hinterher, ignoriert jedoch grob fahrlässige Transportgefährdung Tausender Fahrgäste."<br />

Ernst-Otto Constantin, bis 2002 Arbeitsdirektor und mitverantwortlicher Geschäftsführer der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH, in einem Offenen Brief an die damalige<br />

Verkehrssenatorin Junge-Reyer und die Fraktionen im <strong>Berlin</strong>er Abgeordnetenhaus, <strong>Berlin</strong>, 10. Januar 2011<br />

siehe Seite 6<br />

siehe Seite 22 siehe Seite 26 siehe Seite 32<br />

siehe Seite 36 siehe Seite 47 siehe Seite 51 siehe Seite 55


INHALT<br />

VORWORTE<br />

<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> · Wessen Grundrechte?<br />

Klaus Just & Jürgen Kynast (EVG <strong>Berlin</strong>) · Was macht die EVG in der Lunapark?<br />

Dieter Doege (PRO BAHN <strong>Berlin</strong>-Brandenburg) · Sachbezogen; ohne ideologische Debatten<br />

Bernhard Knierim (<strong>Bahn</strong> für Alle) · Oben pfui, unten pfui<br />

Winfried Wolf · <strong>Bahn</strong>privatisierung und S-<strong>Bahn</strong>-Desaster<br />

I. Ein ebenso logischer wie destruktiver Zusammenhang<br />

II. Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />

III. 2009: Der Beginn des Desasters<br />

IV. 2010: Das Desaster als Dauerzustand<br />

V. 2011: Leichte Besserung und alte destruktive Wege<br />

VI. Absolution erster Klasse: Die offizielle Analyse des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters – der Gleiss Lutz-Bericht<br />

VII. Frühjahr 2012: Neues Stadium der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

VII.„Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“ – stimmt das?<br />

Dieter Doege · Welche S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge? Oder: Warum Vielfalt auch Einfalt sein kann<br />

Ein Gespräch zur S-<strong>Bahn</strong>-Krise zwischen Andreas Ballentin, Jörg Kronberg, Jörg Podzuweit und<br />

Bernhard Knierim · „Warum sollte der Reisende sich nicht fühlen, als wenn er mit dem Sofa unterwegs ist?“<br />

Carl Waßmuth · Droht periodisch das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos?<br />

Rouzbeh Taheri · <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, Entstehung und Perspektive<br />

Stellungnahme des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s zur Entscheidung des Senats, das Volksbegehren S-<strong>Bahn</strong> juristisch zu prüfen.<br />

Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen zum Volksbegehren<br />

Katrin Dornheim & Lucy Redler · Perspektiven & Alternativen für die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />

02<br />

03<br />

04<br />

05<br />

06<br />

06<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

15<br />

19<br />

23<br />

24<br />

27<br />

33<br />

37<br />

39<br />

41<br />

45


2<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Wessen Grundrechte?<br />

Wir würden lügen, würden wir heute<br />

behaupten, wir hätten im März<br />

2011 beim ersten Treffen von interessierten<br />

Aktivistinnen und Aktivisten<br />

gewusst, wie sehr das Volksbegehren<br />

„Rettet unsere S-<strong>Bahn</strong>“ zum politischen<br />

Bezugspunkt für die Bekämpfung des S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Chaos und gegen die Teilprivatisierung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> werden würde.<br />

Über 30000 <strong>Berlin</strong>er und <strong>Berlin</strong>erinnen<br />

haben das Volksbegehren in der ersten<br />

Stufe unterstützt.<br />

Zu Recht, denn die Pleiten, Pech und<br />

Pannen der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> reißen nicht<br />

ab. Wie wir als Mitherausgeber in diesem<br />

Lunapark21-Extraheft darlegen, liegen<br />

die Gründe dafür in dem Privatisierungskurs<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG und<br />

der Gewinnauspressung der S-<strong>Bahn</strong>.<br />

Der <strong>Berlin</strong>er Senat hat sich entschieden,<br />

das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos mit einer Teilprivatisierung<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Rings und weiterer<br />

Strecken zu beantworten. Der <strong>Berlin</strong>er<br />

S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> hat dargelegt, dass sich<br />

dadurch die Lage nicht verbessern, sondern<br />

erheblich verschlechtern wird. Warum<br />

das so ist und für welche Alternativen<br />

wir eintreten, wird in diesem Heft<br />

ausgeführt.<br />

Kurz vor Drucklegung dieses Heftes<br />

überschlugen sich die Ereignisse: Der<br />

SPD-CDU Senat musste eingestehen,<br />

dass sein Zeitplan für die geplante Aus-<br />

schreibung nicht einzuhalten ist. Er erwägt<br />

eine Verlängerung des Verkehrsvertrags<br />

mit der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG.<br />

Gleichzeitig hat sich der Senat entschieden,<br />

unser Volksbegehren vor dem Landesverfassungsgericht<br />

juristisch „überprüfen“<br />

zu lassen. In einer vierzehnseitigen<br />

Anklageschrift legt der Senat seine<br />

„Argumente“ dar, warum das Volksbegehren<br />

nicht rechtens sei.<br />

Er fährt schweres Geschütz auf. Die<br />

Forderung des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s nach<br />

Offenlegung der Verkehrsverträge verstoße<br />

beispielsweise gegen „Grundrechte,<br />

insbesondere gegen das Recht auf<br />

informationelle Selbstbestimmung.“<br />

Wessen Grundrechte sind hier gemeint?<br />

Sicherlich nicht das Grundrecht<br />

der <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er auf Einsicht<br />

in die Verträge, um zu erfahren,<br />

was mit ihren Steuergeldern passiert. Es<br />

geht auch nicht um die Grundrechte der<br />

Beschäftigten, die Arbeitsbedingungen<br />

zu verbessern.<br />

Gemeint ist das Grundrecht des Managements<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH und<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG, gemeinsam mit<br />

den Regierungen der Länder <strong>Berlin</strong> und<br />

Brandenburg Geheimverträge abschließen<br />

zu dürfen.<br />

Doch der politische Druck, die Verträge<br />

zu veröffentlichen, war zu groß. Kurze<br />

Zeit nach der Verfassung seiner An-<br />

klageschrift gegen das Volksbegehren<br />

sah sich der Senat gezwungen, die Verträge<br />

restlos offen zu legen. Er hatte<br />

Angst sich – ähnlich wie beim Volksbegehren<br />

zur Offenlegung der Wasserverträge<br />

– eine Niederlage einzuhandeln.<br />

Das zeigt, dass politischer Druck erfolgreich<br />

ist und dass wir auf dem richtigen<br />

Weg sind.<br />

Wir werden nicht von unseren Forderungen<br />

abrücken und uns politisch und<br />

juristisch gegen den Versuch des Senats<br />

wehren, die zweite Stufe des Volksbegehrens<br />

mit fadenscheinigen Argumenten<br />

zu verhindern.<br />

Wenn unsere berechtigten Forderungen,<br />

die von Zehntausenden <strong>Berlin</strong>ern<br />

unterstützt werden, angeblich gegen<br />

EU-Verordnungen und die <strong>Berlin</strong>er Verfassung<br />

verstoßen, dann stellen wir die<br />

Frage, wem diese Verordnungen und<br />

Verfassungsparagrafen nützen.<br />

Recht haben ist bekanntlich nicht<br />

gleich Recht bekommen.<br />

Doch bereits in drei ähnlichen Fällen<br />

(Volksbegehren Wasser, Kita und Wahlrecht)<br />

erlitt der Senat eine juristische<br />

Niederlage. Wir sind zuversichtlich, dass<br />

es uns gelingt, unsere politischen und<br />

juristischen Argumente durchzusetzen<br />

und dem Senat eine vierte Niederlage<br />

zuzufügen.<br />

Dadurch wäre noch nicht die Teilprivatisierung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> verhindert. Die<br />

Deutsche <strong>Bahn</strong> AG würde weiterhin Gewinne<br />

aus der S-<strong>Bahn</strong> herauspressen.<br />

Aber die Ausgangsbedingungen, gegen<br />

Ausschreibung und Privatisierung und<br />

für eine öffentliche <strong>Bahn</strong> zu kämpfen,<br />

wären besser und der politische Druck<br />

gestiegen. Vorbei wäre der Kampf damit<br />

noch lange nicht.<br />

Für den Koordonierungskreis des<br />

S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s:<br />

Bernhard Knierim · Rainer Perschewski<br />

Lucy Redler · Rouzbeh Taheri·<br />

Ulrich Tulatz<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Was macht die EVG in der Lunapark?<br />

Es mag ungewöhnlich erscheinen, den<br />

Ortsverband der <strong>Berlin</strong>er Eisenbahnund<br />

Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die<br />

Betriebsgruppe der S-<strong>Bahn</strong> als Mitherausgeber<br />

dieser Sonderausgabe von<br />

Lunapark 21 zu sehen. „Wir machen<br />

Politik“ – mit diesem Anspruch ist die<br />

2010 durch den Zusammenschluss der<br />

Gewerkschaften TRANSNET und GDBA<br />

gegründete EVG angetreten. Die gesamte<br />

Struktur der EVG wurde vom Kopf auf<br />

die Füße gestellt. Durch die Gründung<br />

von Betriebsgruppen mit neuen Möglichkeiten<br />

der eigenständigen Gewerkschaftsarbeit<br />

ist unsere Struktur wieder<br />

näher an die Mitglieder gerückt. Den<br />

Slogan „Wir machen Politik“ nehmen wir<br />

ernst, gehen neue Wege und sind bereit,<br />

neue Erfahrungen zu sammeln.<br />

Die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> ist zwar „nur“<br />

einer von knapp 60 <strong>Bahn</strong>betrieben in<br />

<strong>Berlin</strong>, aber mit über 3000 Beschäftigten<br />

der größte. Somit ist auch die S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Betriebsgruppe ein Standbein der EVG in<br />

dieser Stadt. Die Diskussionen über die<br />

Probleme der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> werden<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

hoch emotional und mit einer großen<br />

Bandbreite von Meinungen von den <strong>Berlin</strong>ern<br />

geführt. Die Auswirkungen auf die<br />

Fahrgäste und deren Meinung haben für<br />

die Beschäftigten einen hohen Stellenwert,<br />

denn nur zufriedene Kunden garantieren<br />

eine positive Entwicklung des<br />

Betriebes und sichern die Arbeitsplätze.<br />

Auf das Entstehen der heutigen Probleme<br />

haben gerade die Kolleginnen und<br />

Kollegen der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> schon vor<br />

Jahren hingewiesen. Nur wollten weder<br />

<strong>Bahn</strong>management noch Minister, Senatoren<br />

oder Abgeordnete etwas davon<br />

hören. Die Probleme haben letztlich ihre<br />

Ursache in der Privatisierungspolitik.<br />

Diese hat das komplexe System <strong>Bahn</strong> ins<br />

Wanken gebracht. Daher stehen als Verantwortliche<br />

für uns nicht nur das<br />

<strong>Bahn</strong>management mit seinem von wirtschaftlichen<br />

Kennzahlen getriebenen<br />

Führungssystem im Fokus der Kritik,<br />

sondern auch die Politik der jeweiligen<br />

Bundesregierung und des <strong>Berlin</strong>er Senats<br />

sowie die Industrie. Wer hat die so genannte<br />

<strong>Bahn</strong>reform beschlossen? Wer<br />

hat gefordert, die „Aufsichten“ auf den<br />

S-<strong>Bahn</strong>höfen abzuschaffen? Wer, wenn<br />

nicht der Eigentümer, ist in der Lage, den<br />

Auftrag des <strong>Bahn</strong>managements zu<br />

ändern? Derzeit läuft die vom Senat betriebene<br />

Politik und die Untätigkeit des<br />

Eigentümers Bund, auf eines hinaus:<br />

Zerschlagung der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> durch<br />

Teilausschreibungen. Die Leidtragenden<br />

dieser Politik sind – neben den Fahrgästen<br />

– in erster Linie die Beschäftigten<br />

und ihre Familien, und zwar nicht nur<br />

diejenigen der S-<strong>Bahn</strong>, sondern auch<br />

weiterer <strong>Bahn</strong>betriebe, die Aufträge der<br />

S-<strong>Bahn</strong> erfüllen. Das wird Auswirkungen<br />

auf die Beschäftigungssituation in unserer<br />

Stadt haben und das Chaos auf dem<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Netz durch die Zersplitterung<br />

vergrößern.<br />

Vor diesem Hintergrund haben wir uns<br />

entschieden, neue Wege zu gehen. Die<br />

Zusammenarbeit im S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, mit<br />

Fahrgastverbänden, Initiativen, Vereinen<br />

und Parteien führt dazu, die eigene Posi-<br />

Vorworte<br />

tion zu hinterfragen. Auch wenn die vorliegende<br />

Ausgabe von Lunapark21 nicht<br />

zu 100 Prozent unseren Ansichten oder<br />

gar der Beschlusslage der EVG entspricht,<br />

spiegelt sie Meinungen und Diskussionen<br />

zum Thema wider und ist ein<br />

wertvoller Beitrag dazu, alles auf eine<br />

sachliche Ebene zu stellen und Perspektiven<br />

zu entwickeln. Viele Mitglieder der<br />

<strong>Berlin</strong>er EVG waren an der Entstehung<br />

beteiligt. Mögliche Schlussfolgerungen<br />

sind jedem selbst überlassen.<br />

Die Diskussionen und Aktivitäten waren<br />

für uns eine neue Erfahrung, aus der<br />

wir vieles gelernt haben. Diesen Weg<br />

wollen wir weitergehen. Die Diskussionen<br />

haben aber auch gezeigt, dass unsere<br />

Bündnispartner viele neue Erkenntnisse<br />

gewinnen konnten. Es ist schon etwas<br />

anderes, ob – wie leider oft üblich –<br />

über eine Gewerkschaft geredet wird,<br />

oder ob mit Kolleginnen und Kollegen,<br />

die unsere Gewerkschaft ausmachen,<br />

gesprochen wird. Wir denken, dass dies<br />

für alle Partner produktiv war. Unseres<br />

Erachtens erfordert die aktuelle Situation,<br />

in Zukunft öfter Allianzen jenseits<br />

der klassischen Verbündeten zu schmieden.<br />

WIR können es nur empfehlen.<br />

Viel Spaß beim Lesen wünschen<br />

Klaus Just – Vorsitzender EVG-Ortsverband<br />

Jürgen Kynast – Vorsitzender EVG-<br />

Betriebsgruppe<br />

3


4<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Sachbezogen; ohne ideologische Debatten<br />

Nach durchaus reiflicher Überlegung<br />

hatte sich der PRO BAHN-Landesverband<br />

<strong>Berlin</strong>/Brandenburg im vergangenen<br />

Jahr entschlossen, der Arbeitsgemeinschaft<br />

S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> beizutreten.<br />

Nach Meinung unseres damaligen<br />

Bundesvorsitzenden und unseres Bundessprechers<br />

würden sich hieran auch<br />

„extremistische Parteien“ beteiligen.<br />

Unser Bundesverband glaubte deutlich<br />

machen zu müssen, dass wir „ohne<br />

Wenn und Aber fest zur freiheitlich<br />

demokratischen Grundordnung des<br />

Grundgesetzes“ stünden*.<br />

Stehen wir als PRO BAHN-Landesverband<br />

nicht zur freiheitlich demokratischen<br />

Grundordnung, wenn wir uns für<br />

das Anliegen des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s engagieren?<br />

Insoweit war ich schon auf diese angeblichen<br />

„Extremisten“ des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

<strong>Tisch</strong>s gespannt, denen ich am 1. März<br />

2012 einen Vortrag zur <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>,<br />

ihren Fahrzeugen und den möglichen<br />

Zukunftsperspektiven zu halten hatte.<br />

Der etwa zweistündige Abend in dem<br />

bis auf den letzten Platz belegten Saal<br />

entpuppte sich als höchst sachbezogene<br />

Veranstaltung ohne jegliche ideologische<br />

Debatten. Na ja, nicht ganz, es kamen<br />

schon Fragen nach dem Sinn bestimmter<br />

Veränderungen in unserer Bundesrepublik<br />

auf. So ertappe ich mich seither<br />

immer wieder bei meiner Überlegung,<br />

worin der Vorteil liegen könnte, dass ich<br />

seit der Privatisierung der Post meine<br />

Briefe von fünf verschiedenen Postzustellfirmen<br />

erhalte.<br />

Bei den verschiedenen S-<strong>Bahn</strong>-Themen<br />

haben mich die dort vorgebrachten<br />

Argumente auf Anhieb und in jeder Beziehung<br />

überzeugt. Was soll man beispielsweise<br />

besorgten S-<strong>Bahn</strong>-Mitarbeitern<br />

vorhalten, die vor dem S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Desaster gegen ihre eigene Überzeugung<br />

daran gehindert wurden, ihre als Pflichtaufgabe<br />

empfundenen Wartungsarbeiten<br />

in vollem Umfang weiterzuführen?<br />

Unser Bundesverband kannte die Antwort<br />

– den Ausweg aus der <strong>Berlin</strong>er S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise – schon lange vorher: „Wir<br />

wollen, dass die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> nach<br />

modernen Maßgaben zu Qualität,<br />

Sicherheit und Mitarbeiterstandards<br />

ausgeschrieben wird. ... Eine Rückverstaatlichung<br />

in eine Behörde, eine Anstalt<br />

öffentlichen Rechts oder einen<br />

sonstigen Rechtskörper können wir aufgrund<br />

der überwiegend negativen Erfahrungen<br />

in der Vergangenheit nicht befürworten.<br />

<strong>Berlin</strong> braucht endlich wieder<br />

eine moderne S-<strong>Bahn</strong>, die den Kunden<br />

dient und die fährt und funktioniert. Und<br />

dieses ohne irgendeine ideologische Brille.<br />

Das Ergebnis wird zählen und nicht<br />

die ideologische Prämisse.“<br />

Habe ich da irgendetwas falsch in<br />

Erinnerung?<br />

Fuhr die elektrische S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> –<br />

einmal abgesehen von den letzten<br />

Kriegswochen und den ersten Wochen<br />

nach Kriegsende – nicht über hundert<br />

Jahren lang weitgehend unbeeinträchtigt<br />

durch sämtliche Staats- und Verwaltungsformen?<br />

Befand sie sich nicht<br />

mindestens ein Dreivierteljahrhundert<br />

lang in einer Behörden-ähnlichen, jedenfalls<br />

immer staatlichen Organisationsform?<br />

Sie fuhr dabei gleichermaßen<br />

gut durch Reichsbahn- und Deutsche<br />

<strong>Bahn</strong> Ära – eben bis zu jenem Zeitpunkt,<br />

als die Deutsche <strong>Bahn</strong> AG vor knapp<br />

einem Jahrzehnt auf Börsenkurs ging<br />

und dabei die S-<strong>Bahn</strong> – wie andere Teile<br />

des Konzerns – in diesem Kontext zu<br />

einer lukrativen Geldproduktionsgenossenschaft<br />

umzuwidmen versuchte.<br />

Nun sieht der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />

seine Aufgabe darin, die unheilvolle Entwicklung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> durch aufklärerische<br />

Sacharbeit vor Ort, durch Mobilisierung<br />

der <strong>Berlin</strong>er Bevölkerung und durch<br />

den stets unerlässlichen politischen<br />

Druck zu stoppen. Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> will<br />

die S-<strong>Bahn</strong> wieder zu dem zu machen,<br />

was sie einmal war und wofür sie von<br />

den <strong>Berlin</strong>ern geliebt wurde: das attraktive,<br />

dem Auto gegenüber konkurrenzfähige,<br />

gern genutzte und zuverlässige<br />

Beförderungsmittel der Bundeshauptstadt<br />

<strong>Berlin</strong>.<br />

Als <strong>Berlin</strong>er und brandenburgischer<br />

Fahrgastverband finden wir das Vorhaben<br />

des <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s in jeder<br />

Beziehung unterstützenswert und hoffen<br />

auf den notwendigen Erfolg bei der<br />

Rückkehr zu einem funktionierenden S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Betrieb.<br />

* In einer von Karl-Peter Naumann als<br />

Bundesvorsitzender und Matthias Oomen als<br />

Bundessprecher unterzeichneten Presseerklärung<br />

des PRO BAHN-Bundesvorstands vom<br />

27. Juni 2011 wurden „extremistische Parteien“<br />

als Teil des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es ausgemacht und<br />

dazu formuliert: „Der PRO BAHN<br />

Bundesverband möchte an dieser Stelle deutlich<br />

machen, dass es keine Gemeinsamkeiten<br />

mit Verfassungsfeinden von rechts oder links<br />

gibt und geben kann. Diese Parteien werden<br />

vom Verfassungsschutz des Bundesrepublik<br />

Deutschland beobachtet und in Teilen als<br />

extremistisch eingestuft. Der Fahrgastverband<br />

PRO BAHN arbeitet nicht mit antidemokratischen<br />

Kräften zusammen und steht hingegen<br />

ohne Wenn und Aber fest zur freiheitlich<br />

demokratischen Grundordnung des<br />

Grundgesetzes und zur Werte- und<br />

Vertragsgemeinschaft der Europäischen<br />

Union.“<br />

Dieter Doege<br />

Vorsitzender des PRO BAHN Landesverbandes<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburg e. V.<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Oben pfui, unten pfui<br />

Das Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle setzt sich<br />

seit 2005 aktiv gegen eine Privatisierung<br />

der <strong>Bahn</strong> ein. Eines unserer zentralen<br />

Argumente gegen die Privatisierung<br />

war von Anfang an die Befürchtung,<br />

dass eine privatisierte <strong>Bahn</strong> an der<br />

Substanz sparen und den <strong>Bahn</strong>verkehr<br />

damit unsicherer und unzuverlässiger<br />

machen würde. Unter <strong>Bahn</strong>chef Hartmut<br />

Mehdorn war das Kosteneinsparen<br />

oberstes Gebot, denn er wollte das<br />

Unternehmen um jeden Preis „fit für die<br />

Börse“ machen. Die Folgen dieses Kurses<br />

wurden spätestens am 9. Juli 2008 deutlich,<br />

als es in Köln zum Achsbruch an<br />

einem ICE kam – zum Glück bei niedriger<br />

Geschwindigkeit. Dieser Bruch hätte<br />

fast zu einem zweiten Eschede geführt,<br />

wäre er nur eine halbe Stunde früher<br />

wirksam geworden, als der Zug bei 300<br />

km/h von Frankfurt nach Köln fuhr.<br />

Dabei war die <strong>Bahn</strong>spitze von höchst<br />

kompetenter Seite gewarnt worden, dass<br />

die neu entwickelten Radsatzwellen<br />

nicht dauerfest waren. Dennoch wurden<br />

unter Führung des damaligen <strong>Bahn</strong>chefs<br />

Hartmut Mehdorn die Wartungs- und<br />

Kontrollintervalle „gespreizt“: Statt alle<br />

60000 km wurden die Achsen nur noch<br />

alle 300000 km überprüft – um ein Haar<br />

hätte dies tödliche Folgen gehabt. Die<br />

DB tat unter massiver Gefährdung von<br />

Fahrgästen und Beschäftigten wochenlang<br />

alles dafür, um die wahren Gründe<br />

für den Achsbruch zu verschleiern und<br />

den Börsengang im Herbst nicht zu gefährden.<br />

Der Börsengang scheiterte dann<br />

zum Glück doch – angeblich aufgrund<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

des Börsencrashs, in Wahrheit jedoch<br />

auch aufgrund des immer deutlicher<br />

werdenden Umfangs der Wartungsmängel.<br />

Aber nicht nur die nicht dauerfesten<br />

Achsen zeigen, wie seit Jahren an der<br />

Substanz gespart wird. Auch die massiven<br />

Verspätungen (laut unabhängigen<br />

Überprüfungen durch die Stiftung Warentest<br />

sind nicht einmal zwei Drittel der<br />

Fernzüge pünktlich) und das inzwischen<br />

regelmäßige „Winterchaos“ mit Ausfällen<br />

zahlreicher Züge und stundenlangen<br />

Verspätungen, das uns 2011/2012 vor<br />

allem deshalb erspart blieb, weil es kaum<br />

einen Winter gab, sind Folgen dieser Politik.<br />

Im Zuge der Sparorgien wurden<br />

aber auch massiv <strong>Bahn</strong>strecken und Service<br />

abgebaut – der falsche Kurs für eine<br />

zukunftsfähige <strong>Bahn</strong>. Diese fatale Orientierung<br />

der DB haben wir im Alternativen<br />

Geschäftsbericht der DB AG (Lunapark21,<br />

Extra 05) ausführlich dargestellt.<br />

Wir werden dies auch im neuen Alternativen<br />

Geschäftsbericht Deutsche <strong>Bahn</strong><br />

AG 2011, der im Sommer 2012 in gedruckter<br />

Form erscheint, dokumentieren.<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> wurde ebenfalls<br />

Mehdorns Spardiktat unterworfen, mit<br />

ähnlichen Folgen: Auch in <strong>Berlin</strong> gab es<br />

einen Achsbruch (am 1.5.2009 in Kaulsdorf),<br />

der zum Glück glimpflich ablief,<br />

jedoch die Aufmerksamkeit auf die mangelhafte<br />

Wartung richtete. Danach wurden<br />

immer weitere Mängel deutlich, die<br />

die S-<strong>Bahn</strong> aufgrund des massiven Personalabbaus<br />

nicht mehr beheben konnte.<br />

Schließlich musste ein Großteil der<br />

Züge stillgelegt werden, und der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Verkehr brach in der Folge fast<br />

komplett zusammen. Seitdem kommt es<br />

immer wieder zu massiven Problemen,<br />

die mit den Sparmaßnahmen zusammenhängen.<br />

Damit ist die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

quasi ein Modell im Kleinen dafür, was<br />

beim Mutterkonzern DB AG schief läuft<br />

und wie sich der Privatisierungskurs auswirkt.<br />

Eben: oben wie unten pfui!<br />

Das Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle fordert eine<br />

<strong>Bahn</strong> in öffentlicher Hand, die sich am<br />

Vorworte<br />

Gemeinwohl orientiert und nicht am<br />

Profit – und damit gleichzeitig auch eine<br />

öffentliche S-<strong>Bahn</strong>. Der „Wettbewerb im<br />

Schienenverkehr“, wie er von einigen<br />

propagiert wird, führt nicht zu Einsparungen<br />

und besserer Qualität. Das beweist<br />

nicht zuletzt das Beispiel Großbritannien<br />

mit seinem komplett liberalisierten<br />

Schienenverkehr, der im Vergleich<br />

zum rein öffentlichen System der<br />

Schweiz fast doppelt so teuer ist – bei<br />

deutlich schlechterer Qualität. Wir sollten<br />

aus den Erfahrungen unserer Nachbarn<br />

lernen und uns an der Schweiz und<br />

nicht an Großbritannien orientieren: für<br />

einen zuverlässigen und sicheren <strong>Bahn</strong>verkehr<br />

nicht nur in <strong>Berlin</strong>, sondern im<br />

ganzen Land, der immer mehr Menschen<br />

überzeugt, auf die <strong>Bahn</strong> als ökologischstes<br />

Verkehrsmittel umzusteigen.<br />

Für das Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle<br />

Bernhard Knierim<br />

5


6<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Die Gang vom Potsdamer Platz:<br />

Die Gang vom Potsdamer Platz in:<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Dennoch bleibt die S-<strong>Bahn</strong> ein Top-Thema<br />

für Hunderttausende Menschen in<br />

<strong>Berlin</strong> und Brandenburg. Dieses Verkehrsmittel<br />

befördert auch heute noch<br />

an jedem Werktag mehr als eine Million<br />

Menschen. Und wenn die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

im Verlauf ihrer nun fast dreijährigen<br />

Krise keinen größeren Verlust an Fahrgästen<br />

zu verzeichnen hatte, so liegt das<br />

einerseits daran, dass die meisten S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Nutzer auf dieses Verkehrsmittel<br />

angewiesen sind – und andererseits<br />

auch daran, dass die Menschen in und<br />

um <strong>Berlin</strong> von der S-<strong>Bahn</strong> überzeugt<br />

sind, diese vielfach lieben oder dabei<br />

sind, dann eine Hassliebe zu entwickeln,<br />

wenn die S-<strong>Bahn</strong>stationen Schöneberg<br />

zum Stöhneberg und der Botanische<br />

Garten zum Botanischen Warten werden.<br />

Kein anderes Verkehrsmittel prägte<br />

<strong>Berlin</strong> so stark wie die S-<strong>Bahn</strong> – und<br />

dies seit mehr als einem Dreivierteljahrundert.<br />

1 Dabei zählte die Straßenbahn<br />

vor dem Zweiten Weltkrieg und bis in<br />

die 1950er Jahre hinein mehr Fahrgäste<br />

als die S-<strong>Bahn</strong>. Sie erwies sich jedoch als<br />

krisenanfälliger als die S-<strong>Bahn</strong> und erlebte<br />

zwischen 1927 und 1933 einen<br />

Einbruch ihrer Fahrgastzahlen um mehr<br />

als 50 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

wurde die Tram im Westteil der<br />

Stadt völlig „aus dem Verkehr gezogen“<br />

oder auch, um nochmals die Eisenbahn-<br />

Sprache zu bemühen, „zur Strecke gebracht“.<br />

Leider gelang es selbst nach der<br />

Wende nicht, die Straßenbahn im Westteil<br />

wieder zu einem Massenverkehrsmittel<br />

und zum Rückgrat des öffentli-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

chen Verkehrs zu machen. Die S-<strong>Bahn</strong><br />

jedoch erlebte ab Beginn der 1990er<br />

Jahre eine erstaunliche Renaissance. Die<br />

Fahrgastzahlen verdoppelten sich von<br />

jährlich rund 200 Millionen Anfang der<br />

1990er Jahre auf knapp 400 Millionen<br />

kurz vor Ausbruch der offenen S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Krise 2009. Dabei muss man sich vor<br />

Augen halten, was in <strong>Berlin</strong> einmal an<br />

öffentlichem Verkehr veranstaltet wurde:<br />

1928 wurden in <strong>Berlin</strong>s öffentlichen<br />

Verkehrsmittel knapp zwei Milliarden<br />

Fahrgäste gezählt – fast doppelt so viel<br />

wie heute; die S-<strong>Bahn</strong> brachte es in diesem<br />

Jahr auf 470 Millionen und 1943<br />

auf 750 Millionen Fahrgäste – also auf<br />

erheblich mehr Fahrgäste, als vor der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise mit diesem Verkehrsmittel<br />

verkehrten.<br />

Die 2009 offen ausgebrochene S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise wird oft zu Recht mit der Situation<br />

am Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

verglichen. Selbst am 25. April 1945, als<br />

die Rote Armee im Begriff war, die<br />

faschistische Herrschaft endgültig zu<br />

beseitigen und die deutsche Hauptstadt<br />

zu erstürmen, waren von den damals<br />

vorhandenen 1118 sogenannten S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Viertelzügen 267 einsatzfähig. Also ein<br />

Viertel. Torsten Hampel zog in der Zeit<br />

die Parallele zur gegenwärtigen S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Krise: „Dass der Verkehr trotzdem am<br />

selben Tag, dem 25. April 1945, eingestellt<br />

wurde, lag nicht an den Kriegszerstörungen,<br />

sondern am Kohlemangel, es<br />

gab keinen Strom mehr. Im September<br />

2009 fuhren von 630 Viertelzügen noch<br />

163 – 25,87 Prozent. Ohne Beschuss und<br />

Rote Armee.“ 2<br />

S-<strong>Bahn</strong> Desaster<br />

I. <strong>Bahn</strong>privatisierung und S-<strong>Bahn</strong>-Desaster<br />

Ein ebenso logischer wie destruktiver Zusammenhang<br />

Winfried Wolf<br />

Im Januar 2011 nannten in einer repräsentativen Umfrage in <strong>Berlin</strong> 21<br />

Prozent „die S-<strong>Bahn</strong>“ als „das wichtigste Problem“ in der Hauptstadt –<br />

noch vor der Arbeitslosigkeit (18 %), der Bildungsmisere (15 %), der „wirtschaftlichen<br />

Lage“ (8 %) und „sozialer Ungerechtigkeit“ (7 %). In den vergangenen<br />

Monaten dürften sich die Gewichte wieder zugunsten der<br />

sozialen Themen verschoben haben und die S-<strong>Bahn</strong> mehr in den Hintergrund<br />

getreten sein. Dazu trug auch eine zeitweilige Entspannung bei<br />

der S-<strong>Bahn</strong> und ein wieder eher regelmäßiger Betrieb bei diesem Verkehrsmittels<br />

bei.<br />

Apropos Viertelzüge. Diese „Maßeinheit“<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> wird uns in dieser<br />

Publikation noch öfters begegnen;<br />

sie wird in der <strong>Berlin</strong>er Presse und in den<br />

übrigen Medien, insbesondere in S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krisen-Zeiten wie diesen, gelegentlich<br />

wie selbstverständlich erwähnt,<br />

obgleich auch viele <strong>Berlin</strong>erinnen und<br />

<strong>Berlin</strong>er kaum korrekt definieren können,<br />

um was es sich hier genau handelt. Im<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Klartext: Ein Viertelzug ist die<br />

kleinste S-<strong>Bahn</strong>-Zugeinheit; sie besteht<br />

aus einem Trieb- und einem Steuerwagen.<br />

Zwei Viertelzüge bilden einen Halbzug,<br />

drei Viertelzüge einen Dreiviertelzug<br />

und vier Viertelzüge einen Ganzzug.<br />

Doch grau ist jede Theorie. Die außerordentlich<br />

bunte Praxis der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

seit 2009 führte dazu, dass Hunderttausende<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Fahrgäste in <strong>Berlin</strong> und<br />

Brandenburg zwei dieser kleinsten Zugeinheiten<br />

– zwei Viertelzüge oder einen<br />

„Halbzug“ – auf dem Höhepunkt der S-<br />

<strong>Bahn</strong>krise, also auf den Tiefpunkten der<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Wagen-Verfügbarkeit wiederholt<br />

verkehren sahen – so im Juli 2009,<br />

im September und Dezember desselben<br />

Jahres und im Januar 2011.<br />

Wenn es Ende April 1945 ein Krieg<br />

war, der die Verfügbarkeit der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Viertelwagen auf ein Viertel des Gesamtbestand<br />

reduziert hatte, was war<br />

dann der Grund dafür, dass in der jüngsten<br />

– und in der in dieser Form ERSTEN!<br />

– S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009 und 2010 zeitweilig<br />

ähnlich wenige S-<strong>Bahn</strong>-Viertelzüge<br />

für den Einsatz im Verkehr zur Verfügung<br />

standen? Klar doch – ebenfalls ein<br />

Krieg: Der Krieg, den der Profit dem<br />

7


8<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

„<strong>Berlin</strong>er! Schützt eure S-<strong>Bahn</strong>!“<br />

Im Jahr 2005 waren die ersten Folgen der Sparmaßnahmen, die die Konzernzentrale<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> aufzwingen wollte, spürbar bzw. absehbar. Daraufhin entwickelte<br />

der damalige Betriebsrat der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH mit seinem Betriebsratsvorsitzenden<br />

Andreas Tannhäuser eine Kampagne unter der Parole „<strong>Berlin</strong>er!<br />

Schützt Eure S-<strong>Bahn</strong>“. Im Mittelpunkt stand der Widerstand gegen den Abzug des<br />

Personals auf den S-<strong>Bahn</strong>höfen. Bereits damals wurde seitens der S-<strong>Bahn</strong>-Geschäftsführung<br />

das Ziel aufgestellt, von den 165 S-<strong>Bahn</strong>höfen 21 zu sogenannten<br />

„Stammbahnhöfen“ zu machen. Diese sollten – jedenfalls zunächst – weiter mit<br />

Personal besetzt sein. Die übrigen <strong>Bahn</strong>höfe sollten kein Personal mehr haben.<br />

Dieser Plan musste später – auch wegen der S-<strong>Bahn</strong>krise und wegen Kritik des<br />

Eisenbahn-Bundesamtes an technischen Aspekten der personalfreien <strong>Bahn</strong>höfe –<br />

aufgegeben bzw. zeitlich aufgeschoben werden. Siehe die aktuelle S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

2012 (Seite 18).<br />

Die Forderungen der damaligen Kampagne des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebsrats sind höchst<br />

aktuell. Sie lauteten:<br />

• Erhalt und Sicherung der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> als ganzheitliches und eigenständiges<br />

Nahverkehrsunternehmen<br />

• Besetzung aller <strong>Bahn</strong>höfe und Fahrkartenausgaben mit Personal der S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH<br />

• Erhalt aller Werkstätten und Wiedereröffnung der geschlossenen Außenstellen<br />

• Verkürzung der Wartungs- und Reinigungsintervalle für die Züge der <strong>Berlin</strong>er S-<br />

<strong>Bahn</strong><br />

• Erweiterung des Angebots für die Kunden<br />

• Erhalt und Erweiterung der Ausbildungsstätte bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />

• Einsatz aller Regionalisierungsmittel ausschließlich für den ÖPNV<br />

• Sozialverträgliche Fahrpreise<br />

Es wurde eine Serie bunter A4-Flugblätter zu einzelnen Themen der Sparpolitik<br />

entwickelt. Auf einem dieser Flugblätter hieß es: „<strong>Berlin</strong>er bluten für den Börsengang!<br />

Die DB AG will sich auf Kosten ihrer Tochter – der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH –<br />

börsenfein machen. Zu diesem Zweck wird ein gesunder Betrieb gezwungen, Takte<br />

auszudünnen und Züge zu kürzen (…) Wartungsintervalle zu verlängern und<br />

Werkstätten aufzugeben, Personal durch Rufsäulen und Automaten zu ersetzen,<br />

Ausbildung zurückzufahren und die Fahrpreise zu erhöhen.“<br />

Für die Kampagne wurden 44325 Unterschriften in der Bevölkerung gesammelt<br />

und dem <strong>Berlin</strong>er Senat übergeben. Keiner kann sagen, die Öffentlichkeit sei nicht<br />

informiert und vor der bald offen ausbrechenden S-<strong>Bahn</strong>-Krise gewarnt worden.<br />

Die Kritik an diesen Sparmaßnahmen wurde damals bereits deutlich in den<br />

Zusammenhang mit der Orientierung der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG auf einen Börsengang<br />

gestellt.<br />

Mensch erklärt hatte, der Krieg, der mit<br />

der Orientierung auf den Börsengang der<br />

<strong>Bahn</strong> den Fahrgästen der <strong>Bahn</strong> im allgemeinen<br />

und den S-<strong>Bahn</strong>-Fahrgästen im<br />

besonderen erklärt wurde.<br />

Nach der Wiedervereinigung von<br />

West- und Ostdeutschland kam es zur<br />

Wiedervereinigung von Deutscher Bundesbahn<br />

und Deutscher Reichsbahn. Was<br />

da geographisch und hinsichtlich der<br />

Bevölkerung zusammenwuchs und zusammengehörte,<br />

wurde durchaus sinn-<br />

voll ergänzt durch die Vereinigung von<br />

Reichsbahn-S-<strong>Bahn</strong> und BVG-S-<strong>Bahn</strong>,<br />

zu der es 1994 kam. 3 Dass die im Januar<br />

1994 neu gebildete Deutsche <strong>Bahn</strong> AG<br />

als Zusammenschluss von Reichsbahn<br />

und Bundesbahn die S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Berlin</strong><br />

zugeteilt erhielt, machte solange Sinn,<br />

wie das vereinte Eisenbahnunternehmen<br />

die Entwicklung des Schienenverkehrs<br />

im allgemeinen und die Interessen der<br />

Fahrgäste im besonderen als seine zentralen<br />

Zielsetzungen erkannte. Mit dem<br />

im Dezember 1993 neu ins Grundgesetz<br />

eingefügten Artikel 87e wurde versucht,<br />

dies zu verankern. 4 Solange es eine solche<br />

Bindung der Deutschen <strong>Bahn</strong> an<br />

allgemeine Interessen gab, war es auch<br />

akzeptabel, dass die S-<strong>Bahn</strong> der neu gegründeten<br />

DB AG gleichsam geschenkt<br />

wurde – einschließlich vieler wertvoller<br />

Immobilien, die sich im Besitz der S-<br />

<strong>Bahn</strong> befunden hatten.<br />

Es ist heute müßig darüber zu streiten,<br />

inwieweit bereits die <strong>Bahn</strong>reform<br />

der Jahre 1993/94 auf eine nicht nur<br />

formelle, sondern auch materielle <strong>Bahn</strong>privatisierung<br />

abzielte. Eine Reihe von<br />

<strong>Bahn</strong>fachleuten gingen damals bereits<br />

davon aus. 5 Spätestens Ende der 1990er<br />

Jahre und mit Antritt von Hartmut Mehdorn<br />

als neuem Vorstandsvorsitzenden<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG orientierte sich<br />

die Deutsche <strong>Bahn</strong> erkennbar nicht an<br />

den Interessen der Allgemeinheit, sondern<br />

eindeutig an dem Ziel einer Profitmaximierung,<br />

konkretisiert mit einem<br />

Börsengang, also mit der auch materiellen<br />

Privatisierung des Schienenunternehmens.<br />

Diese Politik konnte das<br />

Management eines zu 100 Prozent in<br />

Bundeseigentum befindlichen Unternehmens<br />

natürlich nur verfolgen, solange<br />

diese durch die jeweiligen Bundesregierungen<br />

unterstützt wurde. Das war bei<br />

den SPD-Grünen Regierungen 1998 bis<br />

2005 ebenso der Fall wie bei der CDU/<br />

CSU-SPD-Regierung in den Jahren 2005<br />

bis 2009. Entsprechend wurde der<br />

<strong>Bahn</strong>börsengang vorangetrieben. Entsprechend<br />

hatte dies handfeste Auswirkungen<br />

auf die S-<strong>Bahn</strong> in <strong>Berlin</strong>.<br />

Die Rationalisierungsprogramme bei<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>, die es seit 2002 gab<br />

und die sich mal „Qualify & Qualify Plus<br />

Portfolio“ und mal „OSB – Optimierung<br />

S-<strong>Bahn</strong>“ nannten, sollten erklärtermaßen<br />

die Ausgangsbedingungen für den<br />

Börsengang der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG<br />

schaffen beziehungsweise diese verbessern.<br />

So heißt es in einer Broschüre zur<br />

Rationalisierung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>: „Wir<br />

wollen die <strong>Bahn</strong> kapitalmarktfähig<br />

machen.“<br />

Damit wurde der Krieg Profit gegen<br />

Allgemeininteresse und Börse gegen<br />

Fahrgast erklärt. Es ist kein Zufall, dass<br />

die Grundlagen für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise in<br />

<strong>Berlin</strong> genau in den Jahren und Monaten<br />

gelegt wurden, als die Deutsche <strong>Bahn</strong><br />

Lunapark21·extra 6/2012


AG und die jeweiligen Bundesregierungen<br />

unter dem Kanzler Gerhard Schröder<br />

beziehungsweise unter der Kanzlerin<br />

Angela Merkel mit aller Macht den<br />

<strong>Bahn</strong>börsengang vorantrieben. Das erfolgte<br />

in den Jahren 2003 bis 2008. Bereits<br />

2005 war der Zusammenhang zwischen<br />

dem Börsengang und der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Krise erkennbar – siehe den Kasten auf<br />

Seite 8 zur Kampagne des damaligen S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Betriebsrates. Allerdings war der<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Betriebsrat damals ein einsamer<br />

Rufer in der Wüste – ebenso wie das zu<br />

diesem Zeitpunkt neu gegründete Bündnis<br />

<strong>Bahn</strong> für Alle. Noch im Mai 2008<br />

fasste der Deutsche Bundestag einen bis<br />

heute relevanten Beschluss, wonach so<br />

bald als möglich die neu gebildete Subholding<br />

des DB Konzerns, die DB ML AG,<br />

bis zu 24,9 Prozent an private Investoren<br />

verkauft werden sollte. Da bei DB ML der<br />

Schienenfernverkehr (DB Fernverkehr),<br />

der Schienennahverkehr einschließlich<br />

der S-<strong>Bahn</strong>en (DB Regio), der Schienengüterverkehr<br />

(DB Schenker Railion) und<br />

die internationalen Aktivitäten des<br />

<strong>Bahn</strong>konzerns (Schenker und Arriva) gebündelt<br />

sind, orientiert dieser bis heute<br />

gültige Beschluss des Bundestags auf die<br />

Teilprivatisierung des gesamten Schienenverkehrs.<br />

Es war Peter Ramsauer, der<br />

damalige Vorsitzender der CSU-Landesgruppe<br />

im Deutschen Bundestag, der<br />

sich in besonderer Weise für diesen Bundestagsbeschluss<br />

und für einen <strong>Bahn</strong>börsengang<br />

engagierte.<br />

Derselbe Peter Ramsauer formulierte<br />

dann auf dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Krise in <strong>Berlin</strong>, als eine Kritik am <strong>Bahn</strong>börsengang<br />

opportun geworden war,<br />

zutreffend wie folgt: „Um die hohen<br />

Renditeforderungen des Mutterkonzerns<br />

DB zu erfüllen, haben die dienstbeflissenen<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Manager ihren Laden ausgepresst<br />

wie eine Zitrone – auf Kosten<br />

der Sicherheit und des Services.“ 6<br />

Wobei es natürlich nicht primär die<br />

„S-<strong>Bahn</strong>-Manager“, sondern die Top-<br />

Manager der Konzernspitze waren, die<br />

diese Politik betrieben hatten – unterstützt<br />

durch die jeweiligen Bundesregierungen<br />

und Herrn Ramsauer selbst.<br />

<strong>Berlin</strong> ist eine Stadt, in der auch heute<br />

noch die Hälfte der Haushalte über<br />

kein Auto verfügt. Damit dürften rund<br />

40 Prozent der Menschen im führerscheinbefähigten<br />

Alter, also der Erwach-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

senen, kein Auto haben. Rechnet man<br />

auch die Menschen im Alter von sechs<br />

bis 17 Jahren mit ein, dann dürfte in<br />

<strong>Berlin</strong> tatsächlich rund die Hälfte der<br />

Menschen, für die Mobilität ein hohes<br />

Gut ist, nicht über einen Pkw zur Bewältigung<br />

ihrer Alltagsmobilität verfügen.<br />

Diese Menschen sind auf ihre Füße, auf<br />

Fahrradpedale und auf die öffentlichen<br />

Verkehrsmittel angewiesen. Es gibt in<br />

Deutschland keine andere Stadt, in der<br />

es derart günstige Bedingungen für eine<br />

zukunftsfähige Verkehrspolitik geben<br />

würde.<br />

Die bisherigen Regierungen auf Bundesebene<br />

und in der Stadt <strong>Berlin</strong> selbst,<br />

erwiesen sich als unfähig, eine solche<br />

zukunftsfähige und notwendige Verkehrs-<br />

und <strong>Bahn</strong>politik umzusetzen.<br />

Offensichtlich wird eine solche dringend<br />

erforderliche Politik der Verkehrswende<br />

S-<strong>Bahn</strong> Desaster<br />

nur dann Erfolg haben, wenn sie von<br />

unten kommt: von den Menschen vor<br />

Ort, von den Beschäftigten im öffentlichen<br />

Verkehr, bei der <strong>Bahn</strong>, unterstützt<br />

von Umweltorganisationen und Verkehrsinitiativen.<br />

Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> in <strong>Berlin</strong> und die<br />

Initiative für ein Volksbegehren zum<br />

Erhalt einer fahrgastfreundlichen S-<br />

<strong>Bahn</strong> sind der Versuch, eine Bewegung<br />

von unten und aus der Bevölkerung zur<br />

Rettung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> zustande zu<br />

bekommen.<br />

Winfried Wolf ist Chefredakteur von<br />

Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen<br />

Ökonomie und Verfasser mehrerer verkehrswissenschaftlicher<br />

Bücher (u.a. von<br />

„Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung<br />

des Tempowahns“; Köln 2007 und 2009, und<br />

„<strong>Berlin</strong> – Weltstadt ohne Auto. Eine<br />

Verkehrsgeschichte 1848 – 2015“, Köln 1994).<br />

Anmerkungen:<br />

1 Es ist nicht ganz einfach, eine genaue Geburtsstunde der S-<strong>Bahn</strong> zu benennen. 2013 wird<br />

man das hundertjährige Jubiläum des Beschlusses des Preußischen Landtags über das<br />

„Gesetz über die Umstellung der <strong>Berlin</strong>er Stadt-, Ring- und Vorortbahnen auf elektrischen<br />

Betrieb“ aus dem Jahr 1913, eine Art Gründungsgesetz für die S-<strong>Bahn</strong>, begehen können.<br />

1924 wurde der elektrische Regelbetrieb auf dem ersten Streckenabschnitt, auf der<br />

Verbindung Stettiner Vorortbahnhof – Bernau aufgenommen. 1927/28 gab es die „Große<br />

Elektrisierung“ der Stadt-, Ring- und Vorortstrecken; am 11. Juni 1928 fuhren erstmals<br />

elektrische Züge über die Stadtbahn auf der Verbindung Potsdam – Erkner. Das S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Symbol – ein weißes „S“ auf grünen Grund – und der Begriff „S-<strong>Bahn</strong>“ wurden am 1.<br />

Dezember 1930 in <strong>Berlin</strong> offiziell eingeführt und später in anderen Städten für vergleichbare<br />

<strong>Bahn</strong>en übernommen. Für was genau das „S“ steht, ist unklar; mal für „Schnell“, dann<br />

für „Stadt“, auch mal für „Stadtschnellbahn“.<br />

2 Torsten Hampel, Die Entgleisung, in: Die Zeit vom 15. April 2010.<br />

3 Die DDR gab 1984 den Betrieb der S-<strong>Bahn</strong> auf Westberliner Gebiet auf, da dieser u.a. aufgrund<br />

von Boykottaufforderungen im Kalten Krieg zunehmend zu einem Verlustgeschäft<br />

geworden war. Am 9. Januar 1984 übernahm die Westberliner BVG den Betrieb des bereits<br />

stark reduzierten S-<strong>Bahn</strong>netzes im Westteil der Stadt. Nach dem Mauerfall engagierten sich<br />

Bürgerinitiativen und Bürgerbegehren erfolgreich für eine Ausweitung des S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrs<br />

und für einen Wiederaufbau des ursprünglichen S-<strong>Bahn</strong>-Netzes. Am 1. Januar 1995 wurde<br />

die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH als 100-prozentige Tochter der im Jahr zuvor neu gegründeten<br />

Deutschen <strong>Bahn</strong> AG gebildet.<br />

4 Der GG-Artikel lautet: „Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere<br />

den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der<br />

Eisenbahnen des Bundes sowie deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit<br />

diese nicht den Personennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird.“ Der Nahverkehr<br />

war aus diesem GG-Gebot nur deshalb herausgenommen worden, weil dieser mit der<br />

<strong>Bahn</strong>reform von 1993/94 zur Ländersache erklärt wurde und im Zusammenhang mit dem<br />

Regionalisierungsgesetz und den ÖPNV-Gesetzen der Länder noch deutlicher den<br />

Zielsetzungen des „Wohls der Allgemeinheit“ und „den Verkehrsbedürfnissen“ verpflichtet<br />

wurde.<br />

5 Diese Ansicht wurde 1992 formuliert, als die „Initiative für eine bessere <strong>Bahn</strong> – fbb“<br />

gegründet wurde, u.a. mit Heiner Monheim, Tine Seebohm und Winfried Wolf. Aus dieser<br />

Initiative, die die <strong>Bahn</strong>reform und die <strong>Bahn</strong>privatisierung kritisierte, entstand bald darauf<br />

das „Manifest der 1435 Worte“ und schließlich 2001 die <strong>Bahn</strong>fachleutegruppe „Bürgerbahn<br />

statt Börsenbahn – BsB“, die wiederum 2005 zusammen mit Attac, Robin Wood und „<strong>Bahn</strong><br />

von unten“ (in Transnet, heute EVG) den Kern des Bündnisses „<strong>Bahn</strong> für Alle – BfA“ bildeten.<br />

Siehe die Vorworte.<br />

6 In: <strong>Berlin</strong>er Zeitung vom 4.November 2011.<br />

9


10<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Wie die <strong>Bahn</strong>zentrale die S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> regierte und dirigierte<br />

Steif und fest behauptet <strong>Bahn</strong>chef Grube, die<br />

DB AG, also die Zentrale des Konzerns Deutsche<br />

<strong>Bahn</strong> AG, sei für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise nicht verantwortlich.<br />

Man habe nicht in das operative<br />

Geschäft der S-<strong>Bahn</strong> eingegriffen. So argumentiert<br />

auch heute Grube als Märchenerzähler im<br />

<strong>Berlin</strong>er Abgeordnetenhaus (s. Kasten S. 14).<br />

Diese Darstellung ließ sich die Deutsche <strong>Bahn</strong><br />

AG auch noch wissenschaftlich absegnen –<br />

durch das Gutachten der Kanzlei Gleiss Lutz (s.<br />

Kasten S. 16).<br />

Wie massiv die DB-Zentrale in die S-<strong>Bahn</strong><br />

hineinregierte, ja wie sie geradezu die S-<strong>Bahn</strong><br />

im Stil eines Politbüros dirigierte, zeigt der folgende<br />

Bericht, der auf dem Höhepunkt der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise, im Januar 2011, im Spiegel<br />

erschien. „Die Zukunft der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> erledigten<br />

die Manager der Deutschen <strong>Bahn</strong> (DB)<br />

mit einem Knopfdruck. Mehrmals pro Jahr<br />

bestellten sie den Projektleiter der zur DB gehörenden<br />

S-<strong>Bahn</strong> in den <strong>Bahn</strong>-Tower am Potsdamer<br />

Platz. Mit dem Fahrstuhl ging es oft bis<br />

zum 21. Stockwerk, in den Sitzungssaal ´Fliegende<br />

Hamburger´. An einem <strong>Tisch</strong> warteten<br />

gut ein Dutzend hohe Konzern-Manager. Genau<br />

20 Minuten lang durfte der S-<strong>Bahn</strong>er vortragen.<br />

Weitere 20 Minuten wurden Nachfragen<br />

gestellt. Dann nahmen die Herren ein kleines<br />

Gerät vom <strong>Tisch</strong>. Wer mit den Vorschlägen der<br />

S-<strong>Bahn</strong> einverstanden war, drückte auf ein grünes<br />

Knöpfchen. Unzufriedene konnten auf gelb<br />

oder rot drücken. Der S-<strong>Bahn</strong>-Projektleiter saß<br />

zwar dabei, aber wer wie abgestimmt hatte,<br />

erfuhr er nicht. Am Ende warf ein Beamer das<br />

Ergebnis an die Wand, dann musste der S-<strong>Bahn</strong>er<br />

den Raum verlassen. Die Sparmaßnahmen,<br />

heißt es, bekamen nach anfänglichem Gelb eine<br />

grüne Ampel. So wurden seit 2005 Millionen<br />

Euro wegrationalisiert, und mit jedem Knopfdruck<br />

fuhr die S-<strong>Bahn</strong> tiefer in die Krise.“<br />

Es wurden vor allem Beschäftigte wegrationalisiert<br />

und Millionen Euro Gewinne gemacht.<br />

Interessant ist, dass der Bericht – offensichtlich<br />

aus juristischen Gründen, möglicherweise<br />

wegen Quellenschutzes – keinen einzigen Teilnehmer<br />

mit Namen nennt. Wer war besagter<br />

„Projektleiter“? Welche „hohen Konzern-Manager“<br />

waren anwesend? Wie oft war Hartmut<br />

Mehdorn dabei? Nahm Ulrich Homburg teil?<br />

Aber auch ohne diese spannenden Details ist<br />

der Bericht, dem die DB nie widersprach, eindeutig:<br />

Die Geschäftsführung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

wurde faktisch im <strong>Bahn</strong>tower bestimmt.<br />

Zitat aus: „Tote Gleise“, Der Spiegel 2/2011, Verfasser:<br />

S. Becker, P. Müller, A. Wassermann, P. Wensierski<br />

II. Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />

Das Börsengang-Programm OSB als<br />

direkter Auslöser des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters<br />

Am Anfang stand OSB – das Rationalisierungsprogramm<br />

„Optimierung S-<br />

<strong>Bahn</strong>“ aus dem Jahr 2004. Es orientierte<br />

auf die systematische Erhöhung des<br />

Gewinns aus den S-<strong>Bahn</strong>-Systemen<br />

<strong>Berlin</strong> und Hamburg. Es wurde weitgehend<br />

zeitgleich mit dem Projekt Börsengang<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG beschlossen<br />

und in dem Maß verschärft angewandt,<br />

wie der Kurs an die Börse an<br />

Fahrt aufnahm. Dazu heißt es in einem<br />

bahninternen Dokument, datiert auf den<br />

6. Mai 2004: „Es soll sichergesellt werden,<br />

dass Ende 2006 ein jährliches Einsparpotential<br />

von 40 Millionen Euro von<br />

den S-<strong>Bahn</strong>en (<strong>Berlin</strong> und Hamburg;<br />

W.W.) realisiert wird.“ Dieses Programm<br />

wurde untersetzt mit konkreten Zielsetzungen<br />

wie die Reduktion der Reservekapazitäten<br />

bei S-<strong>Bahn</strong>-Wagen und<br />

Triebwagen (132 funktionsfähige<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Wagen wurden verschrottet),<br />

den Abbau der S-<strong>Bahn</strong>-Belegschaft, die<br />

Schließung von Werkstätten und die<br />

Spreizung von Wartungsintervallen bzw.<br />

des Ausfalls von Wartungsmaßnahmen<br />

überhaupt. Als OSB im Jahr 2005 in<br />

Kraft gesetzt wurde, hatte die S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> noch 3676 Beschäftigte. Auf dem<br />

Höhepunkt der Krise, Mitte 2009, waren<br />

es noch 2769. Es gab einen Abbau der<br />

Belegschaft um ein Viertel in nur vier<br />

Jahren. Dabei stieg bis 2008 die<br />

Betriebsleistung (gemessen in Millionen<br />

Zugkilometer) noch. Noch schwerwiegender<br />

als der Belegschaftsabbau erwies<br />

sich die Schließung von Werkstätten<br />

und die Reduktion der Belegschaft im<br />

Bereich der Wartung und Instandhaltung<br />

auf rund ein Drittel. Die vielfachen<br />

höchst komplex erscheinenden „Erklärungen“,<br />

die bei den Höhepunkten der<br />

S-<strong>Bahn</strong>krise 2009 und 2010 für den<br />

Ausfall einzelner strategisch wichtiger<br />

Komponenten durch DB-Obere angeführt<br />

wurden, erweisen sich als unernst<br />

angesichts der realen und banalen<br />

Unterlassungen bei der Wartung. Im<br />

Winter 2009/2010 fielen reihenweise<br />

Motoren aus – angeblich „wegen Flugschnee“.<br />

Klaus Kurpjuweit führt diese<br />

Ausfälle im Tagesspiegel auf schlichte<br />

Verstöße gegen die Wartungsvorschriften<br />

des Motorenherstellers zurück:<br />

„Statt bei der Revision eine Isolationsschicht<br />

drei Mal zu lackieren, hat man<br />

sich mit einem einmaligen Arbeitsgang<br />

begnügt.“ (21.1.2010).<br />

Die Umsetzung von OSB wurde in der<br />

Konzernzentrale gesteuert – siehe der<br />

Kasten auf dieser Seite. Die Kontrolle<br />

über die Geschäftsführung der S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH erfolgte in der DB Regio-Zentrale.<br />

DB Regio war (und ist) der 100-prozentige<br />

Eigentümer der<br />

S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH. Der Geschäftsführer<br />

der S-<strong>Bahn</strong> GmbH, Ulrich Thon, hatte<br />

nicht einmal einen Vertrag mit der S-<br />

<strong>Bahn</strong> GmbH; vielmehr hatte er einen<br />

Vertrag mit DB Regio. Der Chef von DB<br />

Regio wiederum war Ulrich Homburg.<br />

Zitat zum Thema:<br />

Der damalige Vorstandvorsitzende Hartmut<br />

Mehdorn und der Aufsichtsratsvorsitzende<br />

der S-<strong>Bahn</strong> wurden durch die<br />

damalige Geschäftsführung nachdrücklich<br />

gewarnt, die Ergebnisse der OSB-<br />

Arbeitsgruppe umzusetzen. Wir waren<br />

dazu nicht bereit, weil wir besorgt waren,<br />

dass die vorgesehenen Maßnahmen<br />

die S-<strong>Bahn</strong> ruinieren würden. (…) Der<br />

heutige Zustand der S-<strong>Bahn</strong> war vorauszusehen.<br />

Es ist empörend, dieses Debakel<br />

jetzt bei uns Altgeschäftsführern abzuladen.<br />

Immerhin ist die heute völlig vermurkste<br />

Technik der 481 über 10 Jahre<br />

lang völlig störungsfrei mit einem außerordentlich<br />

hohen Verfügungsgrad (…)<br />

von weit über 90 % gefahren. Sie war<br />

gepflegt, pünktlich und von unseren<br />

Kunden hochgelobt. (…) Zur Zukunft der<br />

S-<strong>Bahn</strong> warnen meine Kollegen und ich<br />

dringend davor, eine Teilausschreibung<br />

vorzunehmen. Das würde eine Fortsetzung<br />

des Debakels ganz anderer Art sein,<br />

weil das S-<strong>Bahn</strong>-System eine in sich geschlossene,<br />

hoch komplexe, ganzheitliche<br />

Technologie ist.<br />

Ernst-Otto Constantin, ehemaliger Arbeitsdirektor<br />

und bis 2002 mitverantwortlicher<br />

Geschäftsführer der S-<strong>Bahn</strong> GmbH, in einem<br />

Offenen Brief an die damalige Verkehrssenatorin<br />

Frau Junge-Reyer vom 10.1.2011.<br />

Lunapark21·extra 6/2012


III. 2009: Der Beginn des Desasters<br />

Die Entwicklung der Krise der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> wird am besten mit der Fieberkurve<br />

der Anzahl der zur Verfügung stehenden<br />

Viertelzüge ausgedrückt. Allerdings<br />

sind hier niedrige Werte Ausdruck der<br />

sich vertiefenden Krise und ein Ansteigen<br />

der Kurve Ausdruck eines sich normalisierenden<br />

Betriebs. Vertraglich vereinbart<br />

war, dass 562 Viertelzüge im<br />

werktäglichen Verkehr in Einsatz sind.<br />

Diese Vereinbarung wurde auch vor der<br />

Krise nicht eingehalten. Die Spitzenwerte<br />

lagen bei 546 Viertelzügen, was drei<br />

Prozent weniger sind als vertraglich vereinbart.<br />

Der Einbruch im Januar 2009 wurde<br />

in der Öffentlichkeit noch als Ergebnis<br />

natürlicher Einflüsse interpretiert. In<br />

Wirklichkeit war dies bereits Resultat<br />

Jan. 2009<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Feb. 2009<br />

Mrz. 2009<br />

unzureichender Wintervorbereitung.<br />

Nachdem am 1. Mai ein S-<strong>Bahn</strong>zug der<br />

Baureihe (BR) 481 in Kaulsdorf wegen<br />

eines Radreifenbruchs entgleiste, ging es<br />

Schlag auf Schlag: Die S-<strong>Bahn</strong> versprach,<br />

alle Radsätze im 7-Tage-Rhythmus<br />

zu überprüfen (7.5.); das EBA<br />

ertappte das Unternehmen dabei, die<br />

Selbstverpflichtung nicht einzuhalten<br />

(29.6.). Am 7.9. wurden entdeckt, dass<br />

an einem Zug vier von acht Bremszylinder<br />

defekt sind – es kommt zu neuen<br />

Auflagen. Erneut ein Wartungsfehler.<br />

Laut VBB-Qualitätsbilanz 2009 hätten<br />

„bei der Hauptuntersuchung die Druckmuttern<br />

und der Dichtungsring ausgetauscht<br />

werden müssen, was jedoch<br />

nicht erfolgte.“ Schließlich versagen ab<br />

Mitte Dezember reihenweise Fahrmoto-<br />

Apr. 2009<br />

Mai 2009<br />

Jun. 2009<br />

Jul. 2009<br />

Aug. 2009<br />

Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />

ren – erneut aufgrund unzureichender<br />

Vorbereitung auf den Winter.<br />

In der Folge sind zeitweilig weniger<br />

als 200 Viertelzüge – oder nur ein Drittel<br />

der vertraglich vereinbarten Flotte – im<br />

Einsatz. Die Takte werden ausgedünnt.<br />

Wichtige Streckenabschnitte können<br />

nicht mehr bedient werden. Wochenlang<br />

verkehren selbst auf Stammstrecken wie<br />

Alexanderplatz – Westkreuz, Westkreuz<br />

- Spandau keine S-<strong>Bahn</strong>züge.<br />

Zitat zum Jahr:<br />

Bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> werden wir auf der<br />

Grundlage aller uns bekannter Restriktionen<br />

noch im Jahr 2010 zum Normalfahrplan<br />

zurückkehren.<br />

Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr<br />

Deutsche <strong>Bahn</strong>, 6.1.2010 (dapd)<br />

Anzahl der eingesetzten Viertelzüge der S-<strong>Bahn</strong> (werktags; Jan. bis Dez. 2009)<br />

Vor dem Beginn der Krise standen 546 Viertelzüge zur Verfügung, vertraglich bestellt waren 562 Viertelzüge (weiße Strichlinie)<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

Januar 2009: 3000<br />

ausgefallene Zugfahrten<br />

durch „unvorgesehenen“<br />

Kälteeinbruch<br />

1.5.2009:<br />

Radscheibenbruch<br />

Juli 2009: Das Eisenbahn-Bundesamt<br />

ordnet an, dass alle nicht fristgerecht<br />

gewarteten Züge außer Betrieb genommen<br />

werden müssen. In der Folge sind<br />

nur noch 165 Viertelzüge einsatzfähig.<br />

Eisenbahn Bundesamt fordert weitere<br />

Sicherheitsüberprüfungen;<br />

erste Notfahrpläne<br />

Sep. 2009<br />

7.9.2009: Bremsen<br />

falsch gewartet<br />

Oktober 2009: Zum ersten Mal<br />

seit Wochen wird wieder das<br />

gesamte S-<strong>Bahn</strong>-Netz befahren,<br />

aber mit einem dauerhaften Notfahrplan<br />

und verkürzten Zügen.<br />

Okt. 2009<br />

Nov. 2009<br />

Dez. 2009<br />

11


12<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

IV. 2010: Das Desaster als Dauerzustand<br />

Das neue Jahr begann erneut mit Winterchaos.<br />

Der Koloss DB-Konzern schien<br />

sich jedoch zu bewegen. Die Werkstatt<br />

Friedrichsfelde wurde nach einem langem<br />

Dornröschenschlaf wieder in Betrieb<br />

genommen. Grube und Homburg<br />

gaben bekannt, dass man zum Jahresende<br />

2010 wieder mit 501 Zügen im Einsatz<br />

sein werde. Dann erfuhren die Menschen<br />

in <strong>Berlin</strong> und im brandenburgischen<br />

Umland, dass das Unternehmen S-<br />

<strong>Bahn</strong> GmbH fünf Jahre lang mit nicht<br />

zugelassenen Rädern unterwegs gewesen<br />

war und am 17. März beim Eisenbahn-Bundesamt<br />

eine „Bauartänderung“<br />

mit fünfjähriger Verspätung nachreichte.<br />

Man stelle sich vor, eine Privatperson<br />

fährt fünf Jahre lang ohne TÜV… Am 2.<br />

September gab die S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />

Jan. 2010<br />

Feb. 2010<br />

Mrz. 2010<br />

Apr. 2010<br />

bekannt, dass die für diesen Zeitpunkt<br />

fest vereinbarte Hochfahrstufe nicht<br />

realisiert werden könnte. Die Schlagzeilen<br />

wurden von Begriffe wie „Besandungsanlagen“<br />

und „Füllstands- und<br />

Funktionskontrolleinrichtungen“<br />

geprägt: Die an den Fahrzeugen installierten<br />

Besandungsanlagen helfen, den<br />

für die Beschleunigung erforderlichen<br />

Reibwert zwischen Rad und Schiene<br />

durch Besandung der Schienenoberfläche<br />

z.B. bei ungünstiger Witterung herzustellen.<br />

Denselben Zweck erfüllen sie<br />

beim Bremsvorgang, indem sie die<br />

Bremswirkung verstärken. Bei Untersuchungen<br />

stellte sich heraus, dass diese<br />

Anlagen nicht einwandfrei funktionierten<br />

– was vor allem bei notwendig werdenden<br />

Bremsvorgängen fatale Folgen<br />

Mai 2010<br />

Jun. 2010<br />

Jul. 2010<br />

Aug. 2010<br />

haben könnte. Aufwendige Kontrollen<br />

wurden nötig. Die Verfügbarkeit der<br />

Züge wurde erneut reduziert. Und dann<br />

gab es tatsächlich Winter im Winter:<br />

Bereits nach dem ersten Schneefall am<br />

2. Dezember kam es zu vielen Weichenstörungen.<br />

Ein großer Teil des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Netzes wurde lahmgelegt. Erneut jagte<br />

die Fieberkurve den Tiefstständen des<br />

Jahres 2009 entgegen.<br />

Zitat zum Jahr:<br />

Dass wir in diesem Umfang einbrechen,<br />

habe ich mir nicht vorstellen können.<br />

Peter Buchner, (neuer) Geschäftsführer S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH, Dezember 2010<br />

Anzahl der eingesetzten Viertelzüge der S-<strong>Bahn</strong> (werktags; Jan. 2010 bis April 2012)<br />

Vor dem Beginn der Krise standen 546 Viertelzüge zur Verfügung, vertraglich bestellt waren 562 Viertelzüge (weiße Strichlinie)<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

Januar 2010: Die 2005 geschlossene<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Werkstatt Friedrichsfelde<br />

wird wieder eröffnet und in<br />

Betrieb genommen.<br />

ab 22.12.2009: Wintereinbruch<br />

& intensive<br />

Radsatzprüfung<br />

Februar 2010: Rüdiger Grube:<br />

„Bis zum Fahrplanwechsel am 13.<br />

12. 2010 werden wir wieder mit<br />

mindestens 501 Zügen den<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb sicherstellen.“<br />

25.3.2010: Die S-<strong>Bahn</strong>-Geschäftsführung<br />

bestätigt: Die Baureihe 485<br />

(„Coladosen“) fuhr mindestens fünf<br />

Jahre mit nicht zugelassenen oder<br />

veralteten Rädern. Die BR485-Wagen<br />

rollen aufs Abstellgleis.<br />

Sep. 2010<br />

Dezember 2010: Wintereinbruch,<br />

nur 221 Viertelzüge im Einsatz<br />

Oktober 2010: VBB-Chef Hans-Werner Franz:<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> habe ein knappes Jahr Zeit gehabt zu<br />

lernen. Das sei leider nicht erfolgt. „Jetzt hilft<br />

nur das gemeinsame Gebet, dass der nächste<br />

Winter harmloser ausfällt als der letzte." Das Gebet<br />

wurde nicht erhört bzw. es gab beim Wettergott-Adressaten<br />

ein Mißverständnis: Erst der<br />

Winter 2011/2012 fiel dann völlig harmlos aus.<br />

2. September 2010: S-<strong>Bahn</strong> GmbH teilt mit, dass<br />

sie die zugesagte „Hochfahrstufe“ nicht umsetzen<br />

könne. Als wesentliche neuer Problematik wird ein<br />

Versagen der Besandungsanlagen (wichtig für Beschleunigen<br />

und Bremsen) genannt. Die unzureichend<br />

funktrionierenden Besandungsanlagen führen<br />

bald zu neuen Ausfällen und Anfang 2011 zu<br />

erheblich reduzierten Maximalgeschwindigkeiten.<br />

Okt. 2010<br />

Nov. 2010<br />

Januar 2011: Ganze Streckenabschnitte<br />

werden nicht mehr bedient;<br />

Preiserhöhungen bei BVG &<br />

S-<strong>Bahn</strong> um durchschnittlich 2,8%.<br />

Dez. 2010<br />

Jan. 2011<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Februar 2<br />

60 km/h-<br />

Feb. 2011


Gleich Anfang Januar wurden erneut<br />

Hunderttausende Fahrgäste vor den Kopf<br />

gestoßen und auf andere Verkehrsmittel<br />

verwiesen – oder ihrer Mobilität beraubt.<br />

Die S-<strong>Bahn</strong>-Linien 25 und 5 wurden<br />

auf den Abschnitten Hennigsdorf –<br />

Nordbahnhof und Strausberg Nord –<br />

Strausberg nur noch mit „Schienenersatzverkehr“<br />

bedient. Die Linie S75 verkehrte<br />

überhaupt nicht mehr. Die Besandungsproblematik<br />

führte nun dazu, dass<br />

am 24. Januar ein neuer Fahrplan mit<br />

auf 60 km/h reduzierter Maximalgeschwindigkeit<br />

eingeführt werden musste.<br />

Im weiteren Verlauf des Jahres schien<br />

sich ein zunehmend stabiler S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Verkehr zu entwickeln. Doch als am 15.<br />

Dezember in Halensee ein Stellwerk ausfiel<br />

und der S-<strong>Bahn</strong>verkehr weitgehend<br />

17. März 2011: Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />

trifft sich zum ersten Mal und beschließt<br />

einige Wochen später, ein Volksbegehren<br />

gegen die drohende Ausschreibung von<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Linien zu initiieren.<br />

011:<br />

Notfahrplan<br />

Mrz. 2011<br />

V. 2011: Leichte Besserung & alte destruktive Wege<br />

Apr. 2011<br />

März 2011: Im Geschäftsbericht<br />

von DB ML wird die<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Krise allein als Resultat<br />

von Konstruktionsfehlern<br />

& Naturereignissen<br />

(„Flugschnee“) ausgegeben.<br />

Mai 2011<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Jun. 2011<br />

September 2011: S-<strong>Bahn</strong> kündigt<br />

beschleunigten Abbau von <strong>Bahn</strong>aufsichten<br />

an. Ende 2012 soll es<br />

nur noch auf 21 von 166 S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />

Personal geben.<br />

Jul. 2011<br />

Aug. 2011<br />

zusammenbrach, wurde erneut die Labilität<br />

der Lage verdeutlicht: Es gibt keine<br />

Rückfallebene; das gesamte S-<strong>Bahn</strong>-System<br />

ist inzwischen extrem krisenanfällig.<br />

Doch die S-<strong>Bahn</strong> GmbH beschreitet<br />

längst wieder den Weg, der tief in die<br />

Krise führte: Sie treibt den Belegschaftsabbau<br />

voran und will vor allem ihr fahrgastfeindliches<br />

Modell der S-<strong>Bahn</strong>höfe<br />

ohne Personal durchziehen. Sie hat auch<br />

„vergessen“, die Zahl der Triebfahrzeugführerinnen<br />

und –führer den allmählich<br />

wieder vergrößerten und im Einsatz befindlichen<br />

Zugkapazitäten anzupassen.<br />

Zwar fiel der Winter 2011/12 aus. Doch<br />

nun kam und kommt es zu Einschränkungen<br />

des Fahrbetriebs aufgrund von<br />

Fahrpersonalmangel. Die Unterinvestition<br />

bei der S-<strong>Bahn</strong>infrastruktur, die im<br />

Sep. 2011<br />

Januar 2012: S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />

gesteht das Fehlen von bis zu<br />

100 Triebfahrzeugführern ein.<br />

Okt. 2011<br />

22. März 2012: S-<strong>Bahn</strong> kündigt deutlich<br />

reduzierte Fahrplantakte an Wochenenden<br />

& Feiertagen auf einzelnen Linien an.<br />

Grund: Fahrermangel.<br />

Tariferhöhungen: BVG & S-<strong>Bahn</strong> kündigen<br />

neue Tariferhöhungen ab dem 1.8.2012 an.<br />

Von 2002 bis 2012 stieg der Preis für eine<br />

Monatskarte um 33% (Inflation = 17%).<br />

15. Dezember 2011: Aufgrund eines Stellwerkausfalls<br />

in Halensee brechen der S-<strong>Bahn</strong>-Verkehr<br />

und Teile des Regionalverkehrs fast in der gesamten<br />

Stadt zusammen. Menschen sitzen über<br />

Stunden in S-<strong>Bahn</strong>-Zügen fest. Der Ausfall eines<br />

einzigen Bauteils hat zu dem Defekt geführt.<br />

Nov. 2011<br />

Dez. 2011<br />

Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />

April 2012 bekannt wird, deutet darauf<br />

hin, dass es bald nochmals neue technische<br />

Gründe für reduzierten S-bahnverkehr<br />

geben könnte. Als überzeugendes<br />

Dankeschön für drei Jahre S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

verkündeten BVG und S-<strong>Bahn</strong> im März<br />

2012 neue Fahrpreiserhöhungen. Insbesondere<br />

die Stammkunden werden<br />

geschröpft werden.<br />

Zitat zum Jahr:<br />

Bei der Eisenbahn sollte man nie etwas<br />

garantieren.<br />

Rüdiger Grube, Vorstandsvorsitztender<br />

Deutsche <strong>Bahn</strong> AG, Spiegel online 10.1.2011<br />

23. Dezember 2011: Der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

<strong>Tisch</strong> übergibt der Landeswahlleiterin<br />

32000 Unterschriften für das Volksbegehren<br />

„Rettet unsere S-<strong>Bahn</strong>“.<br />

Jan. 2012<br />

Feb. 2012<br />

Mrz. 2012<br />

Apr. 2012<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

April 2012: Massive Mängel (Unterinvestition)<br />

bei S-<strong>Bahn</strong>-Infrastruktur<br />

werden publik. Bis 2020 müssen 1,5200<br />

Mrd Euro investiert werden.<br />

100<br />

13


14<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise,<br />

der <strong>Bahn</strong>chef,<br />

und die Verantwortung Montage: J.Römer<br />

Am 10. Januar 2011 hatte Rüdiger Grube<br />

einen Auftritt im Abgeordnetenhaus<br />

<strong>Berlin</strong>. Dort erklärte er den Abgeordneten<br />

und der <strong>Berlin</strong>er Öffentlichkeit verkürzt<br />

viererlei: Erstens, dass der Hersteller<br />

die Hauptschuld trägt. Zweitens, dass<br />

der Natur glasklar eine Mitverantwortung<br />

zugesprochen werden muss. Drittens,<br />

dass die S-<strong>Bahn</strong> GmbH ein Sauladen<br />

ist oder zumindest war, wobei man<br />

für diesen Zustand die Muttergesellschaft<br />

in keiner Weise verantwortlich<br />

machen könne. Im übrigen trage – viertens<br />

– der DB-Konzern mit der S-<strong>Bahn</strong><br />

eher eine große – auch eine erhebliche<br />

finanzielle – Last, die er jedoch im Interesse<br />

der Allgemeinheit und aus purem<br />

Verantwortungsgefühl weiter tragen<br />

werde.<br />

Im folgenden O-Töne des <strong>Bahn</strong>chefs<br />

auf Basis des offiziellen Vorab-Redemanuskripts<br />

(gewagte Wortkonstruktionen<br />

und fragwürdige Grammatik inbegriffen).<br />

Der Fahrzeughersteller war´s<br />

„Was mich in der öffentlichen Diskussion<br />

allerdings stört, dass so gut wie gar<br />

nicht erwähnt wird, dass der eigentliche<br />

Auslöser für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise die mangelhafte<br />

und falsch konstruierte Fahrzeugflotte<br />

BR 481 eines bekannten Herstellers<br />

ist, die uns all die Schwierigkeiten<br />

bereitet.“<br />

„Der zentrale Schwachpunkt ist und<br />

bleibt die Fahrzeugkonstruktion der BR<br />

481 von Bombardier. (…) Wie ausführlich<br />

bekannt, verfügt die Baureihe 481 über<br />

technische und konstruktive Mängel, die<br />

kurz- und mittelfristig nicht lösbar sind.“<br />

„Lassen Sie uns nicht vergessen, aufgrund<br />

eines Konstruktionsfehlers, nämlich<br />

mangelnder Bremsleistung, dürfen<br />

wir nicht, wie eigentlich bestellt, 100<br />

km/h fahren.“<br />

„Ich sage ganz offen, wie stabil sich<br />

das Gesamtsystem beim nächsten längeren<br />

Winter- bzw. Frost- und Schnee-Ein-<br />

bruch verhält, ist nicht vorhersehbar,<br />

aufgrund der konstruktionsbedingten<br />

Mängel der Flotte.“<br />

Fatales Zusammenspiel<br />

von Fiesling Natur und<br />

Technikschrott<br />

„Zusätzlich kam dann noch der kälteste<br />

und schneereichste Dezember seit 41<br />

Jahren mit den größten betrieblichen<br />

Herausforderungen seit der norddeutschen<br />

Schneekatastrophe im Winter<br />

1978.“<br />

„Hohe Störanfälligkeit der Antriebe<br />

und der Elektronik insbesondere bei<br />

Flugschnee und Hitze, die ebenfalls konstruktionsbedingt<br />

sind. Wir hatten in<br />

diesem Winter vier mal höhere witterungsbedingte<br />

Antriebsstörungen im<br />

Dezember 2010 gegenüber dem Vorjahr<br />

vorliegen.“<br />

Sauladen S-<strong>Bahn</strong> GmbH, für<br />

den die DB AG nullkommanull<br />

Verantwortung trägt<br />

„Wir haben leider festgestellt, dass die<br />

frühere S-<strong>Bahn</strong>-Geschäftsleitung eine<br />

bereits in 2000 zugesagte Selbstverpflichtung<br />

bezüglich von durchzuführenden<br />

Wirbelstromprüfungen von Beginn<br />

an einfach ignoriert hat. Dies hat<br />

zu einer völligen Stilllegung der BR 485<br />

geführt. Hinzu kam noch, dass wir (…)<br />

festgestellt haben, dass im Jahr 2004<br />

geschmiedete Radkörper anstelle der<br />

zugelassenen Radkörper aus Gussmetall<br />

zum Einsatz kamen, hierüber hat man<br />

dem EBA aber nie eine Änderungsanzeige<br />

zukommen lassen.(…) Als weiteres<br />

Problem sind in der Folge alte, früher<br />

nicht weiter verfolgte Achsbrüche aus<br />

den Jahren seit 2006 aufgetaucht.“<br />

Den Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong><br />

werden wir aus purer Verantwortung<br />

uneigennützig<br />

weiterbetreiben<br />

„In den letzten Jahren sind hohe dreistellige<br />

Millionenbeträge aus Mitteln des<br />

Bundes und der DB AG in die Modernisierung<br />

und den Ausbau der S-<strong>Bahn</strong>-Infrastruktur<br />

geflossen. Die Infrastruktur<br />

befindet sich insgesamt in einem deutlich<br />

besseren Zustand als in früheren<br />

Jahren. Das Bauvolumen in 2010 ohne<br />

das Großprojekt Flughafen BBI betrug<br />

102,3 Mio. In 2011 werden nochmals<br />

116,7 Mio (ohne BBI) investiert.“<br />

„Ich habe mir mal die Kosten zusammenstellen<br />

lassen, was uns die Krise (…)<br />

mindestens kosten wird. (…) Bis einschließlich<br />

2014 kumulieren sich die<br />

Effekte auf fast 700 Mio Euro. (…) Wir<br />

haben bisher in das System S-<strong>Bahn</strong> rund<br />

eine Milliarde Euro investiert, aber bis<br />

einschließlich 2010 keinen einzigen Euro<br />

verdient. Von einer Rendite kann also<br />

nicht gesprochen werden. (…) Wir werden<br />

auch bis zum Auslauf des Verkehrsvertrags<br />

in 2017 keinen einzigen Euro<br />

verdienen.“<br />

„Wir stellen uns unserer Verantwortung,<br />

weil wir diejenigen sind, die ein<br />

Leistungsversprechen (…) abgegeben<br />

haben. Und dieses Leistungsversprechen<br />

wollen wir auch einlösen!!!“<br />

„Die Frage des Geldes bei der Lösung<br />

der Probleme steht nicht im Vordergrund.<br />

Sondern es geht uns ausschließlich<br />

um die Entwicklung einer dauerhaften,<br />

stabilen Lösung.“<br />

Lunapark21·extra 6/2012


VI. Absolution erster Klasse: Die offizielle Analyse<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters – der Gleiss Lutz-Bericht<br />

Der 60 Seiten starke Bericht der Kanzlei Gleiss Lutz zur S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> vom 23. Februar 2010<br />

stellt die einzige umfassende Analyse des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters dar. Der Auftraggeber für die<br />

Untersuchung war die DB selbst. Da die DB sich in Bundeseigentum befindet, tragen letzten<br />

Endes der Bund bzw. die Bundesregierung für diesen Bericht wesentliche Verantwortung.<br />

Die Bundesregierung bezieht sich auch<br />

positiv auf diesen Bericht (siehe Antwort<br />

der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage<br />

der Grünen zum „Sachstand Notbetrieb<br />

der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>, Drucksache<br />

17/1384). Umso fataler ist, dass es sich<br />

bei diesem Dokument, das bereits mit<br />

dem offiziellen Titel („Untersuchung zu<br />

den Ursachen der Betriebsstörungen bei<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“) das S-<strong>Bahn</strong>-Desaster<br />

bagatellisiert, um ein Gutachten handelt,<br />

in dem die wesentlichen Ursachen der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise nicht genannt werden und<br />

vor allem die Konzernebene von jeder<br />

Verantwortung freigesprochen wird. Der<br />

Geschäftsführer des Verkehrsverbundes<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburg, Hans Werner Franz,<br />

sprach zu Recht von einem „Gefälligkeitsgutachten“.<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Es gibt in dem Text entsprechend<br />

einen seltsamen Bruch. Während bis auf<br />

Seite 41 zum Teil krasse Fehlleistungen<br />

von Herstellern, Lieferanten und dem<br />

eigentlichen Unternehmen S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH dokumentiert werden, wird der<br />

Bericht ab Kapitel 4 „Konzerneinfluss<br />

und Fehler der Sanierungsprogramme“<br />

ausgesprochen schmallippig.<br />

In dem 20 Seiten langen Abschnitt,<br />

der dann folgt, gibt es keine Kritik an der<br />

Schließung von Instandhaltungseinrichtungen.<br />

Der massive Beschäftigungsabbau<br />

in diesem Zeitraum taucht nicht<br />

einmal auf. Allerdings äußert sich der<br />

Bericht in diskriminierender Weise zum<br />

Alter der S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten (siehe<br />

Kasten S. 17). Der Abbau des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Personals auf den <strong>Bahn</strong>höfen wird posi-<br />

Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise – Verantwortung<br />

tiv wie folgt kommentiert: „Das OBS<br />

(Rationalisierungsprogramm Optimierung<br />

S-<strong>Bahn</strong>en) zielte auf eine Effizienzsteigerung<br />

des Betriebsprozesses ab, vor<br />

allem über eine Abfertigung der Züge<br />

durch die Triebfahrzeugführer (...) Hierin<br />

wird ein Potential des Abbaus von wenigstens<br />

503 Mitarbeitern gesehen.“<br />

(S.47).<br />

Die Bilanz lautet dann auch: „In vielen<br />

Bereichen war OSB ein Erfolg.“ Noch<br />

deutlicher auf Seite 60: „Das vom DB-<br />

Konzern (...) initiierte Optimierungsprogramm<br />

OSB (ist) für die aktuellen Betriebsstörungen<br />

nicht verantwortlich.“ Es<br />

habe vor allem „Umsatzsteigerungen<br />

und weitere Verbesserungen“ mit sich<br />

gebracht. Grundsätzlich seien die Gewinne<br />

der S-<strong>Bahn</strong> quasi nur durch höhe-<br />

15


16<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Gleiss Lutz im O-Ton und Charakter der Kanzlei<br />

Der Bericht verschweigt komplett den radikalen Belegschaftsabbau. Zur Situation<br />

der Beschäftigten bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH heißt es jedoch: „Das Durchschnittsalter<br />

der Beschäftigten der S-<strong>Bahn</strong> ist kontinuierlich gestiegen, von 40<br />

Jahren in 2000 auf 45,1 Jahren in 2008, wobei das Durchschnittsalter im Bereich<br />

Fahrzeuginstandhaltung 2008 sogar 47,1 Jahre betrug. Dies wohlgemerkt in einem<br />

Unternehmen, in dem die Mehrzahl der Beschäftigten mit körperlicher Arbeit verbundene<br />

Tätigkeiten ausführt, Triebzüge fährt und instandhält.“ (S.46).<br />

Einmal abgesehen davon, dass das Alter nicht ausschlaggebend für die Qualität<br />

der Belegschaft ist, verschweigt der Bericht, dass der radikale Belegschaftsabbau,<br />

den es in den vorausgegangenen zehn Jahren gab, letzten Ende erheblich zu dem<br />

relativ hohen Durchschnittsalter beitrug.<br />

Bei der Kanzlei Gleiss Lutz handelt sich um ein Büro mit 250 Anwälten, verteilt<br />

auf acht Städte in Europa und mit einem – für eine Kanzlei – sehr hohen Umsatz<br />

von 109 Mio Euro. Die Kanzlei rühmt sich, für mehr als zwei Drittel der DAX-Konzerne<br />

aktiv zu sein. Gleiss Lutz ist nach eigenen Angaben auf das „M&A-Business“,<br />

auf Unternehmensübernahmen und Zusammenschlüsse, spezialisiert – also beispielsweise<br />

für eine bald wieder anstehende Privatisierung der <strong>Bahn</strong>. Der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Bericht ist nicht die erste Hilfestellung für die DB AG. Der für Gleiss Lutz aktive<br />

ehemalige Justizminister Rupert Scholz warf sich im März 2009 – auf dem Höhepunkt<br />

der <strong>Bahn</strong>-Spitzelaffäre – für den Konzern ins Zeug und unterstrich, dass die<br />

<strong>Bahn</strong> „durch Hartmut Mehdorn glänzend geführt“ werde (Tagesspiegel 25.2.2010).<br />

Der Fall Großmann<br />

In einer Kleinen Anfrage der Grünen vom April 2010 heißt es:<br />

„Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass<br />

der Alleingesellschafter der Georgsmarienhütte Holding GmbH, welche die Radsätze<br />

für die Baureihe 481 an die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH geliefert hat, gleichzeitig dem<br />

Aufsichtsrat der DB AG angehörte?“<br />

Die Antwort der Bundesregierung lautete: „Das genannte Aufsichtsratsmitglied<br />

ist aus Sicht der Bundesregierung ein ausgewiesener Experte mit hoher fachlicher<br />

Kompetenz. Die Bundesregierung geht von seiner Unabhängigkeit aus. Die Möglichkeit<br />

von Interessenskonflikten ist in jedem Einzelfall vom Aufsichtsratsvorsitzenden<br />

selbst zu prüfen und anzuzeigen.“<br />

Die Frage der Grünen traf ins Schwarze, auch wenn der Name Großmann mit<br />

falscher Höflichkeit unerwähnt blieb. Das letzte Wort und hier der Imperfekt ist<br />

allerdings irritierend: Großmann ist auch heute noch Aufsichtsrat der Deutschen<br />

<strong>Bahn</strong> AG. Und der Interessenskonflikt, in dem er sich dabei befindet, betrifft bei<br />

den ICE-Achsen, die zu einem großen Teil nicht dauerfest sind und die in den Jahren<br />

2013 bis 2015 zu tausenden ausgetauscht werden müssen, ein weit größeres<br />

Geschäftsvolumen als im Fall der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />

Quelle: Bundestagsdrucksache 17/1384<br />

Foto: Klaus Ihlau<br />

re Einnahmen aus den Erlösen im Personenverkehr<br />

erzielt worden. „Der Rückgang<br />

der Instandhaltungskosten war<br />

dafür nur von untergeordneter Bedeutung.“<br />

(S.48).<br />

Das ist schlicht die Unwahrheit. Die<br />

Schließung von Werkstätten, der Abbau<br />

der Belegschaft, die Verschrottung von<br />

132 S-<strong>Bahn</strong>-Wagen – all das war explizit<br />

Teil von OSB. Der Umstand, dass das<br />

Unternehmen seither keine Reservekapazitäten<br />

mehr hat, ist direkt OSB zu<br />

verdanken. Im Hauptwerk der Instandhaltung<br />

wurde als Teil der OSB-Sparmaßnahmen<br />

die Zahl der Beschäftigten<br />

von 800 auf rund 200 heruntergefahren;<br />

die Zahl der Meister von 26 auf 3. Das<br />

war ebenso gewinnbringend für den<br />

Konzern wie es zerstörerisch für die<br />

S-<strong>Bahn</strong> selbst war.<br />

Struktur der S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />

als Teil der DB AG<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH gehört zu 100<br />

Prozent der DB Regio AG, die wiederum<br />

eine Tochter der in Bundeseigentum befindlichen<br />

Deutschen <strong>Bahn</strong> AG ist. Die<br />

operative Geschäftsführung für die<br />

S-<strong>Bahn</strong>en wurde einer gesonderten Gesellschaft,<br />

der DB Stadtverkehr, übertragen;<br />

allerdings: nicht ein Prozent des<br />

Eigentums. Dieses blieb zu 100 Prozent<br />

bei DB Regio.<br />

Im Frühjahr 2008 wurde alles nochmals<br />

komplizierter: die Subholding DB<br />

ML (Mobility and Logistic) wurde zwischen<br />

DB AG und alle Schienenverkehrsunternehmen<br />

(DB Regio, Fernverkehr<br />

und Railion/Schenker) geschaltet. DB ML<br />

kontrolliert also DB Regio AG.<br />

Nun wird in dem Gleiss Lutz-Bericht<br />

das Einwirken des Konzerns bzw. von DB<br />

ML bzw. von DB Regio auf die S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH nicht thematisiert. Es werden<br />

lediglich einige lächerliche Probleme wie<br />

Kommunikationsmängel (S. 50/51), unzureichende<br />

„Audits“ der Werkstätten<br />

(S.51) und eine problematische „Unternehmenskultur“<br />

(S.52) angesprochen.<br />

Selbst so krasse Dinge wie die – oben<br />

zumindest abgesegnete – „Spreizung“<br />

der Wartungsintervalle wird in dem Dokument<br />

lässig kommentiert mit: „Die<br />

früher bei der S-<strong>Bahn</strong> praktizierten Verlängerungen<br />

von Wartungs- und Instandhaltungsfristen<br />

und von Laufleistungen<br />

bis zur Hauptuntersuchung wur-<br />

Lunapark21·extra 6/2012


den den Anforderungen an einen sicheren<br />

und zuverlässigen Eisenbahnbetrieb<br />

nicht gerecht.“ (S. 60). Tatsächlich handelte<br />

es sich hier schlicht um ein kriminelles<br />

Vorgehen – um Verstöße gegen<br />

klare Vorgaben, auch solche der Eisenbahn-Aufsicht,<br />

des Eisenbahn-Bundesamtes.<br />

Auf diese Weise wurde das Leben<br />

und die Gesundheit der S-<strong>Bahn</strong>-Fahrgäste<br />

und der S-<strong>Bahn</strong>-Begleitpersonale<br />

aufs Spiel gesetzt.<br />

Besonders originell ist, dass bei den<br />

Debatten um die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Ulrich<br />

Homburg, Vorstand Personenverkehr bei<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG, immer wieder<br />

als derjenige auftritt, der die Kritik an<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH vorträgt und<br />

unter anderem „Konsequenzen“ fordert<br />

bzw. solche umsetzt. Homburg war bis<br />

Herbst 2009 Vorstandsvorsitzender von<br />

DB Regio. Die aus der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

GmbH herausgepressten Extraprofite<br />

wurden direkt an DB Regio abgeführt.<br />

Der Verweis von Ulrich Homburg, wonach<br />

die DB Stadtverkehr „verantwortlich<br />

für das operative Geschäft“ gewesen<br />

sei, geht ins Leere. Homburg gehörte<br />

auch dem Aufsichtsrat der S-<strong>Bahn</strong> an.<br />

Doch auch ohne diese Funktion im<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Aufsichtsrat tragen die Konzern-Manager<br />

der Eigentümer-AG selbst<br />

Mitverantwortung. Tatsächlich haben<br />

nach Aktienrecht der Eigentümer der<br />

S-<strong>Bahn</strong>, also DB Regio, und die Konzern-<br />

Muttergesellschaft, die Verpflichtung,<br />

sich regelmäßig über den Geschäftsverlauf<br />

im allgemeinen und über dessen<br />

Risiken berichten zu lassen. Der Wirtschaftsrecht<br />

Professor Hans-Peter<br />

Schwintowski von der HU <strong>Berlin</strong> äußerte<br />

sich dazu speziell vor dem Hintergrund<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Debakels wie folgt: „Selbstverständlich<br />

hat der Vorstand der Obergesellschaft,<br />

in diesem Fall Herr Homburg,<br />

nach wie vor die Verantwortung,<br />

zwar nicht für jede einzelne Schraube im<br />

Unternehmen, aber doch für die Gesamtheit<br />

vor allem der Risiken.“ (rbb-<br />

Sendung vom 23.9.2009).<br />

Doch der Gleiss Lutz-Bericht stellt<br />

fest, die Aufsichtsräte der <strong>Bahn</strong> hätten<br />

während der S-<strong>Bahn</strong>-Krise „überdurchschnittlich<br />

gründlich gearbeitet“.<br />

Wir dokumentierten bereits, wie konkret<br />

die Konzernzentrale in die S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH hineinregierte (siehe Kasten S.<br />

10). Der damalige Betriebsratsvorsitzen-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

de der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH, Heiner<br />

Wegner, äußerte, er empfinde den Gleiss<br />

Lutz-Bericht als eine „schallende Ohrfeige“.<br />

Auch er verwies auf die enge Einbindung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> in den Konzern<br />

und sagte: „Die S-<strong>Bahn</strong> durfte gar keine<br />

eigenen Entscheidungen treffen.“ Wegner<br />

unterstrich insbesondere, dass die<br />

Arbeitnehmervertretung wiederholt auf<br />

die extremen Missstände vor allem im<br />

Bereich der Wartung verwiesen hatte:<br />

„Ich habe mehrmals mit den Geschäftsführern<br />

von DB Stadtverkehr (…) gesprochen.<br />

Es gab Gespräche mit dem Vorstand<br />

Personenverkehr, Karl-Friedrich<br />

Rausch. Schließlich gab es im Sommer<br />

2008 auch ein Gespräch mit dem DB<br />

Vorstand für Finanzen, Diethelm Sack.<br />

(…) wir haben allen gesagt, dass seit<br />

2003 katastrophale Zustände herrschen.<br />

Es wurde zu viel Personal abgebaut, dass<br />

wir die Züge nicht mehr wöchentlich<br />

warten konnten. Sie wurden manchmal<br />

nur noch alle 21 Tage untersucht. In die<br />

Instandhaltung wurden sie nur noch<br />

halb so oft geschickt wie vorgesehen.<br />

Das hat die S-<strong>Bahn</strong> alles missachtet –<br />

und das wussten Aufsichtsrat und Konzern.“<br />

(die tageszeitung vom 25.2.2010).<br />

Als er und sein Stellvertreter Hoffmann<br />

in ähnlicher Weise den damaligen Aufsichtsratschef<br />

Hermann Graf von der<br />

Schulenburg „über die Missstände informiert“<br />

hätten, habe von der Schulenburg<br />

„mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen“<br />

gedroht. (Tagesspiegel 25.2.2010).<br />

Lieferanten als Kontrolleur<br />

Der Bericht nennt – wie <strong>Bahn</strong>chef Grube<br />

– als Verantwortliche für das S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Desaster in erster Linie die Hersteller<br />

und hier neben Bombardier als den Lieferanten<br />

der S-<strong>Bahn</strong>-Garnituren auch<br />

die Radsatzfabrik Ilsenburg GmbH<br />

(RAFIL). Diese hatte die Räder und Radsatzwellen<br />

für S-<strong>Bahn</strong>-Wagen geliefert,<br />

die inzwischen ausgetauscht werden<br />

mussten. Dezent verschweigt die Kanzlei<br />

Gleiss Lutz hier einen entscheidenden<br />

Zusammenhang. Tatsächlich wurde die<br />

Ilsenburg GmbH 1991 von dem führenden<br />

deutschen Radsatzhersteller VSG<br />

Vereinigte Schmiedewerke GmbH in<br />

Bochum übernommen. Die VSG hatte die<br />

Räder geliefert, die die Eschede-Katastrophe<br />

1998 ausgelöst hatten; das<br />

Unternehmen wurde später in Bochumer<br />

Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise – Verantwortung<br />

Verein umbenannt. Der Bochumer Verein<br />

gehört zur Georgsmarienhütte, die sich<br />

wiederum zu 100 Prozent im privaten<br />

Eigentum eines gewissen Jürgen R.<br />

Großmann befindet. Jürgen R. Großmann<br />

war damals (und bis vor wenigen<br />

Wochen) im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender<br />

des Energiekonzerns RWE. Er<br />

ist Euro-Milliardär und einer der Reichsten<br />

im Lande … und Großmann ist seit<br />

mehreren Jahren Mitglied des Aufsichtsrats<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG.<br />

Das heißt: Der Privateigentümer von<br />

Bochumer Verein und Rafil, der zwei in<br />

Europa führenden Radsatz- und Radwellenhersteller,<br />

die beide zugleich Hauptlieferanten<br />

der DB AG und der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> sind, „kontrolliert“ die DB AG.<br />

Während die <strong>Bahn</strong> AG und die S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> GmbH Interesse an dauerfesten<br />

Radsatzwellen und an preisgünstig zu<br />

beziehenden Radsatzwellen haben müssen,<br />

sind die Interessen beim Eigentümer<br />

der genannten Radsatzwellen-Firmen<br />

Großmann deutlich anders gewichtet.<br />

Ihm kann es „nur“ darum gehen, dass<br />

seine Unternehmen weiter Hauptlieferant<br />

der DB AG bleiben. Nicht unrecht<br />

kann ihm sein, wenn zu überhöhten<br />

Preisen geliefert wird. Und wenn dabei<br />

gelegentlich Produkte in suboptimaler<br />

Qualität geliefert werden, dann ist das<br />

solange nicht geschäftsschädigend, wie<br />

man an neuen Zulieferungen verdient.<br />

Den Grünen war diese Personalie eine<br />

Anfrage bei der Bundesregierung wert.<br />

Die Antwort der Bundesregierung, wonach<br />

sie von der „Unabhängigkeit“ von<br />

Herrn Großmann ausgehe, ist grotesk<br />

bzw. weltfremd (Siehe Kasten)<br />

Die Bilanz lautet: Die offizielle Position<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG und im Großen<br />

und Ganzen diejenige der Bundesregierung<br />

lautet: Die „Schuld“ an dem<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Desaster haben die Hersteller<br />

und Manager der S-<strong>Bahn</strong> GmbH, die als<br />

Bauernopfer den Konzern verlassen haben<br />

oder in andere Positionen verschoben<br />

wurden. Die entscheidenden Ursachen<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters – der Personalabbau<br />

und die Einsparungen bei Instandhaltung<br />

und Wartung, wurden<br />

nicht herausgearbeitet. Eine solche Krise<br />

kann sich damit grundsätzlich wiederholen.<br />

17


18<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Engpass Mensch als Tf<br />

Anfang 2012 widmeten sich zwei Ausgaben<br />

der Zeitschrift punkt 3 1, die von<br />

der S-<strong>Bahn</strong> GmbH und DB Regio herausgegeben<br />

wird, dem Fahrermangel bei der<br />

S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />

In der Januar-Ausgabe heißt es: „Vor<br />

besonderen Herausforderungen steht die<br />

Transportleitung dadurch, dass die Verfügbarkeit<br />

der Fahrzeuge schwankt und<br />

nicht genügend Lokführer einsetzbar<br />

sind.“ Zu diesem Zeitpunkt gab es noch<br />

eine öffentlich geführte Polemik über<br />

einen angeblich zu<br />

hohen Krankenstand bei<br />

den Triebfahrzeugführern.<br />

Weiter im Text:<br />

„Aktuell kann der aus<br />

verschiedenen Gründen<br />

mehrfach gestiegene<br />

Bedarf an Triebfahrzeugführern<br />

(Tf)<br />

nicht gedeckt werden,<br />

obwohl seit über einem<br />

Jahr mit voller Kraft<br />

neue Tf ausgebildet werden.<br />

Engpässe sind dabei<br />

die Kapazität im S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Simulator und die<br />

praktische Ausbildung<br />

im Führerstand. Im Vergleich<br />

zu Lokführern<br />

anderer <strong>Bahn</strong>en benötigen<br />

Tf der S-<strong>Bahn</strong><br />

wegen technischer Besonderheiten<br />

eine umfangreicheZusatzausbildung.<br />

Um künftig ausreichend Tf einsetzen<br />

zu können hat die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

neue Mitarbeiter gesucht. Sämtliche<br />

Ausbildungsplätze für 2012 sind jetzt<br />

vergeben.“<br />

Zwei Ausgaben später heißt es im<br />

Blatt punkt 3: „Engpässe bei Triebfahrzeugführern<br />

sorgen immer mal wieder<br />

für Einschränkungen im S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb.<br />

Es gibt zu wenig Personal, um unter Beachtung<br />

neuer Tarifregelungen den<br />

Fahrgastverkehr sowie alle Rangier- und<br />

Zuführungsfahrten stabil abzudecken<br />

und Krankenstände auszugleichen. Verstärkung<br />

für die Personaldecke zu schaffen,<br />

das hat deshalb höchste Priorität.“<br />

Wer verschwurbelt formuliert, hat<br />

meist etwas zu verbergen. Warum sollte<br />

bloß eine „PersonalDECKE verstärkt wer-<br />

den; alle Beteiligten wären zufrieden,<br />

wenn das Personal verstärkt werden<br />

würde. Welche „neuen Tarifregelungen<br />

im Fahrgastverkehr“ sollte es bloß gegeben<br />

haben? Dass der Fahrgastverkehr<br />

„stabil“ abzudecken und dass „Krankenstände<br />

auszugleichen“ sind, ist A und O<br />

bei einem S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb.<br />

Ganz offensichtlich hatte die Verstärkung<br />

des Personals eben keine Priorität.<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> wird seit fast drei Jahren mit<br />

einer Wagenflotte, die im Durchschnitt<br />

um 20 bis 30 Prozent unter der vertraglich<br />

zugesicherten Zahl an Fahrzeugen<br />

liegt, gefahren. Mehrfach wurde versprochen,<br />

in Bälde wieder im Normalbetrieb<br />

verkehren zu können. Es ist dabei<br />

leicht zu berechnen, wie viele Triebfahrzeugführer<br />

bei einem Normalbetrieb erforderlich<br />

sein würden. Die „Engpässe<br />

am Simulator“ und der spezifische Charakter<br />

der Ausbildung für die S-<strong>Bahn</strong>-<br />

<strong>Berlin</strong> – mit dem ermüdenden Hinweis,<br />

diese sei ja „ein Unikat“ – überzeugen<br />

aus drei Gründen nicht.<br />

Erstens dauert die gesamte Ausbildung<br />

2 laut Angaben der DB AG nur „118<br />

Arbeitstage“, was „einem Zeitraum von<br />

einem halben Jahr“ entspricht. Dabei<br />

scheint eine der ursprünglichen Voraussetzungen<br />

zur Zulassung für diese Aus-<br />

bildung, die einer „abgeschlossenen Berufsausbildung“<br />

entspricht, nochmals<br />

aufgegeben worden zu sein. Die S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH führte 2012 eine „Berufsausbildung<br />

zum kombinierten Beruf Triebfahrzeugführer(in)<br />

/ Industriemechaniker(in)“<br />

ein.<br />

Zweitens heißt es in dem zitierten<br />

Text unzweideutig, dass „seit über einem<br />

Jahr“, also seit Anfang 2011, neue S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Fahrer ausgebildet werden würden.<br />

Ein Normalbetrieb war jedoch bereits<br />

mehrfach angekündigt,<br />

so für Anfang<br />

2010 und dann Anfang<br />

2011. Er hätte zu diesen<br />

Zeitpunkten voraussichtlich<br />

bereits wegen<br />

des „Tf-Engpasses“<br />

nicht realisiert werden<br />

können.<br />

Drittens schreibt die<br />

S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im<br />

Februar 2012 selbst,<br />

dass „derzeit vier Lehrgänge<br />

parallel“ laufen<br />

und „weitere vier mit<br />

12 bis 15 Teilnehmern<br />

dieses Jahr noch starten“<br />

würden (punkt 3,<br />

Nr. 4/2012). Ganz<br />

offensichtlich hat das<br />

Unternehmen recht<br />

plötzlich die Zahl der<br />

Auszubildenden massiv<br />

erhöht, da zu diesem<br />

Zeitpunkt – möglicherweise unerwartet<br />

– bereits wieder gut 470 Viertelzüge im<br />

Einsatz waren und nun anstelle der Ausfälle<br />

beim rollenden Material der Mangel<br />

an Triebfahrzeugführern zum entscheidenden<br />

Engpass wurde. Auch hier ist<br />

interessant, dass das Hochfahren der<br />

Zahl der in Ausbildung Befindlichen<br />

offensichtlich möglich war und dem<br />

Angeführten die „Engpässe am Fahrsimulator“<br />

nicht grundsätzlich im Weg<br />

standen.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Nr. 2/2012 vom 26. Januar 2012 und Nr. 4/<br />

2012 vom 23. Februar 2012.<br />

2 Die Ausbildung wird bezeichnet als „Erstausbildung<br />

zum Eisenbahnfahrzeugführer<br />

Klasse 3; Zulassung für alle öffentlichen<br />

Streckennetze“.<br />

Lunapark21·extra 6/2012


VII. Frühjahr 2012: Neues Stadium der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

Drei neue Elemente im S-<strong>Bahn</strong>-Desaster: Fahrermangel – <strong>Bahn</strong>höfe<br />

ohne Personal und Teilausschreibung des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebs<br />

In den ersten Monaten des Jahres 2012 wird die Bedeutung der Krise, das negative Image,<br />

das von der Unzuverlässigkeit des S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrs ausgeht, zumindest in den Medien<br />

kaum noch zur Kenntnis genommen. Das kann denen, die für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Verantwortung<br />

haben, nur Recht sein: eine eingelullte Öffentlichkeit verschafft ihnen neuen Spielraum.<br />

Gelingt es, dass die vormals heftige Kritik abflaut und die Fahrgäste die S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Dauerkrise als eine Art Naturnotwendigkeit hinnehmen, dann kann dort weitergemacht<br />

werden, wo 2003 begonnen wurde: mit dem Abbau von Personal, Service und Qualität<br />

bei der S-<strong>Bahn</strong> zugunsten der Gewinnmaximierung des <strong>Bahn</strong>konzerns.<br />

Und so war es auch, als am 29. März<br />

2012 Rüdiger Grube im <strong>Berlin</strong>er Hotel<br />

Maritim die Jahresbilanz der Deutschen<br />

<strong>Bahn</strong> für das Jahr 2011 vorstellte. S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise in <strong>Berlin</strong>? Das war kein Thema<br />

mehr. Im Geschäftsbericht der DB für<br />

das abgelaufene Jahr taucht die S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> nur noch wie folgt auf: „Die betriebliche<br />

Lage bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> hat<br />

sich stabilisiert. Zum Fahrplanwechsel<br />

2011/2012 ist ein Fahrplanangebot mit<br />

rund 500 Viertelzügen im Fahrgastbetrieb<br />

umgesetzt worden.“ Im übrigen<br />

habe man den Fahrgästen weitere „zusätzliche<br />

Entschädigungsleistungen“ in<br />

Höhe von 50 Millionen Euro gewährt.<br />

Das war´s .<br />

Dass die verfügbaren und im Einsatz<br />

befindlichen S-<strong>Bahn</strong>-Wagen deutlich<br />

unter 500 Viertelzügen liegen (siehe<br />

unsere Fieberkurve auf Seite 13), dass<br />

vertraglich 562 Viertelzüge zugesichert<br />

sind, dass damit auch im ersten Vierteljahr<br />

2012 dauerhaft 12 bis 15 Prozent<br />

zu wenige S-<strong>Bahn</strong>-Wagen unterwegs<br />

waren – all das ist für die DB kein Thema.<br />

Zumal auch die Politik im Bund, in<br />

<strong>Berlin</strong> und im Land Brandenburg das<br />

Thema S-<strong>Bahn</strong>-Krise weitgehend ad acta<br />

gelegt hat. Der außerordentlich milde<br />

Winter, den es 2011/2012 gab, half bei<br />

diesem Krisen-Verdrängungsprozess. Dabei<br />

ist eigentlich allen aufmerksamen<br />

Beobachtern klar: Im Fall eines neuen<br />

harten Winters wird es im S-<strong>Bahn</strong>betrieb<br />

zu neuen deutlichen, möglicherweise<br />

auch wieder zu tiefen Einbrüchen<br />

kommen.<br />

Tatsächlich gelangt das S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Desaster 2012 in ein neues Stadium, das<br />

durch drei Elemente gekennzeichnet ist.<br />

Erstens durch den Mangel an Triebfahr-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

zeugführern, zweitens durch den nun<br />

definitiv geplanten flächendeckenden<br />

Abbau von Personal auf fast allen S-<br />

<strong>Bahn</strong>höfen und drittens durch die seitens<br />

des <strong>Berlin</strong>er Senats beschlossene<br />

Ausschreibung von Teilen des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Betriebs.<br />

Mangel an Fahrpersonal<br />

Als zum Jahreswechsel 2011/2012 immer<br />

mal wieder S-<strong>Bahn</strong>en ausfielen, weil<br />

kein Fahrpersonal für diese Züge vorhanden<br />

war, setzte zunächst eine Polemik<br />

über den angeblich „zu hohen Krankenstand“<br />

bei den Triebfahrzeugführern der<br />

S-<strong>Bahn</strong> ein. Das ließ sich nicht durchhalten.<br />

Der reale Krankenstand war<br />

durchschnittlich bzw. er entsprach den<br />

besonderen Anforderungen an das Fahrpersonal,<br />

die mit der Einführung von<br />

„ZAT“, der Zugabfertigung durch den<br />

Triebfahrzeugführer, deutlich gestiegen<br />

waren. Bald darauf gestand die S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH ein, dass es schlicht und einfach<br />

zu wenig Triebfahrzeugführer gibt.<br />

Irgendwie hat man vergessen, dass<br />

man zum Betreiben der allmählich wieder<br />

vergrößerten Fahrzeugflotte auch<br />

mehr Fahrpersonal benötigt. Jetzt heißt<br />

es, man werde „intensiv“ daran arbeiten,<br />

diesen Missstand zu beheben und inzwischen<br />

„verstärkt neues Fahrpersonal<br />

ausbilden“. Bis Mitte oder Herbst diesen<br />

Jahres 2012 sei dieses „Problem gehoben“.<br />

Die <strong>Berlin</strong>er Medien nahmen das<br />

überwiegend ohne allzu große Proteste<br />

zur Kenntnis. Tatsächlich ist es jedoch<br />

ein Skandal, dass nach drei Jahren<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Krise und nach zwei Jahren<br />

Arbeit, um die selbst verschuldeten<br />

technischen Probleme beim Fuhrpark in<br />

den Griff zu bekommen…. schlicht das<br />

Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Frühjahr 2012<br />

Personal fehlt, um die langsam steigende<br />

Zahl fahrbereiter S-<strong>Bahn</strong>-Züge auch zu<br />

betreiben (siehe den nebenstehenden<br />

Kasten S. 18).<br />

In der Folge kommt es seit April 2012<br />

zu neuen Einschränkungen des S-<strong>Bahn</strong>betriebs.<br />

Nunmehr in erster Linie aufgrund<br />

der zu geringen Zahl von Fahrpersonal.<br />

Zunächst wurde für März und<br />

April 2012 angekündigt, dass „an<br />

Wochenenden und an Feiertagen“ der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Betrieb auf einigen Linien (S25<br />

und S75) stark ausgedünnt würde. Die<br />

Linie S45 stellt an Wochenenden und<br />

Feiertagen den Betrieb komplett ein. Zur<br />

Linie S85 (nach Grünau), die seit Beginn<br />

der S-<strong>Bahn</strong>-Krise aufgegeben wurde,<br />

heißt es, diese werde auch „auf absehbare<br />

Zeit nicht wieder in Betrieb genommen“.<br />

Und warum? Weil in Grünau alle<br />

zu Hause bleiben? Weil dort alle ein<br />

Sabbat-Jahr ohne S-<strong>Bahn</strong> einlegen?<br />

Abbau des Personals<br />

auf den S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />

Weitgehend zum gleichen Zeitpunkt<br />

ging die S-<strong>Bahn</strong> GmbH wieder in die<br />

Offensive beim Abbau des Personals auf<br />

den S-<strong>Bahn</strong>höfen. Die weitgehende Umstellung<br />

auf „ZAT = Zugabfertigung<br />

durch Triebfahrzeugführer“ war 2008<br />

ausgebremst worden. Der offizielle<br />

Grund waren technische Probleme. Die<br />

Tiefe der S-<strong>Bahn</strong>krise und die öffentlichen<br />

Proteste gegen die Auszehrungspolitik,<br />

die der <strong>Bahn</strong>konzern gegenüber seiner<br />

Tochter S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH betrieb,<br />

dürften dabei jedoch auch eine Rolle gespielt<br />

haben.<br />

2012 sollen die technischen Probleme<br />

gelöst sein. „ZAT“ soll in Zukunft funktionieren,<br />

ohne dass der Triebfahrzeug-<br />

19


20<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Senkt Wettbewerb die Kosten?<br />

In der aktuellen Debatte um die Zukunft<br />

der S-<strong>Bahn</strong> wird argumentiert, eine Ausschreibung<br />

von Teilen des S-<strong>Bahn</strong>-Netzes<br />

mache Sinn, weil damit „der Wettbewerb“<br />

gestärkt und die Deutsche <strong>Bahn</strong><br />

AG bei all ihrem – unbestritten gut dokumentierten<br />

– Missmanagement endlich<br />

durch eine solche Konkurrenz „Druck<br />

bekommen“ würde. Im Ergebnis gäbe es<br />

insgesamt dann eine S-<strong>Bahn</strong> mit niedrigeren<br />

Kosten und besserer Qualität.<br />

Dabei wird<br />

jedoch oft vergessen,<br />

dass es keinen<br />

wirklichen Wettbewerb<br />

auf den<br />

Schienen geben<br />

kann. Was die<br />

Wettbewerbsbefürwortertatsächlich<br />

meinen, ist ein<br />

Ausschreibungswettbewerb:Unternehmenbewerben<br />

sich um die<br />

Konzession, eine<br />

bestimmte Strecke<br />

für einen Zeitraum<br />

von zehn oder 15<br />

Jahren zu betreiben,<br />

und wer den<br />

Zuschlag<br />

bekommt, betreibt den Verkehr dann für<br />

diesen Zeitraum als Monopolist.<br />

Da öffentlicher Verkehr im allgemeinen<br />

und insbesondere öffentlicher<br />

Schienenverkehr unter den gegebenen<br />

Bedingungen des Verkehrsmarktes nur<br />

durch staatliche Unterstützungszahlungen<br />

kostendeckend zu betreiben ist, geht<br />

es bei dem Ausschreibungswettbewerb<br />

auch darum, wer in den Genuss dieser<br />

Subventionen kommen wird. Es geht im<br />

Endeffekt also um Staatsgelder.<br />

Und weil zu einer Zeit immer nur ein<br />

Zug auf der Strecke fahren kann, wäre es<br />

auch kaum möglich, einen alternativen<br />

Verkehr auf den gleichen Gleisen anzubieten<br />

– schon gar nicht im dicht befahrenen<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Netz.<br />

Schienenverkehr ist also ein natürliches<br />

Monopol (ähnlich wie z.B. die Wasserversorgung<br />

oder Energienetze). Es<br />

spricht vieles dafür, dass ein solches Monopol<br />

am besten von der öffentlichen<br />

Hand und aus einer Hand betrieben<br />

wird, um eine zuverlässige Versorgung<br />

sicherzustellen. Ein privater Betreiber<br />

hat hingegen immer den Anreiz, seine<br />

Monopolstellung auszunutzen und damit<br />

seine Gewinne zu maximieren –<br />

einerseits durch die Senkung der Kosten<br />

durch eine Reduktion von Qualität und<br />

Zuverlässigkeit, andererseits durch die<br />

Steigerung der Fahrpreise und der Nebenkosten<br />

und durch höhere Subventio-<br />

nen. Diese Tendenz gibt es jedoch auch<br />

bei staatlich organisierten Verkehrsbetrieben<br />

und insbesondere bei solchen,<br />

die mit ihrer Organisationsform (einer<br />

AG oder GmbH) auf Profitmaximierung<br />

ausgerichtet werden. Kommt dann noch<br />

ein vom Eigentümer öffentliche Hand<br />

mitgetragener Beschluss wie ein Börsengang<br />

hinzu, ist erst recht das Resultat<br />

eine solche Orientierung auf Profitmaximierung,<br />

Expansion usw. Dennoch gibt<br />

es auch hier einen entscheidenden Unterschied<br />

zwischen einem Unternehmen<br />

wie der DB AG und einem rein privaten<br />

Konzern wie z.B. Veolia (ehemals Connex):<br />

die DB AG kann durch einen politischen<br />

Beschluss (der Bundesregierung,<br />

im Bundestag) und durch politischen<br />

Druck zu einem öffentlichen Unternehmen,<br />

das ausschließlich die Interessen<br />

der Fahrgäste und der Beschäftigten im<br />

Zentrum hat, „zurückgebaut“ werden.<br />

Bei Veolia ist das nicht oder nur mit Ent-<br />

eignung vorstellbar.<br />

Die Negativbilanz der Ausschreibung<br />

und der Trennung von Netz und Betrieb<br />

lässt sich auch empirisch dokumentieren:<br />

In Großbritannien basiert seit der<br />

Privatisierung Mitte der 1990er Jahre<br />

das gesamte <strong>Bahn</strong>system auf solchen<br />

Ausschreibungswettbewerben. Die<br />

Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Sauberkeit<br />

der Züge ist überwiegend<br />

schlecht – bei sehr hohen Fahrpreisen<br />

und einer großen<br />

Unübersichtlichkeit<br />

des Systems mit 25<br />

<strong>Bahn</strong>gesellschaften.<br />

Laut einer Studie<br />

aus dem Jahr 2011<br />

(„Rail Value for<br />

Money Report“ alias<br />

„McNulty-<br />

Report“) ist der<br />

<strong>Bahn</strong>verkehr im<br />

Land ca. 40 Prozent<br />

ineffizienter als<br />

derjenige anderer<br />

<strong>Bahn</strong>en in Europa.<br />

Diese „Effizienzlücke“<br />

ist seit der Privatisierungerheblich<br />

größer geworden.<br />

Die privaten<br />

<strong>Bahn</strong>en erhalten<br />

auch höhere Subventionen als die<br />

Staatsbahn vor der Privatisierung. Ein<br />

Personenkilometer (also ein Durchschnittskilometer,<br />

den eine Person mit<br />

der <strong>Bahn</strong> zurücklegt) ist in Großbritannien<br />

fast doppelt so teuer wie in der<br />

Schweiz, die ein komplett öffentliches<br />

<strong>Bahn</strong>system hat.<br />

Die Studie nennt auch die Gründe:<br />

Neben einer zu starken Regulierung –<br />

wobei eine geringere Regulierung die<br />

Risiken noch erhöhen würde – sind es<br />

die fragmentierten Strukturen durch die<br />

Aufsplittung in eine Vielzahl von Unternehmen.<br />

Daher fordert eine breite Mehrheit der<br />

Britinnen und Briten: „Re-nationalise<br />

the Railways“. Auch zwei Drittel der<br />

Deutschen sprechen sich gegen eine<br />

<strong>Bahn</strong>privatisierung aus – man muss<br />

nicht jeden Fehler wiederholen, der<br />

andernorts schon gemacht worden ist.<br />

Bernhard Knierim<br />

Lunapark21·extra 6/2012


führer aus seinem Führerstand und auf<br />

den <strong>Bahn</strong>steig tritt. Kameras über den<br />

<strong>Bahn</strong>steigkanten nehmen haltende S-<br />

<strong>Bahn</strong>en ins Visier. Die Bilder werden in<br />

den Führerstand per Funk übertragen,<br />

wo sie auf einem Bildschirm vor dem<br />

Fahrer erscheinen. Entsprechend sollen<br />

die Fahrer im Führerstand die Lage überblicken<br />

und entscheiden können, wann<br />

die Türen frei sind und sie weiterfahren<br />

können. Soweit die Theorie. In der Praxis<br />

dürfte es tausendundeine Möglichkeit<br />

geben, dass das dann auch mal nicht<br />

funktioniert – womit in vielen Fällen die<br />

Weiterfahrt schlicht blockiert werden<br />

wird.<br />

Es handelt sich hier in doppelten Hinsicht<br />

um einen radikalen Schritt: Erstens<br />

wird eine Selbstverständlichkeit, die 100<br />

Jahre lang galt, aufgegeben, wonach es<br />

auf einem S-<strong>Bahn</strong>hof auch Personal gibt.<br />

Wobei dieses Personal nicht allein rein<br />

technisch bedingt ist, sondern ganz allgemein<br />

Ansprechpartner für Fahrgäste<br />

und Teil der allgemeinen Sicherheit ist.<br />

Zweitens wird damit ein drastischer Abbau<br />

von Service vollzogen, dessen Folgen<br />

man kurzfristig nicht sehen, sondern<br />

bestenfalls erahnen kann. Ganze Gruppen<br />

von Fahrgästen werden mit dieser<br />

Maßnahme in ihrer Mobilität drastisch<br />

eingeschränkt. Das gilt z. B. für Menschen<br />

mit Gehbehinderung. Drittens<br />

wird erneut die Zahl der S-<strong>Bahn</strong>beschäftigten<br />

reduziert und der Stress bei den<br />

Nochbeschäftigten, so beim Fahrpersonal,<br />

deutlich erhöht.<br />

Doch die S-<strong>Bahn</strong> und damit auch die<br />

Konzernzentrale der DB wollen 2012<br />

diesen Personal- und Serviceabbau ohne<br />

Abstriche durchziehen. Proteste werden<br />

nicht ernstgenommen. So äußerte Klaus<br />

Eisenreich, der Landesgeschäftsführer<br />

der Gewerkschaft der Polizei: „Das lässt<br />

die Sicherheitslage im ÖPNV nicht zu.<br />

Damit wälzt die S-<strong>Bahn</strong> ein Problem, das<br />

sie eigentlich lösen muss, auf die Polizei<br />

ab.“ (<strong>Berlin</strong>er Zeitung 14.9.2011). Gelegentlich<br />

auftretende Polizei anstelle von<br />

regelmäßig eingesetztem Personal auf<br />

den <strong>Bahn</strong>höfen verschlechtern das<br />

Image des ÖPNV deutlich.<br />

Ausschreibung heißt<br />

Zerschlagung<br />

Am 13. April 2012 berichtete die <strong>Berlin</strong>er<br />

Morgenpost: „Entscheidung: Senat sucht<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

neuen Betreiber für die S-<strong>Bahn</strong> (…) Der<br />

Senat wird den Betrieb der Ringbahn<br />

und der südöstlichen Linien für 15 Jahre<br />

ab 2017 in einem Wettbewerbsverfahren<br />

ausschreiben. Jedoch soll das Abgeordnetenhaus<br />

letztlich darüber entscheiden<br />

dürfen, ob der ausgewählte Bieter zum<br />

Zuge kommt.“ Die Entscheidung, die bei<br />

Redaktionsschluss dieser Publikation<br />

noch nicht alle Hürden in Senat und<br />

Abgeordnetenhaus genommen hat,<br />

stellt, wenn es bei ihr bleibt, in dreierlei<br />

Hinsicht einen tiefen Einschnitt in der<br />

Geschichte der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> dar. Erstens<br />

hinsichtlich des Umfangs: Damit<br />

wird ein großer Teil des S-<strong>Bahn</strong>betriebs<br />

auf den Weg der Privatisierung gebracht.<br />

Allein die Ringstrecke hat eine Länge<br />

von 37 km; auf ihr werden, wenn es<br />

denn einmal wieder Vollbetrieb geben<br />

sollte, pro Werktag 400000 Fahrgäste<br />

befördert. Insgesamt entsprechen die zur<br />

„Teilausschreibung“ vorgesehenen Strecken<br />

einem Drittel des gesamten S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Betriebs. Zweitens wird damit den<br />

Tendenzen der neoliberalen Verkehrspolitik<br />

zur Privatisierung des öffentlichen<br />

Verkehrs Vorschub geleistet. Wenn eine<br />

solche Ausschreibung einmal erfolgt ist,<br />

hat die EU und haben Gerichte weit bessere<br />

Möglichkeiten als bisher, die Privatisierung<br />

der gesamten S-<strong>Bahn</strong> und weiterer<br />

Teile des Öffentlichen Verkehrs in<br />

<strong>Berlin</strong> und durchaus auch anderswo – so<br />

beispielsweise bei der S-<strong>Bahn</strong> Hamburg<br />

– einzufordern. Der immer wieder als<br />

Beschwichtigung zitierte „Parlamentsvorbehalt“<br />

ist eine außerordentlich brüchige<br />

Brücke. Es kann durchaus sein,<br />

Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Frühjahr 2012<br />

dass ein privater Anbieter, der den Zuschlag<br />

erhielt und der dann doch noch<br />

durch eine Entscheidung des Abgeordnetenhauses<br />

kurzfristig ausgebremst wird,<br />

am Ende auf gerichtlichem Weg zum<br />

Zuge kommt und neuer S-<strong>Bahn</strong>-Betreiber<br />

wird. Auch ein privates Unternehmen,<br />

das bereits im Bieterverfahren<br />

scheiterte, kann danach auf juristischer<br />

Ebene dazwischen grätschen und beispielsweise<br />

hohe Schadenersatzforderungen<br />

stellen.<br />

Drittens schließlich läuft die Entscheidung<br />

des SPD-CDU-Senats auf eine Zerschlagung<br />

der Einheit von Infrastruktur<br />

und S-<strong>Bahn</strong>betrieb hinaus. Was rund<br />

hundert Jahre lang gut funktionierte und<br />

was für Eisenbahner ein Grundelement<br />

für einen sicheren und effizienten Betrieb<br />

ist, diese Einheit von Infrastruktur<br />

(von Trassen, <strong>Bahn</strong>höfen, Signaltechnik)<br />

und Betrieb (von Fahrten mit S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Zügen auf diesem Netz) wird in Frage<br />

gestellt. Zu den fatalen Folgen, die dies<br />

hat, siehe den nebenstehenden Kasten.<br />

Gerade diese jüngste Entscheidung<br />

unterstreicht die Notwendigkeit, die<br />

Öffentlichkeit zum Erhalt der S-<strong>Bahn</strong> zu<br />

mobilisieren. In der <strong>Berlin</strong>er Morgenpost<br />

war zu lesen: „Eine Vergabe des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Betriebs an ein privates Unternehmen<br />

sei in der <strong>Berlin</strong>er SPD politisch nicht<br />

durchsetzbar, sagte ein führender Sozialdemokrat.<br />

Zumal eine Bürgerinitiative<br />

mit Unterstützung von Gewerkschaften<br />

ein Volksbegehren gegen eine Teilprivatisierung<br />

anstrebt, was die SPD zusätzlich<br />

unter Druck setzt.“ (13.4.2012).<br />

So ist es.<br />

21


22<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Lunapark21·extra 6/2012


VII. „Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“ – stimmt das?<br />

Auf dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

betonten die Top-Manager des <strong>Bahn</strong>konzerns<br />

immer wieder, es treffe nicht<br />

zu, dass die S-<strong>Bahn</strong> zum Zweck der Profitmaximierung<br />

ausgequetscht worden<br />

sei. Vielmehr, so Grube, habe der <strong>Bahn</strong>konzern<br />

mit der S-<strong>Bahn</strong> Verluste eingefahren;<br />

die <strong>Bahn</strong> werde sogar bis einschließlich<br />

2014 draufzahlen. Wobei<br />

inzwischen die Kosten, die die S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Krise verursacht, mit als „Belastung“<br />

angeführt werden (siehe<br />

S. 14). Seltsamerweise weigert<br />

sich der <strong>Bahn</strong>chef<br />

gleichzeitig strikt, diesen<br />

„Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“<br />

zu verkaufen. Eine entsprechende<br />

Anfrage des<br />

<strong>Berlin</strong>er Senats vom Dezember<br />

2011 wurde abschlägig<br />

beschieden. Begründet<br />

wird dies damit,<br />

dass die S-<strong>Bahn</strong> ja Teil<br />

des „Kerngeschäfts“ der<br />

DB sei, dass es schließlich<br />

um den S-<strong>Bahn</strong>-Verkehr<br />

„in der deutschen Hauptstadt“<br />

gehen würde.<br />

Das klingt reichlich verantwortungsbewusst<br />

und höchst<br />

ungewohnt für den <strong>Bahn</strong>konzern<br />

im allgemeinen und für<br />

einen <strong>Bahn</strong>chef Rüdiger Grube<br />

im besonderen. Hatte letzterer<br />

doch jüngst im Zusammenhang mit<br />

Stuttgart 21 als seine Devise formuliert:<br />

„Cash in Däsch / is the name / of the<br />

game“.<br />

Ein näherer Blick hinter die Bilanz-<br />

Kulissen ergibt ein anderes Bild. Die<br />

S-<strong>Bahn</strong> GmbH führte bis zum offenen<br />

Ausbruch der S-<strong>Bahn</strong>-Krise Jahr für Jahr<br />

steigende Gewinne an den DB-Konzern<br />

ab. Insgesamt waren dies im Zeitraum<br />

2002 bis 2008 120 Millionen Euro. Da<br />

diese Gewinnquelle in Folge der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Krise versiegte, entstand der Eindruck,<br />

dass der <strong>Bahn</strong>konzern der S-<strong>Bahn</strong> keine<br />

Gelder mehr entziehen könne. Es gibt jedoch<br />

andere Transfers. Den größten Posten<br />

machen dabei die Trassenentgelte<br />

aus. Die S-<strong>Bahn</strong> zahlt pro Jahr rund 135<br />

Millionen Euro an DB Netz für die Trassennutzung.<br />

Im Zeitraum 2006 bis 2010<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

flossen von der S-<strong>Bahn</strong> an DB Netz 667<br />

Millionen Euro; einschließlich der Zahlungen<br />

im abgelaufenen Jahr 2011 waren<br />

es rund eine Milliarde Euro. Da die<br />

Trassenpreise deutlich angehoben wurden<br />

– sie stiegen im Zeitraum 2002 bis<br />

2010 um rund 25 Prozent – und da die<br />

<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> je Fahrzeugkilometer<br />

deutlich höhere Trassenpreise bezahlt als<br />

die S-<strong>Bahn</strong>en in Hamburg oder München<br />

– blieb auch das<br />

Niveau, das die<br />

S-<strong>Bahn</strong> GmbH an<br />

DB Netz abführte, in den Jahren der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Krise weitgehend erhalten. 1<br />

Darüber hinaus zahlt die S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH an den DB Konzern Gebühren für<br />

die Nutzung der <strong>Bahn</strong>höfe (zu zahlen an<br />

DB Station und Service), Gelder für Energie<br />

(zu bezahlen an DB Energie GmbH)<br />

und eine „Managementumlage“ (die an<br />

die Holding DB AG bezahlt werden dürfte).<br />

Für das Jahr 2008 liegen hierzu die<br />

folgenden, einigermaßen gesicherten<br />

Zahlen für die unterschiedlichen Transfers<br />

vor:<br />

• Trassenentgelte: 137 Mio Euro<br />

• Station und Service: 140 Mio Euro<br />

• DB Energie: 49 Mio Euro<br />

• Managementumlage: 34 Mio Euro<br />

• Gewinnabführung: 56 Mio Euro.<br />

Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong>?<br />

In der Summe sind dies 416 Millionen<br />

Euro. Das ist ein stolzer Betrag an Transfers.<br />

2 Zumal der gesamte Unternehmensumsatz<br />

der S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im<br />

genannten Jahr 2008 „nur“ 760 Millionen<br />

Euro ausmachte (260 Mio Euro Regionalisierungsgelder<br />

und 598 Mio Euro<br />

Fahrgeldeinnahmen). Damit entsprechen<br />

die aufgeführten Transfers an den DB-<br />

Konzern 55 Prozent des gesamten Umsatzes<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH.<br />

Natürlich stehen den Zahlungen<br />

an den DB Konzern auch<br />

Leistungen der anderen DB<br />

Konzern-Töchter, an die transferiert<br />

wird, gegenüber. Zu prüfen<br />

wäre jedoch, ob diese Leistungen<br />

auch der Höhe der<br />

Transfers entsprechen. Um<br />

auf die eingangs erwähnte<br />

Summe der Trassenentgelte<br />

im Zeitraum 2002 bis 2011<br />

anzusprechen: Belegt werden<br />

müsste, dass DB Netz in<br />

diesem Zeitraum für den<br />

Unterhalt, die Erneuerung<br />

und den Ausbau des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Netzes tatsächlich eine Milliarde<br />

Euro investiert hat.<br />

Bevor man die Worte von Rüdiger<br />

Grube, wonach der DB Konzern<br />

bei der S-<strong>Bahn</strong> draufzahle,<br />

für bare Münze nimmt, ist eine<br />

Offenlegung der gesamten Rechnungsführung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH<br />

und derjenigen zwischen der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> und dem DB-Konzern zu fordern.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Die exakten Zahlen lauten: 2006 zahlte die<br />

S-<strong>Bahn</strong> GmbH 134 Mio Euro an DB Netz,<br />

2007: 133 Mio; 2008: 137 Mio; 2009: 128<br />

Mio und 2010: 135 Mio Euro. Nach: Antwort<br />

der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage<br />

der Abgeordneten Sabine Leidig und der<br />

Fraktion DIE LINKE vom 19. 12. 2011;<br />

Bundestagsdrucksache 17/8219.<br />

2 Es dürfte noch andere Transfers geben. So<br />

zahlte die S-<strong>Bahn</strong> GmbH 2008 allein für die<br />

S-<strong>Bahn</strong>höfe Grünau, Oranienburg, Schöneweide,<br />

Friedrichsfelde, Bernau und Erkner an<br />

den DB-Konzern 2,8 Millionen Euro für Erbbaupacht;<br />

für einen PC-Arbeitsplatz im Bereich<br />

der S-<strong>Bahn</strong> Gmbh sind jährlich 3700<br />

Euro an DB Systel abzuführen.<br />

23


24<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Welche S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge? Oder:<br />

Warum Vielfalt auch Einfalt sein kann<br />

Anmerkungen zur Debatte um die Neubeschaffung von Fahrzeugen für die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Dieter Doege<br />

Bei der vom <strong>Berlin</strong>er Senat 2011 und 2012 in die Wege geleiteten Markterkundung bleiben die S-<strong>Bahn</strong> Fahrzeuge<br />

der 481er Baureihe unberührt. Es geht um die Bestellung von 73 Halbzügen mit jeweils vier Wagen und 28 Viertelzügen<br />

mit jeweils zwei Wagen, also insgesamt um 348 Wagen und nicht, wie vielfach berichtet, um 348 Züge.<br />

Anders formuliert: Die genannten 348 Wagen entsprechen 174 Viertelzügen, das sind Züge jeweils mit vier Wagen.<br />

Derzeit verfügt die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> über<br />

insgesamt 650 Viertelzüge. Diese teilen<br />

sich auf die drei Baureihen BR 481 (500<br />

Viertelzüge), BR 480 (70 Viertelzüge)<br />

und BR 485 (80 Viertelzüge) auf. Hiervon<br />

waren in den Jahren der offenen S-<br />

<strong>Bahn</strong>krise zwischen Anfang 2009 und<br />

Anfang 2012 nur eine drastisch verminderte,<br />

wechselnde Anzahl von S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Zügen unterwegs: zwischen 430 Viertelzügen<br />

und im ungünstigsten Fall nur<br />

155 Viertelzügen. Zur Kompensation<br />

technischer und betrieblicher Einschränkungen<br />

hält ein Verkehrsunternehmen<br />

Reserven bereit: Bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

sind das 70 Viertelzüge. Unter normalen<br />

Bedingungen stehen damit der S-<strong>Bahn</strong><br />

für den Betrieb planmäßig 580 Viertelzüge<br />

von insgesamt 650 Viertelzügen<br />

zur Verfügung. Dieses entspricht einer<br />

Quote der technischen Flottenverfügbarkeit<br />

von gut 89 Prozent und einer Betriebs-<br />

und Instandhaltungsreserve von<br />

rund 11 Prozent.<br />

Nach den Vorstellungen des Fahrgastverbandes<br />

PRO BAHN <strong>Berlin</strong>/Brandenburg<br />

ist die beabsichtigte Ausschreibung<br />

von 174 Viertelzügen sinnvoll und für<br />

den geplanten Ersatz der insgesamt 150<br />

Viertelzüge aus den Baureihen 480 und<br />

485 - siehe oben - auch angemessen. Es<br />

ist allerdings in diesem Zusammenhang<br />

unerlässlich, den Zeitplan für die Herstellung<br />

dieser geplanten Bestellung von<br />

174 Viertelzügen genauer zu durchleuchten.<br />

Grundbedingungen<br />

extremen finanziellen Verlusten korri-<br />

Erarbeitet werden muss ein überaus reagierbar.listisches, also belastbares Arbeitsszena- Was man in jedem Fall überlegen sollrio<br />

für einen sinnvollen, das heißt wirtte und was durchaus ratsam erscheint,<br />

schaftlichen und nach Möglichkeit stö- das wäre, eine neue Betriebsform für<br />

rungsfreien Produktionsablauf für neue den <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-Ring zu finden.<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge. Dabei ist ein ausrei- Ähnlich der Nürnberger U-<strong>Bahn</strong>, die auf<br />

chender Zeitrahmen im Anfangsstadium einzelnen Linien in einer Mischform von<br />

der Entwicklung dieser Fahrzeuge und herkömmlich manuell sowie vollständig<br />

der Prototypen-Erprobung extrem wich- automatisierten, fahrerlosen Fahrzeugen<br />

tig. Jede notwendig gewordene Ände- betrieben wird, könnte der <strong>Berlin</strong>er S-<br />

rung an einem ausreichend lang getes- <strong>Bahn</strong>-Ringverkehr zukünftig automatiteten<br />

Prototypen erspart um ein Vielfasiert ablaufen. Damit wäre die Dichte<br />

ches zeitintensivere Nacharbeiten an des Zugverkehrs weitgehend kostenneu-<br />

einer Serie von 348 Wagen. Erwähnt tral ausschließlich über die Fahrgast-<br />

werden muss hier auch mit Blick auf die nachfrage zu steuern. Die freiwerdenden<br />

vielfachen Hinweise auf das „Unikat S- Triebfahrzeugführer können nicht nur<br />

<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“, dass diese Stückzahl unter zum Abbau des akuten Fahrermangels<br />

eisenbahntechnischen Bedingungen beitragen, sondern auch als kompetente<br />

bereits eine Großserie darstellt. <strong>Bahn</strong>hofsaufsichten endlich den frühe-<br />

Dazu gehört, die betrieblichen Anforren Servicegedanken der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />

derungen zu hinterfragen. <strong>Berlin</strong>er S- neu beleben.<br />

<strong>Bahn</strong>-Wagen sind Sonderfahrzeuge, die<br />

zu keinem anderen Eisenbahnnetz pas- Lehren aus der Vergangenheit<br />

sen. Diese können bis zum Ende ihrer Vom Fahrzeugtyp liegen die <strong>Berlin</strong>er S-<br />

Lebensdauer ausschließlich auf dem Ber- <strong>Bahn</strong>wagen in der Fertigungsbreite zwiliner<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Netz eingesetzt werden. Es schen Straßen- und Voll-Eisenbahnen.<br />

macht keinen Sinn, dieses ohnehin rela- Im Gegensatz zu den früheren langen<br />

tiv begrenzte S-<strong>Bahn</strong>-Netz durch unter- Erprobungszeiten von zehn und mehr<br />

schiedliche Vorgaben in verschiedene Jahren geht der Trend in der Schienen-<br />

Bereiche zu zerteilen. Das gilt für die fahrzeug-Herstellung immer stärker zu<br />

Fahrzeuge ebenso wie für mögliche Be- kurzfristigen Realisierungen. Das ist oft<br />

treiber. Eine einmal getroffene Entschei- mit verheerenden Folgen verbunden: So<br />

dung beeinflusst den S-<strong>Bahn</strong>verkehr der musste im Straßenbahnbereich vor acht<br />

Bundeshauptstadt <strong>Berlin</strong> auf die Dauer Jahren eine ganze Fahrzeugserie mit 500<br />

von 30 bis 40 Jahren und wäre nur mit schadhaften, fehlkonstruierten <strong>Bahn</strong>en<br />

Lunapark21·extra 6/2012


aus dem Verkehr gezogen werden.<br />

Jüngst hatte die Stadt München das<br />

große Problem, neu gekaufte Straßenbahnfahrzeuge<br />

wegen mangelnder Zulassung<br />

zwei lange Jahre lang verwendungsunfähig<br />

in der Remise abstellen zu<br />

müssen. Es gibt allerdings auch nachahmenswerte<br />

Beispiele, wiederum aus dem<br />

Straßenbahn-Bereich. So hat die BVG<br />

<strong>Berlin</strong> vor der endgültigen Vergabe von<br />

rund 200 Fahrzeugen vier Prototypen<br />

zwei Jahre lang auf Herz und Nieren im<br />

rauen Fahrgastbetrieb getestet – überaus<br />

erfolgreich, wie man inzwischen<br />

weiß. Nicht nur aus Fahrgastsicht hat<br />

sich also diese Vorgehensweise der BVG<br />

ausgezahlt.<br />

Produktion und Erprobung<br />

neuer S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge<br />

Eine längere Erprobungsphase schafft<br />

eine größere Sicherheit vor mängelbehafteten<br />

Fahrzeugen. Sie hat allerdings<br />

den großen Nachteil, dass die Lieferzeit<br />

um die Erprobungsphase verlängert wird.<br />

Dies macht die Fahrzeuge wegen der<br />

dann erforderlichen Produktionspause<br />

teurer.<br />

Die Aussagekraft der Erprobungs-Ergebnisse<br />

muss durch eine ausreichende<br />

Anzahl von Zugeinheiten gestützt werden.<br />

Eine erste Serie von 32 Wagen ließe<br />

sich unter Serien-Bedingungen fertigen.<br />

Sie böte in der Bandbreite zwischen vier<br />

Vollzügen und acht Halbzügen die Möglichkeit<br />

ausreichender Fahrzeug-Kombinationen<br />

und später auch im Zugverband<br />

hinreichend untersetzte Test-Ergebnisse.<br />

Sollten nach dem Abschluss<br />

der Testphasen Nachbesserungen erforderlich<br />

werden, bleibt dennoch der Aufwand<br />

vertretbar.<br />

Die Erprobungsdauer im Streckenbetrieb<br />

sollte sechs bis sieben Monate keinesfalls<br />

unterschreiten. Dabei muss nach<br />

den bisherigen Erfahrungen zwingend<br />

eine Sommerperiode und eine Winterzeit<br />

erfasst werden. Um unter den vorgenannten<br />

Bedingungen bis Ende 2017<br />

eine halbwegs ausreichende Anzahl von<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeugen mit der Chance auf<br />

störungsfreien Betrieb zu bekommen,<br />

würde eine Auftragsvergabe mit dem<br />

Abschluss des ersten Quartals 2013<br />

erforderlich. Mit den derzeit in der Fahrzeug-<br />

und vor allem in der Zulieferindustrie<br />

üblichen Fristen wäre die Fertig-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Welche S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge?<br />

stellung des ersten Vorserien-Zuges und wegen der abweichenden Ausrüstungen<br />

dessen Inbetriebnahme etwa im dritten sogar noch ein vierter, weiter kostenstei-<br />

Quartal 2015 denkbar.<br />

gernder Wagentyp notwendig.<br />

Grundlagen der S-<strong>Bahn</strong>-Flotte<br />

Wegen der weit überdurchschnittlichen<br />

Kosten bei derart kleinen Stück-<br />

Selbst bei Einhaltung all dieser Bedinzahlen sollte darauf unbedingt verzichgungen<br />

bleibt das vorgenannte Produktet werden. Der Fahrzeug-Hersteller solltions-<br />

und Erprobungsszenario ante variantenarm planen und effektiv und<br />

spruchsvoll. Nach lückenloser Auswer- kostengünstig produzieren können. Zwar<br />

tung aller vorhandenen Studien und Un- können durch den Verzicht auf die beitersuchungsberichte<br />

zur <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> den Optionen mit den neuen Fahrzeugen<br />

waren eine Vielzahl von Details in teil- keine Zwei- und Sechs-Wagenzüge<br />

weise überraschendem Zusammenwirken gefahren werden, doch wiegt der große<br />

die Ursache für das im begrenzten Um- Vorteil einer überzeugenden Vereinfafang<br />

immer noch nachwirkende S-<strong>Bahn</strong>- chung des Wagenparks diesen Nachteil<br />

Desaster.<br />

mehr als auf. Im Übrigen wird durch<br />

Daher müssen bei der im Volumen abgetrennte Zwei-Wagenzüge ohne<br />

stets begrenzten S-<strong>Bahn</strong>-Flotte mög- Übergangsmöglichkeit die subjektive<br />

lichst einfache, standardisierungsfähige Sicherheit halbiert und die Notwendig-<br />

Vorgaben gesetzt werden. Die in den keit von Sechs-Wagenzügen auf der<br />

Fahrzeuganforderungen des Senats er- <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> ist eher als gering einkennbare<br />

Idee eines einfach strukturierzustufen.ten Wagenparks mit im Prinzip nur zwei<br />

unterschiedlichen Fahrzeugtypen – be- Grundlagen der Fahrzeuge<br />

stehend aus dem Endwagen mit Führer- Eine anerkannte Faustformel besagt,<br />

stand und Fahrzeugübergang sowie dem dass sich die Kosten im überaus langen<br />

Zwischenwagen mit zwei Fahrzeugüber- Leben eines Schienentriebfahrzeugs zu<br />

gängen – ist richtig.<br />

etwa gleichen Teilen auf den Anschaf-<br />

Da die auf Grund der komplexen techfungspreis, den Energieverbrauch und<br />

nischen Fahrzeug-Anforderungen inzwi- die Wartung verteilen. Im Sinne des späschen<br />

sehr umfangreich gewordene Austeren Betreibers sowie der Fahrgäste<br />

rüstungs- und Steuerungstechnik auf müssen vor allem niedrige Betriebskos-<br />

zwei S-<strong>Bahn</strong>-Wagen verteilt werden ten und somit indirekt akzeptable Fahr-<br />

muss, stellt sich die kleinste Fahrzeugpreise durch die Bewertungskriterien in<br />

einheit als dauerhaft gekuppeltes Wa- der Ausschreibung abgesichert sein.<br />

genpaar aus Endwagen mit Führerstand Hierzu ist zwingend erforderlich, dass<br />

und Zwischenwagen mit Fahrzeugüber- die präventive Sicht auf Zuverlässigkeit,<br />

gang dar. Dieses als Viertelzug bezeich- Energieeffizienz, Verfügbarkeit und Warnete<br />

Wagenpaar bildet mit einem zweitungsarmut der Fahrzeuge in der S-<br />

ten baugleichen Wagenpaar einen <strong>Bahn</strong>-Ausschreibung einen angemesse-<br />

durchgehend begehbaren Halbzug. Zwei nen Rang einnimmt und nicht der An-<br />

dieser Halbzüge können zu einem Vollschaffungspreis die Fahrzeugbewertung<br />

zug mit dann vier Wagenpaaren gekup- dominiert.<br />

pelt werden.<br />

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist im<br />

Die vom <strong>Berlin</strong>er Senat gewünschte Zeichen der Umweltdiskussion eine ent-<br />

zusätzliche Ausführung von 28 Viertelsprechende Bewertung umweltverträglizügen<br />

mit Führerständen an beiden Encher Bauformen und Materialien. In dieden<br />

erfordert die Produktion eines dritsem Zusammenhang ist der <strong>Berlin</strong>er Seten<br />

Wagentyps, der angesichts seines nat auf dem richtigen Wege, durch<br />

geringen Anteils von lediglich vier Pro- zukunftsweisende Betriebskonzepte wie<br />

zent an der Gesamtzahl von 348 S- mit Flügeln, Stärken und Schwächen von<br />

<strong>Bahn</strong>-Wagen den Kostenaufwand über- Zügen attraktive und gleichzeitig kosproportional<br />

ansteigen ließe. Für die als tengünstige Beförderungsangebote zu<br />

weitere Option erwogene spätere Ergänzung<br />

dieser Viertelzüge mit zwei Führerständen<br />

durch zwei zusätzliche Zwi-<br />

etablieren.<br />

schenwagen zu einem Halbzug wäre Dieter Doege ist Nahverkehrsexperte<br />

25


WENN DIESE HERREN SICH AN<br />

ÖFFENTLICHEM EIGENTUM VERGREIFEN,<br />

WIRD ES TEUER: CHAOS MIT METHODE.<br />

Ein Film des Unternehmens Börsengang<br />

Ulrich Rüdiger in den ausbadenden Rollen:<br />

Homburg Grube <strong>Bahn</strong>angestellte / Sie und Ich


„Warum sollte der Reisende sich nicht fühlen,<br />

als wenn er mit dem Sofa unterwegs ist?“<br />

Ein Gespräch zur S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

Das hier wiedergegebene Gespräch zur S-<strong>Bahn</strong>-Krise wurde mit Andreas<br />

Ballentin (AB; Fahrdienstleiter bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> und Betriebsrat), Jörg<br />

Kronberg (JK; Gewerkschaftssekretär bei der EVG) und Jörg Podzuweit (JP;<br />

ehrenamtlich bei der EVG tätig und ehemaliger Vorsitzender des Verkehrsausschusses<br />

im Bezirk Nordost) geführt. Die Gesprächsleitung für Lunapark21<br />

und den S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> hatte Bernhard Knierim (BK). Fotos von Klaus<br />

Ihlau (S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>).<br />

Bernhard Knierim (BK): Was hat aus<br />

Eurer Sicht zu der Krise bei der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> geführt?<br />

Jörg Podzuweit (JP): <strong>Bahn</strong> und Politik<br />

sind an der S-<strong>Bahn</strong>-Krise schuld. Das hat<br />

schon angefangen, als man in den<br />

1990ern begonnen hat, neue Fahrzeuge<br />

für die S-<strong>Bahn</strong> zu beschaffen. Damals<br />

gab es beim Senat die Entscheidung, den<br />

Preis für diese Fahrzeuge zu drücken.<br />

Das ging damit weiter, dass diese Fahrzeuge<br />

ursprünglich für Klimaanlagen<br />

konstruiert waren, dann aber ohne fuhren.<br />

Gleichzeitig konnte man aber auch<br />

die Fenster nicht öffnen. Das ist nur<br />

einer der eklatanten Mängel, der aber<br />

für die Fahrgäste sofort spürbar war.<br />

Zum Teil haben sich auch die Anforderungen<br />

an die Fahrzeuge geändert. Es<br />

sind neue Vorschriften dazugekommen,<br />

und die Fahrzeuge mussten dann nachgerüstet<br />

werden, waren aber dafür nicht<br />

ausgelegt. Ein anderes Thema sind die<br />

Fahrstände und die Elektronik: Ursprünglich<br />

waren die Züge darauf ausgelegt,<br />

dass der Fahrstand klimatisiert ist<br />

und der Lokführer dort bleibt und von<br />

dort aus alles macht. Inzwischen muss er<br />

wegen der „Zugabfertigung durch den<br />

Triebwagenführer“ (ZAT) alle zwei Minuten<br />

aus dem Führerstand treten. Das bedeutet,<br />

dass die Klimaanlage Probleme<br />

bekommt, denn für solche Anforderungen<br />

ist keine Klimaanlage ausgelegt. In<br />

der Folge gibt es dann Schwierigkeiten<br />

mit der Elektronik. Sodann hat die Politik<br />

die Anforderungen geändert und das<br />

Eisenbahnbundesamt hat seine Anforderungen<br />

geändert. Dazu kamen dann die<br />

Personalkürzungen und all die Sparmaßnahmen.<br />

Dadurch kann jetzt keine vorausschauende<br />

Wartung mehr durchge-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

führt werden: es gibt also keinen rechtzeitigen<br />

Austausch von Teilen, die absehbar<br />

demnächst kaputt gehen werden.<br />

Jörg Kronberg (JK): Das ist natürlich<br />

auch auf das Wegsparen von Personal<br />

zurückzuführen. Alles, was irgendwie –<br />

und wenn es noch so schräg war – zu<br />

begründen ging, wurde abgebaut, bis<br />

fast nichts mehr an Kapazitäten und<br />

Wissen da war.<br />

BK: Das bedeutet also, dass sowohl<br />

diejenigen Recht haben, die die Probleme<br />

auf die Politik schieben, als auch<br />

die, die das Management der S-<strong>Bahn</strong><br />

in der Verantwortung sehen?<br />

Andreas Ballentin (AB): Die Presse hat<br />

sich damals dann auf die Geschäftsführer<br />

gestürzt. Sicher hat die Geschäftsführung<br />

vieles noch zusätzlich verschlimmert,<br />

aber jeder andere Manager,<br />

den die <strong>Bahn</strong> in die Position geschickt<br />

hätte, hätte genau das Gleiche getan.<br />

Das wurde in den Medien völlig ausgeblendet.<br />

JP: Die <strong>Bahn</strong> hat damals auch als Schadensbeseitiger<br />

den eingesetzt, der<br />

eigentlich mit die größte Verantwortung<br />

dafür getragen hat, dass dieser Schaden<br />

erst zustande gekommen ist, nämlich<br />

Herrn Homburg. 1<br />

BK: Welchen Zusammenhang seht Ihr<br />

mit den gescheiterten Plänen eines<br />

<strong>Bahn</strong>-Börsengangs?<br />

JK: Man darf nicht die Verantwortung<br />

der Politik außer Acht lassen. Über Hartmut<br />

Mehdorn kann man denken, was<br />

man will, mir fällt dazu nicht viel Gutes<br />

ein. Aber den Auftrag des Eigentümers,<br />

die <strong>Bahn</strong> auf den Kurs an die Börse zu<br />

bringen, den hat er erfüllt. Dann stellt<br />

Gespräch<br />

man sich hin und sagt: Also, so hatten<br />

wir uns das aber nicht vorgestellt. Von<br />

den Börsenplänen will jetzt keiner mehr<br />

etwas wissen. Ebenso verhält es sich bei<br />

dem Thema <strong>Bahn</strong>hofsaufsichten: Der<br />

Senat hat die Vorgabe gemacht, in diesem<br />

Bereich 20 Millionen Euro einzusparen<br />

– wer braucht denn überhaupt Aufsichten?<br />

Jetzt regen sie sich auf, dass die<br />

Aufsichten fehlen, und die das tun sind<br />

zum Teil dieselben Leute.<br />

AB: Damals hat der Vorstand nie davon<br />

gesprochen, dass es um den Börsengang<br />

ging, sondern es wurde immer alles auf<br />

die drohenden Ausschreibungen geschoben.<br />

Sie haben gesagt, sie müssten die<br />

S-<strong>Bahn</strong> rationalisieren und „marktfit“<br />

machen, damit sie „im Wettbewerb bestehen“<br />

könne. Der Herr Thon 2 behauptet<br />

ja heute noch, er habe die S-<strong>Bahn</strong> als<br />

ein marodes Unternehmen wieder salonfähig<br />

gemacht. Aus seiner Sicht hat er ja<br />

auch alles richtig gemacht. Er hat den<br />

Auftrag von Mehdorn gehabt, das zu<br />

machen, was er gemacht hat.<br />

JK: Wenn der Börsengang 2008 tatsächlich<br />

geklappt hätte, dann hätten sich die<br />

Käufer vermutlich sehr schnell gewundert:<br />

„Was hab‘ ich da denn für Aktien<br />

gekauft? Das funktioniert ja alles gar<br />

nicht mehr!“<br />

BK: Warum ist es bei anderen S-<strong>Bahn</strong>en<br />

– z. B. in Hamburg oder München<br />

– nicht zu einer ähnlichen Krise wie in<br />

<strong>Berlin</strong> gekommen?<br />

JP: Vergleichen lassen sich allenfalls<br />

Hamburg und <strong>Berlin</strong>, da dies die einzigen<br />

S-<strong>Bahn</strong>en mit einem ganz eigenen System<br />

sind. Aus meiner Sicht hat das zwei<br />

Ursachen: Die Hamburger Politik hat<br />

anders agiert, sie hat auch vor zwei Jah-<br />

27


28<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

ren noch einmal einen Vertrag mit der<br />

Hamburger S-<strong>Bahn</strong> in Direktvergabe<br />

gemacht. Der gilt bis 2020, mit einer<br />

weiteren Verlängerungsoption für fünf<br />

Jahre. Dafür hat die S-<strong>Bahn</strong> dort sich<br />

verpflichtet, neue Fahrzeuge zu beschaffen.<br />

Zweitens hatte die Hamburger S-<br />

<strong>Bahn</strong> aber auch einen sehr geschlossenen<br />

Betriebsrat.<br />

AB: Trotz der ohne Zweifel vorhandenen<br />

Schwierigkeiten hat der damalige Betriebsrat<br />

im Rahmen seiner Möglichkeiten<br />

versucht, das Schlimmste zu verhindern.<br />

Im damals verhandelten Sozialplan<br />

findet sich z.B. der Hinweis wieder, dass<br />

die geplanten Maßnahmen die Leistungsfähigkeit<br />

und die Zukunft der <strong>Berlin</strong>er<br />

S-<strong>Bahn</strong> gefährden. Der Einigungsstellenrichter<br />

erklärte aber, dass z.B. der<br />

Abbau der Aufsichten eine unternehmerische<br />

Entscheidung ist. Nachdem sich<br />

der Herr Thon und seine Kumpels bei der<br />

S-<strong>Bahn</strong> ausgetobt hatten und das S-<br />

<strong>Bahn</strong>system kollabiert ist, wurden dann<br />

auch diese Leute entsorgt. Insgesamt<br />

wurden in der Amtszeit des Betriebsratsvorsitzenden<br />

Heiner Wegner 13 oder 14<br />

Geschäftsführer bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />

verschlissen.<br />

Übrigens gab es bereits davor schon<br />

Versuche, bei der S-<strong>Bahn</strong> ähnliches<br />

umzusetzen, aber das konnte der<br />

Betriebsrat damals noch durch Vereinbarungen<br />

verhindern. Danach fing es dann<br />

an. Viele Maßnahmen, die man bei der<br />

DB über viele Jahre verteilt durchgeführt<br />

hat, sind dann bei uns auf einen Schlag<br />

durchgeführt worden. Deshalb ging das<br />

dann auch schief.<br />

BK: Heißt das, dass die gleichen Maßnahmen<br />

nicht zu den Problemen geführt<br />

hätten, wenn sie langsamer umgesetzt<br />

worden wären? Auch bei der<br />

DB gab und gibt es ja trotz der langsameren<br />

Umsetzung erhebliche Schwierigkeiten<br />

wie stark gesteigerte Verspätungen,<br />

Achsbrüche, Winterchaos, Klimaanlagenchaos<br />

etc.<br />

JP: Ich erinnere mich an ein Gespräch<br />

mit Herrn Dürr 3 im Speisewagen. Da<br />

ging es um „PVI – Planmäßig vorhaltende<br />

Instandhaltung“. Da blaffte mich Herr<br />

Dürr an: „Was ist das? Das brauchen wir<br />

bei der <strong>Bahn</strong> nicht mehr! Ausgewechselt<br />

wird erst, wenn etwas kaputt geht.“ Das<br />

war sein Kommentar. So hat man versucht,<br />

das ganze System umzustricken –<br />

das hat Mehdorn nicht anders gemacht.<br />

Nur: Reparier‘ mal einen Wagen, der auf<br />

der Stadtbahn kaputt geht und dort stehen<br />

bleibt. Wenn man Teile rechtzeitig<br />

auswechselt, dann vermeidet man solche<br />

Probleme.<br />

JK: Die Kolleginnen und Kollegen werden<br />

auch irgendwann verrückt, wenn<br />

auf eine Anweisung die nächste folgt.<br />

Bei der S-<strong>Bahn</strong> haben die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter einen ganzen Stapel<br />

von neuen Formblättern mit Regelungen<br />

bekommen; die haben zum Teil abends<br />

noch versucht, den ganzen Papierkram<br />

zu lesen, weil sie sonst tagsüber kein<br />

Drehgestell mehr gewechselt bekommen<br />

hätten. Da sind die Menschen auch<br />

irgendwann einfach überfordert.<br />

AB: Die alte Geschäftsführung unter<br />

Ruppert 4 hatte damals schon erkannt,<br />

wo die Reise hingehen soll, und die<br />

haben sich dagegen im Rahmen ihrer<br />

Möglichkeiten gewehrt; deswegen sind<br />

sie dann auch abgelöst worden. Ruppert<br />

und seine Leute waren zu sehr S-<strong>Bahn</strong>er<br />

– das hat nicht ins Konzept gepasst.<br />

JP: Das ist aber ein Problem bei der ganzen<br />

<strong>Bahn</strong>. Vor zwei Jahren machte die<br />

Transnet 5 eine Umfrage unter dem technischen<br />

Personal, und da gab es eine<br />

Unzufriedenheit von mehr als 98 Prozent.<br />

Das ingenieurtechnische Personal<br />

hat keine fachliche und sachliche Entscheidungskompetenz.<br />

Es entscheiden<br />

die Controller, und das sind ganz überwiegend<br />

Quereinsteiger, die den Laden<br />

überhaupt nicht kennen. Die interessiert<br />

gar nicht, ob die Brücke da jetzt nachgestopft<br />

werden müsste oder nicht. Die<br />

sagen: „Was, kostet 18000 Euro? Abgelehnt!“<br />

Drei Jahre später sind Risse im<br />

Brückenfundament, und es stehen 2,1<br />

Millionen zu Buche. Das interessiert im<br />

Nachhinein keinen mehr – nur der zuständige<br />

Bereichsleiter hat rechtzeitig<br />

Bescheid gesagt, was da passiert.<br />

JK: Woran wahrscheinlich alle Konzerne<br />

vergleichbarer Größe kranken, ist der<br />

Versuch, die Entscheidungen viele Etagen<br />

über der eigentlichen Arbeitsebene<br />

zu treffen. Es herrscht ein mangelndes<br />

Vertrauen zu den Beschäftigten. Führungskräfte<br />

denken auch, sie hätten nur<br />

dann die Kompetenz einer Führungskraft,<br />

wenn sie alles kontrollieren. Eine<br />

Führungskraft sollte aber so viel Spielraum<br />

einräumen, dass sich die Sachen<br />

auf den Ebenen darunter von selber<br />

regeln – dort, wo die tatsächliche Kompetenz<br />

dafür ist.<br />

BK: Was bedeutet es in der jetzigen<br />

Situation, als S-<strong>Bahn</strong>er zu arbeiten?<br />

Wie reagieren die Fahrgäste, wenn es<br />

immer wieder zu den bekannten Problemen<br />

kommt?<br />

AB: Bei allen Freunden – auch bei denen,<br />

die nie S-<strong>Bahn</strong> fahren – wird man<br />

inzwischen immer auf die Probleme angesprochen.<br />

Es gibt Kollegen, die sagen,<br />

sie fahren mit ihren Uniformen nicht<br />

mehr öffentlich. Sie möchten am liebsten,<br />

dass man gar nicht weiß, dass sie<br />

bei der S-<strong>Bahn</strong> arbeiten, weil sie immer<br />

wieder aufgrund der Presse und der Berichte<br />

vom RBB ziemlichen Anfeindungen<br />

ausgesetzt sind.<br />

JK: Ich bin noch nicht so lange in <strong>Berlin</strong>,<br />

aber ich habe noch nie erlebt, dass eine<br />

Bevölkerung so an einem Nahverkehrsmittel<br />

hängt. Die S-<strong>Bahn</strong> liegt den <strong>Berlin</strong>ern<br />

so am Herzen, so sind auch die vielen<br />

Unterschriften für das Volksbegehren<br />

zustande gekommen. In einer anderen<br />

Stadt, wäre die Sache schon ganz anders<br />

ausgegangen.<br />

JP: Als Nawrocki noch S-<strong>Bahn</strong>-Chef war,<br />

da war der Slogan der S-<strong>Bahn</strong>: „Es liebet<br />

der <strong>Berlin</strong>er Bär seine S-<strong>Bahn</strong> ganz doll<br />

sehr.“ Ein blöder Satz, aber das hat die<br />

Sache auf den Punkt gebracht.<br />

BK: Man sprach früher einmal von der<br />

„S-<strong>Bahn</strong>er-Familie“; es gab eine hohe<br />

Identifikation mit dem Arbeitsplatz.<br />

Wie erlebt Ihr das heute?<br />

AB: Ich bin seit 1999 dabei – das ist bei<br />

der S-<strong>Bahn</strong> kurz. Damals war ja noch<br />

alles in Ordnung, es war schon so, dass<br />

Lunapark21·extra 6/2012


sich alle als etwas Besonders fühlten,<br />

und es gab einen großen Zusammenhalt.<br />

Im Osten war das, man merkt das bis<br />

heute, noch ausgeprägter. Jetzt kommen<br />

die ganzen Vorbereitungen für die Ausschreibung:<br />

Dies bereitet man vor, indem<br />

man alle Bereiche organisatorisch<br />

trennt. Inzwischen arbeitet jeder Fachbereich<br />

nur noch für sich selbst. Da fehlt<br />

es jetzt an Abstimmung und Informationen<br />

innerhalb der S- <strong>Bahn</strong> – das spaltet<br />

alles die Belegschaft, und das merkt<br />

man. Das verunsichert die Leute, es gibt<br />

kein Gefühl von Zusammenhalt mehr.<br />

Ich glaube, das ist auch ein unterschwelliges<br />

Ziel bei der ganzen Geschichte,<br />

dass man da alle zermürbt,<br />

damit es am Ende nicht mehr so einen<br />

großen Widerstand gibt – so kommt mir<br />

das vor.<br />

JK: „Teile und herrsche“ – damit haben<br />

sie der Arbeiterbewegung schon immer<br />

zugesetzt. Das wird hier auch genutzt.<br />

Und trotzdem merkt man immer noch:<br />

Die S-<strong>Bahn</strong>er wollen sich da eigentlich<br />

noch nicht ganz aufgeben; bei bestimmten<br />

Situationen merkt man den Zusammenhalt<br />

dann wieder ganz deutlich –<br />

wie bei einem Gummiband, dass dann<br />

plötzlich wieder zusammenschnellt. Bei<br />

den Anforderungen hier in <strong>Berlin</strong><br />

braucht man aber Leute, die das mit<br />

ganzem Herzen tun.<br />

AB: Wer das aber überhaupt nicht gebrauchen<br />

kann, das sind diese Ausschreiber.<br />

Denen ist das natürlich total<br />

zuwider, dass es da Leute gibt, die an<br />

ihrer Firma hängen und die sich dafür<br />

auch einsetzen.<br />

JK: Die Identifikation würde aber auch<br />

wieder steigen, wenn die Entscheidun-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

gen endlich wieder dort getroffen werden,<br />

wo sie auch hingehören. Sonst<br />

stiehlt man den Kollegen auch den Stolz,<br />

wenn man wegen jedem kleinen Schritt<br />

erst fragen muss – früher hat man das<br />

einfach gemacht, und dann war das<br />

okay. Da waren die Leute stolz darauf,<br />

dass sie den Laden am Laufen gehalten<br />

haben. Heute muss man da erst einen<br />

Antrag stellen, braucht dreizehn Unterschriften<br />

usw.<br />

BK: Es gibt immer mehr S-<strong>Bahn</strong>höfe<br />

mit „ZAT“, also ohne Personal auf dem<br />

<strong>Bahn</strong>steig. Wie beurteilt ihr die Sicherheit<br />

auf diesen <strong>Bahn</strong>höfen?<br />

JP: Das ist ein allgemeines Problem – bei<br />

der <strong>Bahn</strong> heißt das gleiche „TAV – technikbasiertes<br />

Abfertigungsverfahren“. Das<br />

Eisenbahnbundesamt hat dem ganzen<br />

damals zugestimmt – aus meiner Sicht<br />

fälschlicherweise. Es gab den Fall der<br />

Frau, die in einem Regionalexpress in der<br />

Tür eingeklemmt wurde und bis zur<br />

nächsten Station bei 120 km/h in der Tür<br />

hängen geblieben ist – zum Glück ist ihr<br />

nichts passiert. Aber solche Dinge kann<br />

ich technisch nicht ausschließen. Insofern<br />

ist das Abfertigungssystem für mich<br />

Lug und Trug, und es birgt eine Unsicherheit<br />

für die Reisenden in sich, die ist<br />

enorm. Ein Triebfahrzeugführer hat eine<br />

Menge um die Ohren, und ich kann ihm<br />

nicht auch noch die Verantwortung für<br />

die Abfertigung aufdrücken. Aber jetzt<br />

ist es so: Der Triebfahrzeugführer trägt<br />

die Verantwortung, aber es ist nicht seine<br />

Verantwortung. Insofern ist es richtig<br />

zu fordern: Aufsichten auf den <strong>Bahn</strong>höfen,<br />

insbesondere auf den <strong>Bahn</strong>höfen<br />

mit viel Verkehr.<br />

Gespräch<br />

29


30<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

JK: Friedrichstraße, wenn Hertha spielt –<br />

da kann mir doch keiner erzählen, dass<br />

der Triebfahrzeugführer das alles überblicken<br />

kann.<br />

AB: Dabei kommt auch wieder die Komplexität<br />

der S-<strong>Bahn</strong> zutage. Genaugenommen<br />

weiß niemand, ob das System<br />

„ZAT“ funktioniert oder nicht. Mit den<br />

fehlenden Aufsichten kommt aber noch<br />

etwas dazu: Wir als Fahrdienstleiter sitzen<br />

bald alle draußen in der Betriebszentrale<br />

Halensee. Wenn es jetzt ein<br />

Problem im Betriebsablauf gibt, dann<br />

haben wir auf den <strong>Bahn</strong>höfen keine Ansprechpartner<br />

mehr, nur noch die Triebfahrzeugführer.<br />

Die paar Stammaufsichten<br />

und die Handvoll mobile Aufsichten<br />

können die örtlichen Aufsichten auch<br />

nicht in Gänze ersetzen, die haben dann<br />

auch genug zu tun. Irgendetwas bleibt<br />

im Störungsfall immer auf der Strecke:<br />

Entweder Du informierst die Fahrgäste<br />

nicht richtig, oder der Zug fährt unpünktlich<br />

– beides geht nicht.<br />

JK: Selbst wenn ich die Züge technisch<br />

abfertigen könnte, brauche ich noch<br />

Leute auf dem <strong>Bahn</strong>hof. Was passiert<br />

denn, wenn das „ZAT“ ausfällt? Dann ist<br />

der Triebfahrzeugführer schlichtweg<br />

aufgeschmissen. Wer will denn die Verantwortung<br />

übernehmen auf den gebogenen<br />

<strong>Bahn</strong>steigen, wenn man nichts<br />

sieht? Dazu kommt noch das subjektive<br />

Sicherheitsempfinden der Fahrgäste.<br />

Und die Leute wollen Informationen.<br />

Auch das haben in der Vergangenheit die<br />

Aufsichten gemacht. Doch das ist eine<br />

politische Entscheidung: Wie viel ist es<br />

mir wert, dass auf den <strong>Bahn</strong>steigen<br />

Menschen sind, die mit Menschen reden<br />

und ihnen weiterhelfen?<br />

JP: Das gleiche gilt auch bei der U-<strong>Bahn</strong>.<br />

Dieses Null-Personen-System überall ist<br />

für eine Stadt, die sich rühmt, die höchsten<br />

Zuwächse im Tourismus zu haben,<br />

einfach nur hanebüchen. Da gehen so<br />

ein paar Ein-Euro-Jobber – und das richtet<br />

sich nicht gegen die Menschen – mit<br />

einer grünen Weste durch die <strong>Bahn</strong>höfe,<br />

und da meint man, so könnte man dann<br />

die Sicherheit gewährleisten.<br />

JK: Gerade damit strafen die Politiker<br />

doch ihre eigenen Aussagen Lügen. Erst<br />

heißt es, man bräuchte keine Aufsichten.<br />

Aber dann werden Ein-Euro-Jobber geholt,<br />

bekommen eine Schnellbesohlung,<br />

und sollen damit die Aufsichten ersetzen.<br />

AB: Es ist schon mehrmals vorgekommen,<br />

dass die Funkanlage genau in den<br />

Fällen, wo es eigentlich drauf ankommt,<br />

zusammenbricht. Dann erreichst Du den<br />

Triebfahrzeugführer einfach nicht. Auch<br />

bei uns in der Betriebszentrale wurde ein<br />

solcher Kahlschlag vollzogen, dass auch<br />

da reihenweise die Arbeitsplätze nicht<br />

besetzt sind und dass es auch da zu Personalengpässen<br />

kommt.<br />

JK: Dazu kommt für die Aufsichten, die<br />

noch da sind: Man sagt ihnen, dass man<br />

sie eigentlich nicht mehr braucht, aber<br />

trotzdem sollen sie ihre Arbeit noch mit<br />

vollem Einsatz machen. Wenn dann<br />

immer von der Motivation der Leute gesprochen<br />

wird – das muss man erstmal<br />

bringen, sich dann noch von den Fahrgästen<br />

anspucken zu lassen und trotzdem<br />

noch zu sagen: Das ist mein Betrieb.<br />

Das nimmt den Leuten auch ein<br />

stückweit die Würde. Und die Politik<br />

hätte es verdammt nochmal in der Hand,<br />

da auch zu sagen: Dann nehmen wir<br />

eben die zweckentfremdeten Regionalisierungsmittel,<br />

von denen der Senat<br />

einen Anteil einbehält, um damit die<br />

Schulden der BVG abzuzahlen. Mit den<br />

123 Millionen Euro jedes Jahr könnte<br />

man schon eine Menge machen.<br />

JP: Es ist auch erschreckend, wie viele<br />

Entscheidungen die Politik eigentlich<br />

abgibt. Es werden Entscheidungen auf<br />

nicht demokratisch legitimierte Institutionen<br />

wie den Verkehrsverbund <strong>Berlin</strong>-<br />

Brandenburg (VBB) ausgelagert Der VBB<br />

ist eine GmbH und nicht der Daseinsvorsorge,<br />

die in der Landesverfassung steht,<br />

verpflichtet!<br />

JK: Es geht auch immer um die Ausschreibungen<br />

und Sozialstandards. In<br />

den Situationen sagt die Politik immer,<br />

da kann man keinen Einfluss nehmen –<br />

aber an anderen Stellen geht es dann<br />

wieder. Vielleicht fände der Herr Grube<br />

das ja sogar ganz toll, wenn man ihm<br />

sagen würde, in Zukunft geht es nicht<br />

mehr um Gewinnmaximierung, sondern<br />

wir wollen Vorreiter bei den Sozialstandards<br />

sein, und der Reisende soll sich<br />

fühlen, als wenn er mit seinem Sofa<br />

durch Europa unterwegs ist. Das kriegt<br />

Grube sicher auch umgesetzt. Er wird<br />

dann sagen: Das kostet Euch extra<br />

soundsoviele Millionen, aber das Volk<br />

will es doch offensichtlich, dass Daseinsvorsorge<br />

nicht privatisiert wird. Warum<br />

verdammt nochmal reagieren und agie-<br />

ren die Politiker nicht in diesem Sinn?<br />

AB: Wir hatten einmal eine Debatte mit<br />

(dem EVG-Vorsitzenden; d. Red.) Alexander<br />

Kirchner, da hat er uns im Rahmen<br />

einer Vertrauensleutesitzung erzählt,<br />

dass eigentlich die Bürger alles ausschreiben<br />

wollen. Ich hab‘ ihn gefragt,<br />

welche Bürger er da meint. Ich kenne<br />

sehr viele Bürger, und ich kenne keinen,<br />

der das gut findet. Die einzigen, die das<br />

gut finden, sind die da oben, die sich die<br />

Taschen damit vollstopfen.<br />

JK: Man muss auch fragen: Wie viel<br />

davon kann ein souveräner Staat noch<br />

abgeben und dabei noch souverän bleiben?<br />

Man gibt Souveränität aus der<br />

Hand, ohne dass es eine Notwendigkeit<br />

gibt.<br />

AB: Nehmen wir mal an, die S-<strong>Bahn</strong> wäre<br />

zu dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs<br />

ein Privatunternehmen gewesen.<br />

Wer hätte denn dann dafür bezahlt, dass<br />

man das alles wieder aufbaut? Dann<br />

hätte das Land <strong>Berlin</strong> alles aufkaufen<br />

müssen, und dann hätten wir mit Steuergeldern<br />

alles wieder reparieren müssen.<br />

JK: Der Private hätte eine Insolvenz hingelegt.<br />

Man lässt einfach das Subunternehmen<br />

pleitegehen und bietet sogar<br />

noch großzügig an, gegen entsprechende<br />

Zahlungen ein neues Subunternehmen<br />

zu gründen, das den Betrieb übernimmt.<br />

Es ist immer so: Gewinne sind<br />

privatisiert, Verluste sind sozialisiert.<br />

BK: Welche Maßnahmen müssten aus<br />

Eurer Sicht getroffen werden, um die<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Krise zu lösen?<br />

JP: Erstmal muss Ruhe in den Laden<br />

kommen. Das ganze Gerede von der Ausschreibung<br />

muss erstmal aufhören. Der<br />

Herr Franz 6 ist ja nun gegen die Privatisierung<br />

der <strong>Bahn</strong> – da stimme ich ihm<br />

vollkommen zu. Aber gleichzeitig ist er<br />

auch für die Ausschreibung, und auch<br />

für die Teilausschreibung. Das betreibt<br />

der VBB ja alles. Doch das ist auch eine<br />

Privatisierung! Das Schlimme ist ja auch<br />

noch: Es wird von Teilausschreibungen<br />

gesprochen. Noch ist die S-<strong>Bahn</strong> ja ein<br />

gut funktionierendes Gesamtsystem.<br />

Dieses funktionierende System reiße ich<br />

dann auseinander. Ich habe dann zwei<br />

Betreiber und zwei Wasserköpfe. Was<br />

soll denn da, bitteschön, billiger werden?<br />

JK: Ich stimme Jörg zu: Die S-<strong>Bahn</strong><br />

braucht zuerst mal Ruhe. Die S-<strong>Bahn</strong>er<br />

Lunapark21·extra 6/2012


wissen sehr gut, was zu tun ist. Man<br />

muss ihnen nur die Zeit geben, dass sie<br />

es auch tun. Und die Politik muss endlich<br />

langfristige Entscheidungen treffen, wie<br />

das System durchfinanziert ist. Fahrzeuge<br />

werden für 30 Jahre gekauft, da nutzt<br />

eine Finanzzusage für zwei Jahre überhaupt<br />

nichts. Es muss auch klar sein:<br />

Was erwartet die Politik von der <strong>Bahn</strong>?<br />

Wollen wir mehr Leute in den Zügen,<br />

was brauchen wir dafür? Aber im Moment<br />

ist das alles nur Stückwerk.<br />

AB: Ich kann das nur bestätigen. Wir<br />

brauchen Planungssicherheit. Die Probleme<br />

sind alle noch nicht bewältigt und<br />

müssen stückweise abgearbeitet werden.<br />

Die Ausschreibung bringt jetzt noch<br />

mehr Unruhe hinein. Diesen Fehler muss<br />

die Politik erkennen und die Idee dieser<br />

Ausschreibung aufgeben. Stattdessen<br />

muss es eine Direktvergabe geben, und<br />

dann muss man darüber nachdenken,<br />

wie neue Züge angeschafft werden können.<br />

Und für meine Kolleginnen und Kollegen<br />

wünsche ich mir einmal, dass sie<br />

Weihnachten verbringen können ohne<br />

Angst haben zu müssen, dass sie ihren<br />

Arbeitsplatz verlieren.<br />

BK: Die EU schreibt Ausschreibungen<br />

des Betriebs von <strong>Bahn</strong>en vor, wenn<br />

dieser nicht an ein kommunales Unternehmen<br />

übergeben werden kann. Die<br />

S-<strong>Bahn</strong> ist anders als die BVG kein<br />

kommunales Unternehmen. Wie können<br />

wir dennoch Ausschreibungen<br />

umgehen?<br />

JP: Die Stadt muss die S-<strong>Bahn</strong> kaufen.<br />

Anders geht’s nicht.<br />

BK: Wenn aber die Stadt die S-<strong>Bahn</strong><br />

kaufen würde, dann würde das bedeuten,<br />

dass Andreas als Fahrdienstleiter<br />

bei der DB Netz arbeiten würde, der<br />

Betrieb ist aber bei der S-<strong>Bahn</strong>. Das<br />

Netz kann man auch nicht einfach so<br />

mitverkaufen, weil das mit dem normalen<br />

<strong>Bahn</strong>netz eng verzahnt ist.<br />

Irgendwo schafft man also eine Trennung<br />

– da gibt es doch irgendwo Reibungsverluste?<br />

JK: Zumindest muss man die Frage stellen:<br />

Welchen Anteil der S-<strong>Bahn</strong> müsste<br />

die Stadt kaufen? Ein gewisser Anteil<br />

würde schon genügen, damit das Land<br />

die S-<strong>Bahn</strong> beherrscht, und dann würde<br />

sie als kommunales Unternehmen gelten,<br />

und man müsste nicht ausschreiben.<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

JP: Die Stadt <strong>Berlin</strong> müsste dann bei der<br />

S-<strong>Bahn</strong> genauso eine Stellung haben, als<br />

wäre es eine eigene Dienststelle. Das<br />

heißt, der Senat muss sicherstellen, dass<br />

er über das Personal bestimmt, dass er<br />

über die Finanzen bestimmt, usw. Rein<br />

nach EU-Recht gäbe es noch einen<br />

anderen Weg. Warum geht das in Hamburg<br />

und in <strong>Berlin</strong> nicht?<br />

JK: Das würde aber heißen, dass die<br />

Herren Politiker Mitverantwortung übernehmen<br />

müssten. Wenn die Stadt Miteigentümer<br />

an der S-<strong>Bahn</strong> ist, dann kann<br />

man nicht mehr einfach mit dem Finger<br />

auf andere zeigen.<br />

BK: Wie schätzt Ihr die Erfolgsaussichten<br />

des Volksbegehrens des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

<strong>Tisch</strong>s ein und kann das zur Lösung der<br />

Probleme beitragen?<br />

AB: Das wird schwierig, in der zweiten<br />

Runde die erforderlichen 172000 Unterschriften<br />

zu sammeln. Ansonsten ist<br />

die Aktion gut, weil es eine realistische<br />

Sache ist, noch irgendwie Einfluss nehmen<br />

zu können, da wir ja damit rechnen<br />

müssen, dass eine Ausschreibung<br />

kommt. Ich hoffe, dass wir das irgendwie<br />

hinkriegen, aber da sind wir natürlich<br />

auch auf viel Unterstützung angewiesen.<br />

JK: Ich denke, wir haben schon etwas<br />

erreicht, selbst wenn wir die 172000<br />

Unterschriften nicht zusammenkriegen.<br />

Die Politik hat immerhin schon mal mitgekriegt:<br />

Der Souverän steht an der Tür<br />

Gespräch<br />

und will etwas. Keiner hat uns geglaubt,<br />

dass wir in der ersten Runde die 20000<br />

Unterschriften zusammenbringen. Ich<br />

glaube auch, das wird kein Spaziergang,<br />

aber ich behaupte, das bekommen wir<br />

hin. Wir waren auch erstaunt, was da in<br />

den letzten Tagen jetzt noch alles per<br />

Post zurückkam: Alles von einer bis 50<br />

Listen, zum Teil noch mit ganz lieben<br />

Briefen dazu.<br />

Auch für die EVG war das neu, dass<br />

wir mit anderen Organisationen zusammengearbeitet<br />

haben, die wir nicht hundertprozentig<br />

kannten. Dadurch haben<br />

wir auch neue Erfahrungen gemacht.<br />

Der Senat hat im Moment ein echtes<br />

Problem mit unserem Volksbegehren. So<br />

wie wir nicht wissen, ob wir es schaffen,<br />

weiß es der Senat auch nicht. Der Senat<br />

will ausschreiben, aber wir haben in das<br />

Gesetz ja auch reingeschrieben, dass es<br />

auch für bestehende Verkehrsverträge<br />

anzuwenden ist. Da wäre es schon ein<br />

ganz schönes Risiko, ohne unsere Wünsche<br />

auszuschreiben. Wenn sie unsere<br />

Forderungen gleich übernehmen, dann<br />

haben wir schon gewonnen, bevor wir<br />

angefangen haben.<br />

JP: Im Moment sehe ich so die einzige<br />

Chance, hier noch etwas Ordentliches<br />

hinzubekommen. Und wenn man das<br />

sieht, dann kommt auch die Energie.<br />

Dann bekommt man sicher die Unterschriften<br />

auch zusammen.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Ulrich Homburg wurde Anfang 2000 Chef des Vorstandsressorts Marketing bei DB Regio,<br />

der Tochter der DB AG Holding. Von 2003 bis Mitte 2009 war Homburg<br />

Vorstandsvorsitzender von DB Regio. Er war damit auf dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

maßgeblich verantwortlich für die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH, eine Tochter von DB Regio. Seit<br />

dem 1. Juni 2009 ist Homburg Vorstand für Personenverkehr bei der DB Mobility Logistics<br />

AG (DB ML).<br />

2 Ulrich Thon war im Zeitraum 2005 bis Mitte 2009 Technikchef der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>. Er war<br />

verantwortlich für das „Projekt X Optimierung S-<strong>Bahn</strong>en (OSB)“. Er wurde danach für kurze<br />

Zeit bei DB Regio mit einem gut dotierten Job „zwischengeparkt“ und schied im Frühjahr<br />

2010 aus dem DB-Konzern „im gegenseitigen Einvernehmen“ aus.<br />

3 Heinz Dürr war ab 1991 Erster Präsident der Deutschen Bundesbahn und Generaldirektor<br />

der Deutschen Reichsbahn. Ab Gründung der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG Anfang 1994 und bis<br />

1997 war Dürr Vorstandsvorsitzender dieser neuen <strong>Bahn</strong>gesellschaft, unter deren Dach<br />

Bundesbahn und Reichbahn vereint wurden. Dürr drängte auf die Zusammenfassung der<br />

deutschen Staatsbahnen als Aktiengesellschaft und sah darin einen ersten Schritt zur<br />

Privatisierung. Im „Hauptberuf“ ist Dürr Chef und mehrheitlicher Eigentümer der Dürr AG.<br />

Dieser Autozulieferer rühmt sich, ein Drittel des Weltmarkts an Autolackierautomaten zu<br />

kontrollieren. Dürr ist auch Großaktionär der Daimler AG.<br />

4 Günter Ruppert, ehemaliger Geschäftsführer der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />

5 Damalige Eisenbahnergewerkschaft, ist zum 30. November 2010 mit der GDBA zur EVG<br />

(Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) fusioniert worden.<br />

6 Hans-Werner Franz, Geschäftsführer Verkehrsverbund <strong>Berlin</strong>-Brandenburg GmbH (VBB).<br />

31


32<br />

In der Hauptrolle: Die <strong>Berlin</strong>er Bevölkerung!<br />

Statisten in einem schlechten Film


Die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> gilt vielen als Paradebeispiel<br />

für die verfehlte Ausrichtung<br />

eines öffentlichen Unternehmens auf die<br />

Privatisierung. Notwendige Investitionen<br />

zum Erhalt und zur Pflege der Wagen-<br />

Infrastruktur der im Eigentum der DB AG<br />

befindlichen S-<strong>Bahn</strong> erfolgten nicht,<br />

selbst sicherheitsrelevante Wartungsarbeiten<br />

wurden „gestreckt“ – mit anderen<br />

Worten: sie wurden nicht zu dem Zeitpunkt<br />

erledigt, den Sicherheit und nachhaltiges<br />

Fuhrparkmanagment erforderten.<br />

Man glaubte, sich das erlauben zu<br />

können: Die DB AG hatte die S-<strong>Bahn</strong> von<br />

der BVG geschenkt bekommen. Geschenkt?<br />

Richtig – geschenkt! Wagen,<br />

Gleise, S-<strong>Bahn</strong>höfe, Ausfahrten, Werkstätten.<br />

Zudem stand in den für die Auszehrung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> verantwortlichen<br />

Jahren 2004 bis 2008 der Börsengang<br />

(vermeintlich) unmittelbar bevor; die<br />

Neuausschreibung hingegen sollte 2017<br />

stattfinden und lag damit weit entfernt.<br />

Es sprach in der Logik der Börsengänge<br />

viel dafür, durch Unterinvestitionen Geld<br />

aus der S-<strong>Bahn</strong> herauszuziehen, um die<br />

Story der steigenden Gewinne des Mutterkonzerns<br />

DB AG schreiben zu können.<br />

Bekanntgewordene Folgen sind Technikversagen<br />

bei Achsen, Radsätzen, Bremsen<br />

und Motoren, von 2008 bis 2011 lösten<br />

sich Notfahrpläne und Not-Notfahrpläne<br />

ab, „S-<strong>Bahn</strong>-Chaos“ wurde zum<br />

Synonym eines vormals vorbildlichen<br />

Nahverkehrssystems mit nunmehr privatwirtschaftlicher<br />

Orientierung.<br />

Unterinvestitionen gab es jedoch<br />

nicht nur beim Wagenmaterial, englisch<br />

anschaulich „Rolling Stock“. Auch die<br />

ortsfeste Infrastruktur – Gleise, Signalanlagen,<br />

Fahrleitungen etc. wurde ausgetrocknet.<br />

Und last but not least: Das<br />

Personal, laut <strong>Bahn</strong>chef Rüdiger Grube<br />

die tragende Säule jedes Unternehmens,<br />

wurde massiv abgebaut, die verbliebenen<br />

erlitten Arbeitsverdichtung und sich<br />

verschlechternde Arbeitsbedingungen.<br />

Die finanziellen Schäden für die Steuerund<br />

Gebührenzahler übersteigen bei Un-<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

terinvestitionen in Personal, Infrastruktur<br />

und Rolling Stock nicht selten die<br />

„klassischen Formen“ der Schädigung<br />

des Gemeinwesens in Form zu hoher Gebühren<br />

und zu geringer Verkaufserlöse.<br />

In Großbritannien wurde der Schaden<br />

am britischen Eisenbahnsystem nach<br />

fünf Jahren Infrastrukturmanagment<br />

durch die private Aktiengesellschaft rail<br />

track auf bis zu 110 Milliarden Euro beziffert.<br />

Nachfolgend wird aufgezeigt, wo Unterinvestitionen<br />

im Fall der <strong>Berlin</strong>er S-<br />

<strong>Bahn</strong> verursacht wurden, wie sie zyklisch<br />

wieder sichtbar werden und welche fatalen<br />

Folgen das noch haben kann.<br />

Auch 2018 Fahrzeugmangel ?<br />

Die Unterinvestitionen ins Wagenmaterial<br />

der Jahre des vermeintlichen <strong>Bahn</strong>börsengangs<br />

werden in Zyklen von fünf<br />

bis acht Jahren zu gravierenden Problemen<br />

mit der Kapazität für die Wartung<br />

führen. Genötigt durch die massivsten<br />

Zugausfälle seit der Nachkriegszeit hat<br />

die neue S-<strong>Bahn</strong>-Führung einen riesigen<br />

Berg an Wartungs- und Instandhaltung<br />

abgearbeitet, ein Volumen, das deutlich<br />

über dem liegt, was von den Kapazitäten<br />

eigentlich zu schaffen ist. In Zahlen<br />

standen im Plansoll für 2011 bei den<br />

Wagen (Viertelzügen) 127 Revisionen<br />

und 45 Inbetriebnahmen. Das Werk<br />

Schöneweide, das diese Arbeiten zu bewerkstelligen<br />

hatte, hat in seiner Geschichte<br />

noch nie mehr als 90 Revisionen<br />

bzw. Inbetriebnahmen pro Jahr geschafft.<br />

Parallel dazu wurden 3000 Fahrmotoren<br />

überholt, die alters- und konstruktionsbedingt<br />

anfällig wurden für<br />

Feuchtigkeit z.B. infolge Pulverschnee.<br />

Nachbesserungen bei baureihenbedingten<br />

Mängeln wie zufrierenden Bremssandanlagen<br />

und Schwierigkeiten mit<br />

Türen und Klimaanlagen kamen dazu.<br />

Auch wenn ein Teil der Arbeiten sich in<br />

das laufende Jahr 2012 verschoben haben<br />

dürfte: 2013 sind fast nur ein Drittel<br />

an 34 Revisionen erforderlich. Dann<br />

Unterinvestition = S-<strong>Bahn</strong>-Chaos<br />

Droht periodisch das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos?<br />

Wenige Jahre Unterinvestitionen können die Fahrgäste, die<br />

Beschäftigten und die öffentliche Kasse jahrzehntelang belasten<br />

Carl Waßmuth<br />

steigt die Zahl der großen Wartungsund<br />

Instandhaltungsarbeiten wieder an.<br />

Peter Buchner, Geschäftsführer der S-<br />

<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>, nannte für 2011 die Zahl<br />

von 127 Revisionen, für 2012 59. 2013<br />

sollen es nur 34 sein, was nach dieser<br />

Darstellung den tiefsten Wert darstellen<br />

würde. Bereits 2014 sind es mit 61<br />

knapp doppelt so viel, 2015 mit 73 wieder<br />

ein Wert, der früher als Top-Wert<br />

galt. Danach soll die Zahl der Revisionen<br />

nochmals deutlich ansteigen, so dass<br />

Probleme wie 2009 bis 2011 drohen.<br />

Der Rolling Stock erhielt damit definitiv<br />

eine zyklische Delle: Alle paar Jahre<br />

überfordert die Instandhaltung des Materials<br />

die Werkstätten, um dann wieder<br />

einige Jahre durch Unterauslastung gegenüber<br />

den Beschäftigten als Argument<br />

zu dienen, die Belegschaft abzubauen.<br />

S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>: Infrastruktur<br />

Die Infrastruktur der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> gehört<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG. Alles, was<br />

im weitesten Sinne zu den Gleisen zu<br />

rechnen ist, gehört der DB Netz AG, die<br />

<strong>Bahn</strong>höfe gehören – mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

– der DB Station und Service<br />

AG. Gemäß einer Antwort der Bundesregierung<br />

auf eine Kleine Anfrage der<br />

Grünen wurden zwischen 1994 bis 2008<br />

allein im Land <strong>Berlin</strong> – also noch ohne<br />

Brandenburg – rund 2,2 Milliarden Euro<br />

für den Wiederaufbau und die Sanierung<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Netzes investiert. Dabei<br />

betrugen die Bundeszuschüsse rund 1,6<br />

Milliarden Euro 1. Während der Bund also<br />

jährlich fast 110 Millionen Euro investierte,<br />

lagen die Investitionen der DB AG<br />

bei jährlich rund 40 Millionen Euro. Vereinbartes<br />

Ziel des Ausbaus war die „Wiederherstellung<br />

des Streckennetzes vom<br />

12.08.1961 nach dem Stand der Technik“.<br />

Im Zuge der „Wiederherstellung des<br />

Streckennetzes“ kam es auch zum Rückbau<br />

von Infrastrukturen wie etwa der<br />

Nordkurve des <strong>Bahn</strong>hofs Ostkreuz. Die S-<br />

<strong>Bahn</strong>-<strong>Berlin</strong> GmbH muss die ihr von der<br />

Muttergesellschaft DB AG für diese In-<br />

33


34<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Langfristige Folgen von Unterinvestitionen<br />

am Beispiel von Wasserprivatisierungen<br />

Wohin die Unterinvestitionen bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> führen können, lässt sich bei<br />

den Privatisierungen der Wasserbetriebe in <strong>Berlin</strong> und Lübeck studieren. Die <strong>Berlin</strong>er<br />

Wasserbetriebe wurden 1999 teilprivatisiert. In der Folge wurden in die Trinkwasserinfrastruktur<br />

nur 33 Prozent der erforderlichen – und in den vorausgegangenen<br />

Jahren meist auch bewilligten – Gelder investiert. Statt in 50 Jahren sollen<br />

die Anlagen erst in 152 Jahren einmal erneuert werden. Für den Abwasserbereich<br />

errechnet eine aktuelle Studie: Das Abwassernetz wäre beim aktuellen Investitions-„Tempo“<br />

erst nach 340 Jahren erneuert. Der Fehlbetrag durch die gegenwärtige<br />

Unterinvestition hat sich bis Ende 2011 auf rund 5,2 Milliarden Euro summiert.<br />

Die privaten Investoren, die für ihre Beteiligung von 49,9 Prozent 1,7 Milliarden<br />

Euro zahlten, entnahmen allein in den ersten zwölf Jahren Gewinne in etwa<br />

gleicher Höhe. Kommt es zu großen Abwasserrohrbrüchen, kann die Keimbelastung<br />

des Trinkwassers innerhalb von kurzer Zeit auf gesundsheitsbelastende Werte<br />

steigen. Benachbarte Rohre erleiden nicht vorgesehene Belastungen, neue Risse<br />

legen die Sollbruchstelle für den nächsten Rohrbruch. In Lübeck – wo die Wasserversorgung<br />

ebenfalls im Jahr 2002 privatisiert wurde – kam es als Folge einer vergleichbaren<br />

Politik der Unterinvestition Ende 2010 zu einer Serie von Rohrbrüchen:<br />

„Die Stadt befand sich damals wie im Ausnahmezustand: Stadtwerke, Feuerwehr<br />

und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein richteten Krisenstäbe ein und<br />

erarbeiteten Notfallpläne. Viele Lübecker Bürger besorgten sich Trinkwasser an<br />

Tankstellen, die Krankenhäuser bauten eine Notversorgung auf.“ Rainer Kersten,<br />

Geschäftsführer des Steuerzahlerbundes Schleswig- Holstein, bezeichnete den<br />

Kollaps des Lübecker Wassernetzes als „Warnschuss“ für die Netzbetreiber im ganzen<br />

Land. „Sie sollten nicht bei der Instandhaltung der Infrastruktur sparen und<br />

ihre eigenen Systeme auf Schwachstellen überprüfen”, sagte Kersten. C. W.<br />

Fakten & Informationen: www.tbs-berlin.de/article/articleview/125/1/17/" Broschüre Wasser<br />

in <strong>Berlin</strong> (Juni 2011), DGB Bildungswerk Wilhelm Leuschner, tbs berlin GmbH, in Ecom GmbH;<br />

www.ndr.de/regional/schleswig-holstein/luebeck585.html" NDR zu: Wasserrohrbruch in<br />

Lübeck, Stand: 13.12.2010 07:48 Uhr<br />

vestitionen gewährten Kredite selbstredend<br />

zurückzahlen, was eine erhebliche<br />

Belastung für das Unternehmen darstellt.<br />

Auf der anderen Seite muss die DB<br />

AG an den Bund keine Gelder für die geleisteten<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Investitionen erstatten.<br />

Dazu kommen die Trassenpreise, die von<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> an DB-Netz abgeführt<br />

werden müssen. Vor jeder Gewinnausweisung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH steht<br />

also die anteilige Tilgung der Kredite<br />

(zuzüglich Zinsen) sowie die Abführung<br />

der Trassengebühren, so dass selbst in<br />

Jahren mit Verlusten der S-<strong>Bahn</strong> es nach<br />

der Verlustübernahme in der Gesamtbilanz<br />

der DB AG netto ein Plus gab. Diesen<br />

Zahlungen sollte nun etwas gegenüberstehen:<br />

betriebssichere Wartung<br />

und Instandhaltung der Infrastruktur. In<br />

welchem Umfang investiert nun aber die<br />

DB AG in die Erhaltung und Wartung<br />

dieser Infrastruktur im geschätzten<br />

Wert? Nimmt man einen Wert von 5 bis<br />

8 Milliarden Euro für die S-<strong>Bahn</strong> an und<br />

geht man davon aus, dass der Oberbau<br />

(Gleise, Signaltechnik etc.) im Durchschnitt<br />

mindestens alle 50 Jahre einmal<br />

erneuert werden müssen, dann ergibt<br />

sich die jährliche Summe von mindestens<br />

100 Millionen, die dafür bereitzustellen<br />

wäre. Für eine solche Summe als<br />

Untergrenze spricht auch der Betrag von<br />

170 Millionen Euro, den die S-<strong>Bahn</strong><br />

GmbH jährlich an Trassengelder abzuführen<br />

hat.<br />

Wie viel die S-<strong>Bahn</strong> GmbH tatsächlich<br />

für solche grundlegende Investitionen<br />

einsetzt bzw. zurückstellt, ist nicht zu<br />

erfahren – nicht umsonst hat der damalige<br />

<strong>Bahn</strong>chef Hartmut Mehdorn 2006<br />

den Preis „Verschlossene Auster“ der<br />

Gruppe Netzwerk Recherche verliehen<br />

bekommen. Es gibt aber deutliche Anzeichen,<br />

dass sich auch bei der Infrastruk-<br />

tur der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> enorme Unterinvestitionen<br />

aufstauen. So war das „S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Chaos“ keineswegs nur auf unzureichendes<br />

Wagenmaterial zurückzuführen.<br />

In den Wintern 2008 und 2010 kam<br />

es zu einer Vielzahl von Zugausfällen<br />

und verkürzten Zügen. Begründet wurden<br />

die Einschränkungen auch mit<br />

ungenügender Heizung der Weichen<br />

durch die DB sowie mit Stellwerks- und<br />

Signalstörungen. 2<br />

Brutale Personalplanung<br />

Katrin Dornheim und Lucy Redler legen<br />

im Beitrag „Wessen <strong>Bahn</strong>? Unsere<br />

<strong>Bahn</strong>!“ in diesem Heft den massiven Personalabbau<br />

bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> dar.<br />

Ausgehend vom Gründungsbestand der<br />

S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im Jahr 1994 von<br />

ca. 5000 Beschäftigten wurde der Personalbestand<br />

bis 2009 auf 2885 Mitarbeiter<br />

gesenkt. Im gleichen Zeitraum verdoppelten<br />

sich die Verkehrsleistungen<br />

der S-<strong>Bahn</strong> bei der Personenbeförderung<br />

nahezu. Bezogen auf die pro Einheit geleistete<br />

Arbeit ist das eine Verdichtung<br />

um den Faktor 3,5 bis vier. Seit 2010 gibt<br />

es so etwas wie einen Stopp des Abbaus,<br />

verschiedentlich wird sogar zögerlich<br />

wieder eingestellt, allerdings keineswegs<br />

adäquat im Hinblick auf den Bedarf.<br />

Gleichzeitig erfolgen die neuesten Begründungen,<br />

weswegen immer noch kein<br />

Normalfahrplan gefahren wird, mit Hinweis<br />

auf das Personal. Zunächst ist von<br />

„hohen Krankenständen“ die Rede, dann<br />

von „100 Lokführern, die fehlen.“ Als<br />

Arbeitgeber sollte man eigentlich vorsichtig<br />

damit sein, mit hohen Krankenständen<br />

Öffentlichkeitsarbeit zu<br />

machen. Hohe Krankenstände sind ein<br />

zuverlässiger Indikator schlechter Personalpolitik.<br />

Gute Arbeitsbedingungen,<br />

hohe Identifikation und eine gute Altersmischung<br />

sind Voraussetzung für einen<br />

niedrigen Krankenstand. Die Arbeitsbedingungen<br />

bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> sind<br />

durch die Arbeitsverdichtung, aber auch<br />

durch nachteilige Veränderungen am<br />

Arbeitsplatz wie die zusätzliche Übernahme<br />

der Zugabfertigung durch die<br />

Lokführer bei der S-<strong>Bahn</strong> stark gesunken.<br />

Die Identifikation der Beschäftigten<br />

mit „ihrer“ S-<strong>Bahn</strong> war traditionell sehr<br />

hoch. Erst das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos konnte<br />

diese weit in die Jahre vor der Teilung<br />

zurückreichende Bindung beschädigen.<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Was die gute Alters- und Ausbildungsmischung<br />

betrifft: Auch in diesem<br />

Bereich hat man Elementares vernachlässigt.<br />

Zu März 2012 sollen 100 neue<br />

Lokführerinnen und Lokführer ihre Ausbildung<br />

beendet haben. Damit wird ein<br />

akuter Engpass behoben, aber in die<br />

Kontinuität der Personalpolitik eine weitere<br />

Scharte geschlagen.<br />

Infrastruktur- Unterinvestition<br />

+ vernachlässigtes Wagenmaterial<br />

+ Personalabbau = Infarkt<br />

Die Folgen der Fehler und Unterinvestitionen<br />

in den drei genannten Bereichen<br />

haben jeweils eigene Wiederkehrintervalle.<br />

100 gleichzeitig eingestellte Lokführer<br />

gehen etwa gleichzeitig in Rente.<br />

Verlängerungen der eigentlichen Regellaufzeit<br />

beim Wagenmaterial führen zu<br />

Inspektions- und Wartungsbergen. Erfolgen<br />

Reparatur oder Austausch von Gleisen<br />

oder Signalanlagen nicht kontinuierlich,<br />

kommt es zum Sanierungsstau –<br />

oder zu Schäden. Die jeweiligen zyklischen<br />

Investitionsstau-Folgen können<br />

zeitversetzt auftreten. Auch Überschneiden<br />

sich die Kapazitäten z.B. im Austausch<br />

von Weichen und im Austausch<br />

von Radsatzwellen gar nicht oder kaum.<br />

Es ist allerdings durchaus möglich, dass<br />

einmal aus zwei oder sogar drei Bereichen<br />

relevante Überschneidungen auftreten.<br />

In Ansätzen haben das die S-<br />

<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> und ihre Fahrgäste schon zu<br />

spüren bekommen. Seit 2009 fehlten<br />

durchgängig Wagen wegen Unterinvestition.<br />

Teilweise konnten aber auch fahrbereite<br />

Züge nicht fahren – weil Weichen<br />

eingefroren waren und Lokführer<br />

fehlten. Solch phasengleiches Auftreten<br />

von zyklischer Unterinvestition kann die<br />

Kapazitäten eines Unternehmens überfordern,<br />

es droht der Kollaps. Noch häufiger<br />

ist der Infarkt durch Zusammenbruch<br />

der Infrastruktur infolge eines<br />

oder mehrerer akuter Schadensfälle.<br />

Bei Schäden werden für deren Behebung<br />

Kapazitäten gebunden, die für die<br />

Arbeiten an den Ersatzinvestitionen fehlen.<br />

Wenn Teile der Infrastruktur ausfallen,<br />

werden die anderen Teile über Gebühr<br />

beansprucht und können deswegen<br />

auch ausfallen. Dergleichen kann sich<br />

zum Teufelskreislauf entwickeln, der bis<br />

hin zum schlagartigen Versagen von Infrastrukturen<br />

führen kann: dem Infarkt.<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Großbritannien musste Ende der 1990er<br />

Jahre nach einer Serie schwerer Zugunglücke<br />

ein nahezu landesweites Tempolimit<br />

verhängen. Im offiziellen Untersuchungsbericht<br />

einer der dortigen Eisenbahnunfälle<br />

wurden im Wortsinn zerbröselnde<br />

Schienen als Ursache festgestellt<br />

3. Zum Infarkt führte, dass die für<br />

die Infrastruktur verantwortliche Aktiengesellschaft<br />

Railtrack bekennen musste,<br />

nicht zu wissen, wo vergleichbare Schäden<br />

vorlagen und wo nicht.<br />

Demokratische Kontrolle<br />

kann Infrastrukturversagen<br />

verhindern<br />

Die privatrechtliche Aktiengesellschaft<br />

DB AG befindet sich laut weiterhin gültigem<br />

Bundestagsbeschluss immer noch<br />

auf dem Weg zur Börse. Dabei hat sich<br />

längst gezeigt, dass die börsenaffinen<br />

Strukturen der Steuerung und Kontrolle<br />

die zugehörigen Infrastrukturen in kurzer<br />

Zeit nachhaltig schädigen werden.<br />

Soll vermieden werden, dass das S-<br />

Unterinvestition = S-<strong>Bahn</strong>-Chaos<br />

Auf etwa 10% des Netzes unfreiwilliges Tempolimit<br />

Der Verkehrsverbund <strong>Berlin</strong>-Brandenburg (VBB) berichtete in der „Qualitätsbilanz<br />

2009“ zur Infrastruktur der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>: „Im Jahr 2009 wurde eine unabhängige<br />

Netzzustandsanalyse für das <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-Netz erstellt. (…) Ziel war, einen<br />

Überblick über die Qualität der Strecken und des S-<strong>Bahn</strong>-Netzes zu erhalten (…)<br />

Nur so konnte eine qualitative Bewertung des Fahrbetriebs im Hinblick auf die Infrastruktur<br />

vorgenommen werden. Im gesamten Untersuchungsnetz (der S-<strong>Bahn</strong> in<br />

<strong>Berlin</strong> und Brandenburg; LP21-Red.) wurden 134 Geschwindigkeitseinbrüche mit<br />

einer Gesamtlänge von 62,6 Kilometern festgestellt. Insgesamt sind damit 9,5 Prozent<br />

des Netzes nicht mit der eigentlichen Streckengeschwindigkeit befahrbar. (…)<br />

Da in den nächsten Jahren umfangreiche Baumaßnahmen im <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Netz stattfinden, ist auch weiterhin mit Geschwindigkeitseinbrüchen durch Baustellen<br />

zu rechnen.“ Aufgrund des im Vergleich zur Infrastruktur deutlich schlechteren<br />

Zustands des S-<strong>Bahn</strong>-Wagenmaterials spielten in den Folgejahren die erwähnten<br />

„Geschwindigkeitseinbrüche“ im Netz eine geringere Rolle, da ein großer<br />

Teil der S-<strong>Bahn</strong>en für längere Zeitabschnitte ein generelles Tempolimit verordnet<br />

bekommen hatte.<br />

<strong>Bahn</strong>-Chaos zur dauerhaften Chaos-S-<br />

<strong>Bahn</strong> wird, ist der einzige Ausweg die<br />

Rückführung unter demokratische Kontrolle<br />

und die Absage an das Prinzip der<br />

Gewinnmaximierung. Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

gehört wie die <strong>Berlin</strong>er Wasserversorgung<br />

zur Daseinsvorsorge. Wie bei anderen<br />

Verkehrsträgern sind – gesamtgesellschaftlich<br />

gerechnet und auf längere<br />

Frist – betriebswirtschaftliche Gewinne<br />

mit der S-<strong>Bahn</strong> nicht zu machen, jede<br />

Gewinnausweisung basiert auf – volkswirtschaftlich<br />

sinnvollen – öffentlichen<br />

Zuschüssen. Für die Wiedererlangung<br />

der demokratischen Kontrolle über die<br />

S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> ist es insofern zwar nicht<br />

ausreichend, wenn das Eigentum der zugehörigen<br />

Infrastrukturen öffentlich<br />

wird und wieder öffentlichem Recht<br />

folgt, aber es ist notwendige Voraussetzung,<br />

das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos zu beenden.<br />

Carl Waßmuth lebt in <strong>Berlin</strong> und ist aktiv bei<br />

Attac und bei Gemeingut in BürgerInnenhand<br />

(GiB). Siehe www.gemeingut.org<br />

Anmerkungen:<br />

1 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr.<br />

Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE<br />

GRÜNEN, Drucksache 16/12945: Kapazitätsabbau und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit<br />

der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/ 16/131/1613139.pdf<br />

2 „Die Ausfälle selbst in diesem milden Winter [2011/2012, Anm. C.W] gingen auf fehlende Modernisierungen<br />

der Stellwerke zurück", heißt es in internen Unterlagen der DB. Nötig sei daher<br />

das „Aufsetzen eines Sonderprogramms Leit- und Sicherungstechnik“. Dafür müssten in den<br />

nächsten zehn Jahren 1,5 Milliarden Euro aufgewendet werden." Quelle: www.morgenpost.de/<br />

berlin-aktuell/article106169631/Stellwerke-verantwortlich-fuer-S-<strong>Bahn</strong>-Ausfaelle.html<br />

3 „rail has literally been desintegrated“; Lord Cullen-Bericht/Ladbroke-Grove rail Inquiry<br />

35


36<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

EINE HORROR-DOKU DER EXTRA-KLAS S E<br />

S IE TAUCHTEN OFT NUR<br />

NOCH IN DEN S EHN-<br />

S ÜCHTIGEN FANTAS IEN<br />

IHRER NUTZER AUF ODER IN<br />

DEN AUFGEHÜB S CHTEN ZAHLEN<br />

IHRER TOTENGRÄBER.<br />

IHRE S UBSTANZ HATTE<br />

S ICH DURCH JAHRELANGE<br />

VERNACHLÄS SIGUNG<br />

VERSCHLIS SEN.<br />

VIELE VON DENEN, DIE S ICH<br />

VORHER JAHRZEHNTELANG<br />

UM S IE BEMÜHT HATTEN,<br />

WAREN IN FREIGES ETZTER<br />

UNTÄTIGKEIT DABEI,<br />

ZU VERHARTZEN.<br />

Lunapark21·extra 6/2012


<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, Entstehung und Perspektive<br />

Rouzbeh Taheri<br />

Als an einem verregneten Tag im Sommer<br />

2009 die ersten bekanntgewordenen<br />

Probleme bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />

die Titelseiten der Zeitungen beherrschten,<br />

witzelte ein Freund, man hätte nun<br />

nicht nur beim Wetter englische Verhältnisse,<br />

sondern auch bei der S-<strong>Bahn</strong>.<br />

Er bezog sich auf die katastrophale Situation<br />

der britischen Eisenbahn nach<br />

den dort erfolgten Privatisierungen.<br />

Wir ahnten nicht, wie richtig er lag.<br />

Die <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er wollten<br />

es lange nicht wahrhaben, dass die Unfälle,<br />

Zugausfälle, Verspätungen und<br />

zeitweiligen Stilllegungen ganzer Linien<br />

von Dauer sein würden. Schließlich hatte<br />

die S-<strong>Bahn</strong> jahrzehntelang problemlos<br />

funktioniert. Der Krieg behinderte ihre<br />

Fahrt nur für erstaunlich kurze Zeit. Die<br />

Mauer konnte ihr nur teilweise Einhalt<br />

gebieten. Und nach der Vereinigung der<br />

beiden Stadthälften schien eine neue<br />

Blütezeit für die S-<strong>Bahn</strong> anzubrechen.<br />

Dies endete jedoch abrupt in jenem<br />

Sommer des Jahres 2009.<br />

Zunächst ging man von Problemen<br />

aus, die bald behoben sein würden.<br />

Nachdem aber im darauffolgenden Winter<br />

2009/2010 alles schlimmer wurde,<br />

als dann der nächste Sommer keine Besserung<br />

brachte und als es schließlich zu<br />

einem neuen Chaos-Winter 2011/2012<br />

kam, war die Geduld der Hauptstädter<br />

endgültig zu Ende. Gefühlte 100 Erklärungen<br />

der S-<strong>Bahn</strong> Manager, dass bald,<br />

ja ganz bald, alles wieder gut werde, und<br />

gefühlte 100 weitere Erklärungen der<br />

Politik, dass man schon alles im Griff<br />

habe, trugen dazu bei, dass kein Fahrgast<br />

in <strong>Berlin</strong> diesen Damen und Herren<br />

auch nur noch ein Wort glaubte. In der<br />

Zwischenzeit war bekannt geworden,<br />

welche haarsträubenden „Sparmaßnahmen“<br />

bei Infrastruktur und Personal zu<br />

den chaotischen Verhältnissen geführt<br />

hatten. Dies alles erfolgte im Interesse<br />

der Gewinnmaximierung in einem Betrieb,<br />

der eigentlich der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />

dienen sollte.<br />

In dieser Situation, im März 2011,<br />

gründete sich der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>.<br />

Ausgangspunkt war eine Veranstaltung<br />

am 8. März im Haus der Demokratie, bei<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

der Gewerkschaftsmitglieder, Aktive aus<br />

Attac, dem Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle, des<br />

<strong>Berlin</strong>er Antikrisenbündnisses und andere<br />

über die Möglichkeiten eines wirkungsvollen<br />

Widerstandes angesichts<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Chaos´ diskutierten. Zu diesem<br />

Zeitpunkt wurde auch bekannt, dass<br />

Teile des damaligen, von SPD und Linken<br />

gestellten <strong>Berlin</strong>er Senats über eine Teilprivatisierung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> nachdachten.<br />

Die Probleme, die dadurch entstanden<br />

sind, dass die S-<strong>Bahn</strong> sich wie ein privates<br />

Unternehmen benimmt und alles<br />

unternimmt, um die Gewinne zu steigern,<br />

sollten demnach dadurch beseitigt<br />

werden, dass man einen Teil des S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Netzes einem anderen Unternehmen<br />

übergibt, das genauso renditegierig<br />

ist. Solche grandiosen Ideen können nur<br />

Politiker haben, die sowieso auf jede Gelegenheit<br />

warten, um öffentliches Eigentum<br />

zu verscherbeln. Strom, Gas, über<br />

100000 Wohnungen und nicht zuletzt<br />

die Wasserbetriebe wurden in den letzten<br />

Jahren in <strong>Berlin</strong> privatisiert.<br />

Gerade die Geschichte der Privatisierung<br />

der <strong>Berlin</strong>er Wasserbetriebe, ein<br />

Gaunerstück sondergleichen, war und ist<br />

beispielhaft – eine Erläuterung würde<br />

den Rahmen dieses Artikels sprengen –<br />

Interessierte können auf den Seiten des<br />

<strong>Berlin</strong>er Wassertisches alles Wissenswerte<br />

diesbezüglich nachlesen (siehe:<br />

www.berliner-wassertisch.net).<br />

Der Widerstand gegen die Folgen dieser<br />

Privatisierung und der im Februar<br />

2011 erfolgreich durchgeführte Volksentscheid,<br />

organisiert vom <strong>Berlin</strong>er Wassertisch,<br />

standen auch Pate bei der neuen<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Initiative. Der Wassertisch<br />

war auch Inspiration bei der Namensgebung<br />

der neu gegründeten S-<strong>Bahn</strong>-Initiative,<br />

wie der gewählte Name S-<strong>Bahn</strong>-<br />

<strong>Tisch</strong> verdeutlicht.<br />

Wir waren uns einig, dass wir nicht<br />

länger tatenlos zusehen wollen, wie<br />

unsere S-<strong>Bahn</strong> kaputtgespart und ihrer<br />

Privatisierung Tür und Tor geöffnet wird.<br />

Es gab zwar bereits zu diesem Zeitpunkt<br />

einige Gruppen, sowohl bei den Beschäftigten<br />

und den Gewerkschaften, als auch<br />

aus anderen Bereichen, die sich mit dem<br />

Thema beschäftigten. Doch diese waren<br />

Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />

bis dahin nicht miteinander vernetzt.<br />

Gerade dieser Aspekt der Vernetzung<br />

und der Zusammenarbeit zwischen den<br />

Beschäftigten, politischen Gruppen und<br />

engagierten Fahrgästen ist ein Schwerpunkt<br />

und auch ein Erkennungsmerkmal<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es. In der Initiative<br />

arbeiten die Gewerkschaft EVG und Betriebsräte<br />

der S-<strong>Bahn</strong> zusammen mit<br />

dem Fahrgastverband PRO BAHN <strong>Berlin</strong>-<br />

Brandenburg, dem Bündnis „<strong>Bahn</strong> für<br />

Alle“, Attac, der Volkssolidarität und<br />

diversen anderen politischen Gruppen,<br />

Bürgervereinen und Einzelpersonen.<br />

Auch politische Parteien – die LINKE,<br />

DKP und die Piraten – sind vertreten.<br />

Wir wollen und werden uns nicht<br />

gegeneinander ausspielen lassen, da<br />

sowohl die Fahrgäste, als auch die S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Mitarbeiter ein Interesse an einer<br />

funktionierenden, sicheren und zukunftsfähigen<br />

S-<strong>Bahn</strong> haben.<br />

Warum ein Volksbegehren?<br />

Um sich einzumischen und den Widerstand<br />

zu organisieren, gibt es unterschiedliche<br />

Möglichkeiten: Veranstaltungen,<br />

Flugblattaktionen, Demonstrationen,<br />

Streiks etc. Es sind alles Instrumente,<br />

die je nach Situation und Kräfteverhältnis<br />

im Rahmen einer politischen<br />

Kampagne eingesetzt werden können.<br />

Ein Volksbegehren ist ein zusätzliches<br />

Instrument. Es soll und kann andere Formen<br />

des Widerstands nicht ersetzen,<br />

sondern soll zu weitergehenden Protesten<br />

ermutigen.<br />

Vor dem Hintergrund des erfolgreichen<br />

Wasser-Volksbegehrens und der<br />

Tatsache, dass das Thema S-<strong>Bahn</strong> in<br />

<strong>Berlin</strong> seit nunmehr drei Jahren ein Dauerbrenner<br />

ist, beschlossen wir die Einleitung<br />

eines Volksbegehrens. Die juristischen<br />

Beschränkungen, die durch Landes-,<br />

Bundes- und Europarecht dem<br />

Inhalt eines Volksbegehrens auferlegt<br />

werden, versuchen wir durch die politische<br />

Begleitkampagne zu kompensieren.<br />

Ein Beispiel: Wir können aus juristischen<br />

Gründen ein Privatisierungsverbot,<br />

unser wichtigstes Anliegen, nicht im<br />

Gesetzesentwurf festschreiben. Wir<br />

haben aber Bedingungen in diesem Ent-<br />

37


38<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Volksbegehren und Volksentscheide in <strong>Berlin</strong><br />

Die Volksgesetzgebung in <strong>Berlin</strong> besteht aus einem dreistufigen Verfahren:<br />

In der ersten Stufe („Antrag auf Volksbegehren“) müssen mindestens 20000<br />

gültige Unterschriften innerhalb von sechs Monaten für den Gesetzesentwurf<br />

gesammelt werden, die Sammlung kann frei ( also auch auf der Straße) stattfinden.<br />

Unterschriftsberechtigt sind, bei allen Stufen, die bei den Wahlen zum <strong>Berlin</strong>er<br />

Abgeordnetenhaus wahlberechtigten Personen.<br />

Nach der ersten Stufe prüft der Senat die Zulässigkeit des Volksbegehrens. Bei<br />

positivem Entscheid wird die zweite Stufe („Volksbegehren“) eingeleitet. Hier müssen<br />

sieben Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung den Gesetzesentwurf unterschreiben.<br />

Das sind aktuell in <strong>Berlin</strong> rund 170000 Personen. Die Frist beträgt vier<br />

Monate, die Sammlung findet frei statt, zusätzlich sind die Bürgerämter verpflichtet<br />

die Unterschriftenlisten auszulegen.<br />

Im Falle des erfolgreichen Abschluss der zweiten Stufe wird der „Volksentscheid“<br />

durchgeführt. Hier reicht für eine Annahme des Volksentscheids die einfache<br />

Mehrheit der Teilnehmenden, wobei mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten<br />

dem Gesetzesentwurf zustimmen müssen.<br />

wurf festgeschrieben, die es einem renditeorientiertem<br />

Unternehmen weitgehend<br />

verunmöglichen, den S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb<br />

gewinnbringend zu betreiben. Es<br />

könnte nämlich nicht die Löhne kürzen,<br />

bei der Personalausstattung sparen oder<br />

die Zugreserven reduzieren. Zusätzlich<br />

bringen wir unsere politische Hauptbotschaft<br />

„Gegen Privatisierung und Ausplünderung“<br />

mittels des Volksbegehrens<br />

in die Öffentlichkeit. Das ist uns bisher<br />

durch zahlreiche Infotische und die Präsenz<br />

in den Medien gut gelungen.<br />

Diese zweigleisige Strategie führte in<br />

der ersten Stufe des Volksbegehrens zu<br />

einem großen Erfolg. Die Unterschriftensammlung<br />

begann am 23. Juni 2011. Am<br />

23. Dezember 2011 konnte die Initiative<br />

der Senatsverwaltung 31870 Unterschriften<br />

übergeben. Von diesen wurden<br />

letztendlich 28084 anerkannt. Insgesamt<br />

wurden damit mehr als genug<br />

Unterschriften gesammelt; nötig waren<br />

20000.<br />

Wir sind mit unseren Inhalten auch in<br />

der Stadtöffentlichkeit angekommen, zu<br />

einem wichtigen politischen Akteur in<br />

dieser Frage und zum Hauptkontrahenten<br />

der Privatisierungsbefürworter geworden.<br />

Allein über 100 Artikel in den<br />

regionalen und überregionalen Printmedien,<br />

diverse Radio- und Fernsehberichte<br />

und unzählige Beiträge im Internet zeugen<br />

davon. Nicht zuletzt haben wir vielen<br />

<strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>ern die<br />

Möglichkeit gegeben, ihre Opposition<br />

zur herrschenden Politik Ausdruck zu<br />

verleihen. Zuerst niederschwellig mit<br />

einer Unterschrift, die aber für einige der<br />

zündende Funke war, um sich auch aktiver<br />

einzubringen. Ohne das Instrument<br />

Volksbegehren hätten wir dies alles nicht<br />

geschafft.<br />

Natürlich sind Volksentscheide kein<br />

Allheilmittel. Die herrschende Politik und<br />

die mächtigen Interessenverbände der<br />

Wirtschaft finden so gut wie immer Mittel<br />

und Wege, um die Entscheidungen<br />

der Bevölkerung zu hintergehen, zu torpedieren<br />

oder in endlosen juristischen<br />

Streitereien ersticken zu lassen. Auch<br />

der im Herbst 2011 neu gebildete SPD-<br />

CDU-Senat in <strong>Berlin</strong> versucht dies mit<br />

einer sogenannten „Überprüfung“ des<br />

Textes des Volksbegehrens vor dem Landesverfassungsgericht<br />

(siehe Vorwort S-<br />

<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> und Kasten).<br />

Unsere Arbeit beginnt mit einem<br />

Volksbegehren, endet aber nicht mit<br />

dessen Abschluss. Wir wollen und dürfen<br />

den Druck auf die Politik nicht verringern.<br />

Dazu gehört auch die Aktivierung<br />

von weiteren Bürgerinnen und Bürgern,<br />

die sich bei diesem Thema einbringen,<br />

und die Koordination von betrieblichen<br />

und außerbetrieblichen Aktionen. Die<br />

Beschäftigten bei der S-<strong>Bahn</strong> und ihre<br />

gewerkschaftliche Vertretung spielen bei<br />

der Organisation des Widerstandes eine<br />

besondere Rolle.<br />

All dies bedeutet: Selbst ein gewonnener<br />

Volksentscheid, wovon wir noch<br />

einige Schritte entfernt sind, wäre nur<br />

ein Teilerfolg. Entscheidend wird sein,<br />

von wie viel politischem Druck in der<br />

Öffentlichkeit ein Volksbegehren begleitet<br />

wird.<br />

Die Perspektive<br />

Der Widerstand gegen die Privatisierung<br />

des öffentlichen Eigentums ist ein Teil<br />

des Kampfes gegen die neoliberale Ideologie,<br />

die in den letzten Jahrzehnten die<br />

Welt beherrscht. In Zeiten der Finanzkrise,<br />

in der die Schulden der Banken und<br />

Spekulanten von der Allgemeinheit getragen<br />

werden, in der täglich die Verluste<br />

sozialisiert werden und die Gewinne<br />

auf Nimmerwiedersehen in den Taschen<br />

einiger Weniger verschwinden, ist dieser<br />

Kampf notwendiger denn je.<br />

Kurz nach dem Finanzcrash 2008 erschien<br />

ein Interview mit einem gerade<br />

arbeitslos gewordenen Investmentbanker,<br />

der offensichtlich so etwas wie eine<br />

Erleuchtung hatte. Er sagte in etwa, der<br />

Kapitalismus sei wie eine wilde Bestie,<br />

die man nur in Schach halten könne,<br />

wenn man eine Peitsche in der Hand<br />

halte. Die neoliberale Politik der letzten<br />

Jahre habe diese Peitsche weggenommen.<br />

Nun gehe die Bestie ihrer Natur<br />

nach.<br />

Kurzfristig sollten wir wieder die Peitsche<br />

in die Hand nehmen. Langfristig<br />

sollten wir überlegen, ob wir mit einer<br />

Bestie zusammenleben wollen.<br />

Rouzbeh Taheri ist Sprecher des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

<strong>Tisch</strong>es <strong>Berlin</strong><br />

Lunapark21·extra 6/2012


Am 7. Februar 2012 verkündete der<br />

Senat, dass er beabsichtige, das Volksbegehren<br />

„Rettet unsere S-<strong>Bahn</strong>“ juristisch<br />

überprüfen zu lassen. Der Senat, hieß es,<br />

habe Zweifel an der Zulässigkeit des<br />

Volksbegehrens und werde deshalb nach<br />

§17 Absatz 6 Abstimmungsgesetz (Gesetz<br />

über Volksinitiative, Volksbegehren<br />

und Volksentscheid) den Verfassungsgerichtshof<br />

anrufen.<br />

Dahinter steht der Versuch des Senats,<br />

das Volksbegehren mit juristischen Mitteln<br />

auszubremsen oder zumindest zu<br />

verzögern. Das Volksbegehren hat zum<br />

Ziel, ein Gesetz zu erlassen, um das S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Chaos zu beenden:<br />

Neue Züge und mehr Personal sollen<br />

bereit gestellt, die Verträge offen gelegt<br />

und weitere Verbesserungen erreicht<br />

werden. Durch eine gesetzliche Festschreibung<br />

dieser Bedingungen würde<br />

das Interesse von privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

(EVU) am Betrieb von<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Strecken sinken. Die Profite, die<br />

private EVU durch Stellenabbau, Lohndumping<br />

und geringe Investitionen erzielen,<br />

könnten nicht realisiert werden.<br />

Doch genau darauf setzt der schwarzrote<br />

Senat: Die Teilprivatisierung des S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Betriebs soll vorangetrieben werden.<br />

Private Unternehmen sollen Strecken<br />

betreiben und damit Profite einfahren.<br />

Ein Blick auf den Regionalverkehr in<br />

Brandenburg genügt, um zu sehen, wohin<br />

es führt, wenn private Unternehmen<br />

bei einer Ausschreibung des Zugverkehrs<br />

den Zuschlag erhalten. In Brandenburg<br />

betreibt die private ODEG seit 2009 fünf<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Linien des Regionalverkehrs. Bei der<br />

ODEG verdienen die Beschäftigten im<br />

Durchschnitt 30 Prozent weniger als bei<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG. Eine Garantie<br />

dafür, dass die Züge der privaten Unternehmen<br />

funktionieren, gibt es nicht: Im<br />

Februar 2012 fielen beispielsweise bei<br />

den neuen ODEG-Zügen der Linie OE33<br />

die Heizungen aus; das Unternehmen<br />

ließ mitteilen, diese seien nur bis minus<br />

20 Grad Celsius ausgelegt.<br />

Senat übergeht den Willen von<br />

30 000 <strong>Berlin</strong>erInnen<br />

Im Juli beginnt die offizielle Ausschreibung<br />

des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebs auf dem Ring<br />

und auf Linien im Süd-Osten. Das Volksbegehren<br />

S-<strong>Bahn</strong> stört das reibungslose<br />

Ausschreibungsverfahren und ist dem<br />

Senat ein Dorn im Auge. Jede zeitliche<br />

Verzögerung oder der Versuch, das<br />

Volksbegehren für illegal zu erklären,<br />

verschafft dem Senat Spielraum. Das<br />

zeigt: Der Senat will um jeden Preis die<br />

Teilprivatisierung durchsetzen und ignoriert<br />

dabei den Willen von über 30000<br />

<strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>ern, die das<br />

Volksbegehen S-<strong>Bahn</strong> in der ersten Stufe<br />

unterzeichnet haben, und all derer, die<br />

ebenfalls gegen eine Teilprivatisierung<br />

sind. Der Senat hält offenbar nichts von<br />

direkter Demokratie. Diese Taktik ist<br />

nicht neu. Schon bei den Volksbegehren<br />

Wasser, Kita und Wahlrecht gab es Versuche,<br />

die Initiatoren durch eine juristische<br />

Überprüfung der Volksbegehren<br />

auszubremsen. Der Senat hatte damit<br />

keinen Erfolg; alle drei Volksbegehrens-<br />

Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />

Stellungnahme des Koordinierungskreises des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s vom 17. Februar 2012<br />

zur Entscheidung des Senats, das Volksbegehren S-<strong>Bahn</strong> juristisch zu prüfen.<br />

Senat will Volksbegehren verzögern,<br />

behindern und Fakten schaffen<br />

initiativen wurden jedoch erheblich in<br />

ihrer Arbeit behindert und die Begehren<br />

verzögert.<br />

In Bezug auf das Volksbegehren S-<br />

<strong>Bahn</strong> drückt die Entscheidung des Senats<br />

zweierlei aus: Erstens: Der Senat<br />

geht offenbar davon aus, dass der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> die zweite Stufe des Volksbegehrens<br />

erfolgreich schaffen würde.<br />

Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> ist zum politischen<br />

Akteur und zu einem Ärgernis aus Sicht<br />

des Senats geworden. Der Gang vor das<br />

Verfassungsgericht ist daher Ausdruck<br />

der Stärke des Volksbegehrens S-<strong>Bahn</strong><br />

und der Sorge des Senats vor unserem<br />

Erfolg. Zweitens: Das Vorgehen des<br />

Senats sollte allen bestehenden und<br />

künftigen Volksbegehren-Initiativen eine<br />

Lehre sein: Wenn der Senat sich politisch<br />

für eine juristische Überprüfung<br />

entscheidet, findet er offenbar immer<br />

ein juristisches Argument, um diesen<br />

Weg der Verzögerung gehen zu können.<br />

Die Änderung des Gesetzes über Volksinitiative,<br />

Volksbegehren und Volksentscheid<br />

im Juli 2010 erleichtert es dem<br />

Senat, Volksbegehren vor der zweiten<br />

Stufe durch eine juristische Überprüfung<br />

Hürden in den Weg zu legen. Deshalb ist<br />

der politische Druck auf den Senat und<br />

die Schaffung von Öffentlichkeit für die<br />

Ziele des jeweiligen Volksbegehrens von<br />

hoher Bedeutung<br />

Die bisherigen Argumente<br />

des Senats<br />

Das Volksbegehren kann vom Verfassungsgerichtshof<br />

des Landes für unzu-<br />

39


40<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

lässig erklärt werden, wenn es nach §<br />

12, Absatz 2, Gesetz über Volksinitiative,<br />

Volksbegehren und Volksentscheid (Abstimmungsgesetz)<br />

gegen das Grundgesetz<br />

und sonstiges Bundesrecht verstößt<br />

oder der Verfassung von <strong>Berlin</strong> widerspricht<br />

(der bisherigen Rechtsprechung<br />

zufolge müsste das Volksbegehren in<br />

„erheblichem“ Maße dagegen verstoßen).<br />

In der Pressemitteilung des Senats<br />

vom 7. Februar werden vier Argumente<br />

gegen die Zulässigkeit des Volksbegehrens<br />

genannt.<br />

Im Folgenden werden diese vermeintlichen<br />

Argumente aufgeführt (zitiert aus<br />

der Pressemitteilung des Senats) und<br />

kurz kommentiert.<br />

1. „Hinsichtlich der<br />

Wagenkapazitäten ist<br />

es auch aus technischen<br />

Gründen nicht<br />

möglich, die Forderungen<br />

in der vorgegebenen<br />

Zeit zu<br />

erfüllen.“<br />

Der Gesetzestext des<br />

S-<strong>Bahn</strong>tischs sieht<br />

vor, die Zahl der in<br />

Einsatz befindlichen<br />

Wagen und Sitzplatzkapazitäten<br />

ab dem<br />

Zeitpunkt des<br />

Inkrafttretens des<br />

Gesetzes innerhalb<br />

von zwei Jahren mindestens<br />

wieder auf<br />

das Niveau des Jahres<br />

2005 anzuheben.<br />

Warum dies durch<br />

Reparaturen an<br />

bestehenden Zügen<br />

und die Bestellung<br />

neuer Züge nicht<br />

möglich sein sollte,<br />

erklärt uns der Senat<br />

nicht. Es liegen Aussagen<br />

von Experten<br />

vor, denen zu Folge<br />

eine Umsetzung<br />

schwierig, aber möglich<br />

ist.<br />

2. „Die Bedenken<br />

beziehen sich unter<br />

anderem darauf, dass<br />

in einen laufenden<br />

Vertrag per Gesetzesbeschluss eingegriffen<br />

werden soll – sowohl hinsichtlich<br />

der materiellen Anforderungen an<br />

den S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb als auch hinsichtlich<br />

der Abwägung zwischen dem<br />

Informationsinteresse der Öffentlichkeit<br />

und den grundrechtlich geschützten<br />

Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH.“<br />

Das Argument der zu schützenden Betriebs-<br />

und Geschäftsgeheimnisse wird<br />

eine Woche nach der Entscheidung des<br />

Senats noch nicht einmal mehr von beiden<br />

Regierungsfraktionen geteilt. „Wir<br />

befürworten die unverzügliche Offenlegung<br />

der S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrsverträge“,<br />

erklärte SPD-Fraktionschef Raed Saleh<br />

am 14. Februar. Auch werde man „die<br />

geforderten weiteren Einzelmaßnahmen<br />

ernsthaft prüfen“ – unbenommen der<br />

rechtlichen Prüfung, um die der Senat<br />

das Landesverfassungsgericht gebeten<br />

hat. (...)<br />

Anmerkung der Redaktion: Nach Salehs<br />

Erklärungs wurde der S-<strong>Bahn</strong>-Vertrag im<br />

Internet veröffentlicht – zunächst mit<br />

größeren geschwärzten Passagen und<br />

nach neuen Protesten ungekürzt bzw.<br />

ohne Schwärzungen.<br />

3. „Bezüglich künftiger Verkehrsverträge<br />

hängt die Erfüllbarkeit der Forderungen<br />

davon ab, ob sich ein Unternehmen<br />

findet, das die Vorgaben akzeptieren<br />

würde. Auch dies lässt sich<br />

nicht per Gesetz beschließen.“<br />

Wenn man dieses Argument politisch<br />

ernst nehmen würde, würde das bedeuten,<br />

alle Bedingungen bei einer Vergabe<br />

immer davon abhängig zu machen, ob<br />

Ausschreibungsteilnehmer sie akzeptieren.<br />

In der Konsequenz wäre die Erarbeitung<br />

jeglicher Ausschreibungsbedingungen<br />

völlig sinnlos, denn man müsste die<br />

Unternehmen immer im Vorhinein nach<br />

ihren Wünschen fragen. Damit würden<br />

die privaten Unternehmen der öffentlichen<br />

Hand die Bedingungen vorschreiben.<br />

Selbst innerhalb der neoliberalen<br />

Logik ist diese Argumentation absurd.<br />

4. „Da zudem die Linien des <strong>Berlin</strong>er S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Netzes auch in das Land Brandenburg<br />

reichen, sind alle Verkehrsverträge<br />

gemeinsam mit dem Land<br />

Brandenburg abzuschließen. <strong>Berlin</strong>er<br />

Landesgesetze – darauf zielt das<br />

Volksbegehren – sind für das Land<br />

Brandenburg nicht bindend. Damit<br />

stellt der Gesetzentwurf Vorgaben auf,<br />

deren Erfüllung das Land <strong>Berlin</strong> wegen<br />

der Mitwirkungsnotwendigkeit des<br />

Landes Brandenburg nicht gewährleisten<br />

kann.“<br />

Das Argument, die <strong>Berlin</strong>er Regierung<br />

könne nichts ändern, wenn Brandenburg<br />

sich quer stelle, ist der Versuch des Senats,<br />

die Verantwortung von sich zu<br />

weisen. Ob die rot-rote Landesregierung<br />

in Brandenburg ein Interesse daran hat,<br />

den S-<strong>Bahn</strong>-Verkehr zu verbessern, ist<br />

eine politische Frage. Falls Brandenburg<br />

sich weigert, stellt sich aber weiterhin<br />

die Frage, ob das Volksbegehren „erheblich“<br />

gegen Landes- oder Bundesrecht<br />

Lunapark21·extra 6/2012


verstößt. Der Hauptteil des S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrs<br />

findet in <strong>Berlin</strong> und nicht in Brandenburg<br />

statt. Ein Teil des Gesetzesentwurfs<br />

betrifft zudem Brandenburg nicht<br />

(wie beispielsweise mit Personen besetzte<br />

Fahrkartenschalter auf allen Umsteigebahnhöfen<br />

im AB-Bereich). Wir werden<br />

trotzdem alles in unserer Kraft stehende<br />

unternehmen, um den politischen<br />

Druck zu erhöhen, dass auch die Brandenburger<br />

und Brandenburgerinnen in<br />

den Genuss der von uns geforderten Verbesserungen<br />

kommen.<br />

Bezüglich der juristischen Argumente<br />

des Senats bleibt noch hinzuzufügen,<br />

dass der Senat es offenbar nicht für<br />

nötig gehalten hat, die Initiatoren über<br />

seine vermeintlichen juristischen Zweifel,<br />

wie im Volksbegehrensgesetz vorgesehen,<br />

zu informieren. Deshalb liegt die<br />

Vermutung nahe, dass die juristischen<br />

Einwände im Nachhinein „gesucht und<br />

gefunden“ wurden.<br />

Schon dreimal – bei den Volksbegehren<br />

Wasser, Kita und Wahlrecht – hat<br />

der Senat eine Niederlage vor Gericht<br />

erlitten. Der erneute Versuch, unser<br />

Volksbegehren, mit juristisch fragwürdigen<br />

Argumenten zu torpedieren, ist ein<br />

Angriff auf alle Volksbegehren-Initiativen<br />

und die direkte Demokratie als solche.<br />

Wir werden nicht locker lassen<br />

Der S-<strong>Bahn</strong>tisch ist fest entschlossen,<br />

sich von diesem Störfeuer nicht entmutigen<br />

zu lassen. Wir werden weiterhin<br />

die zweite Stufe des Volksbegehrens vorbereiten.<br />

Unsere Präsenz in der Öffentlichkeit,<br />

die Unterstützung durch viele<br />

Gruppen und die Spenden für das Volksbegehren<br />

machen uns zuversichtlich, genügend<br />

Rückenwind für die zweite Stufe<br />

zu haben. Wir werden uns juristisch und<br />

politisch verteidigen und bereiten Protestaktionen<br />

und Veranstaltungen vor.<br />

(…)<br />

Alle, die uns im Kampf gegen die Teilprivatisierung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> unterstützen<br />

möchten, sind bei unseren zweiwöchentlichen<br />

Treffen herzlich willkommen.<br />

Alle Informationen über unsere<br />

Treffen, Aktionen und unser Spendenkonto<br />

sind zu finden unter:<br />

www.s-bahn-tisch.de<br />

Kontakt: info@s-bahn-tisch.de<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

Es handelt sich im folgenden um die Erfahrungen<br />

einer <strong>Berlin</strong>erin bei Unterschriftensammlungen<br />

gegen die Privatisierung<br />

und Ausplünderung der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong>. Meistens war sie allein unterwegs<br />

und die Aktionen waren kurzfristig geplant.<br />

Zuweilen wurde sie von ihrem<br />

Sohn oder anderen Verbündeten begleitet.<br />

Sammelzeitraum: 24.6. bis 23.12.11;<br />

Einsatzorte: Die S-<strong>Bahn</strong>höfe Zehlendorf,<br />

Wannsee, Rathaus Steglitz, Lichterfelde<br />

Ost, Sundgauer Str., Lichterfelde West,<br />

Botanischer Garten, Anhalter Bhf.; Linien<br />

S1 und S7, Jobcenter Steglitz/Zehlendorf,<br />

FU <strong>Berlin</strong>, ISTAF, Deutschland-Fest,<br />

Onkel-Tom Straßenfest (U-Bhf. Onkel<br />

Toms Hütte), Weihnachtsmarkt Bröhan-<br />

Museum.<br />

In den ersten sechs Wochen liefen<br />

meine Unterschriftenaktionen trotz der<br />

Sommerferien sehr gut. Die Bürger zeigten<br />

Interesse an dem Thema S-<strong>Bahn</strong> und<br />

Bereitschaft, sich genauer damit zu befassen.<br />

In der heißen Wahlkampfphase<br />

(den Wahlen zum <strong>Berlin</strong>er Abgeordne-<br />

Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />

Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsber<br />

...Bereitschaft, sich<br />

genauer damit zu<br />

befassen<br />

Susanne Klodt<br />

tenhaus; d. Red.) war es hingegen<br />

schwieriger, mit den Menschen ins Gespräch<br />

zu kommen, weil viele dachten,<br />

es handele sich um Werbung für eine<br />

Partei. Der Parteienfrust war den Wählern<br />

deutlich anzumerken.<br />

Beste Ergebnisse hatte ich stets in der<br />

S-<strong>Bahn</strong> selbst. Wichtig waren in erster<br />

Linie das Verteilen der Flugblätter und<br />

eine kurze mündliche Information darüber,<br />

worum es geht. Dabei lässt sich das<br />

Publikum in drei Kategorien einteilen:<br />

1. Die Bürger, die bereits informiert sind,<br />

2. die Menschen, die kein Interesse zeigen,<br />

3. jene, die einem bereitwillig zuhören<br />

und ggf. sogar über das Thema diskutieren.<br />

Von den Personengruppen eins und drei<br />

unterschreiben einige sofort, andere<br />

möchten erst noch genauer überlegen.<br />

Einige wenige sind Privatisierungsfanantiker.<br />

Durch gute Gespräche konnte ich<br />

häufig sogar Menschen zur Unterschrift<br />

bewegen, die meinten, der Kampf wäre<br />

vergebens.<br />

Teilt man die Befürworter des Volksbegehrens<br />

nach Alter auf, so ist mir bei<br />

meinen Sammlungen aufgefallen, dass<br />

die Altersgruppen zwischen 40 und 55<br />

und ab 70 Jahren besonders häufig unterschrieben<br />

haben. Das hängt sicherlich<br />

mit ihren Lebenserfahrungen zusammen,<br />

41


42<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

hte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsbe<br />

wie ich den Gesprächen immer wieder<br />

entnehmen konnte.<br />

Junge Mitbürger im Alter bis 30 Jahre<br />

zeigten kaum Interesse. Ein Vorbehalt,<br />

den ich öfter von Menschen hörte, die<br />

grundsätzlich gewillt waren zu unterschreiben,<br />

ist der des Datenschutzes. Sie<br />

haben teilweise schon schlechte Erfahrungen<br />

gemacht, als sie andernorts eine<br />

Unterschrift geleistet hatten und kurz<br />

danach aufgefordert wurden, für die<br />

Sache zu spenden.<br />

Besonders großes Interesse an unserer<br />

Aktion hatten die Brandenburger. Da<br />

merkte man ganz deutlich deren Abhängigkeit<br />

vom Transportmittel S-<strong>Bahn</strong>. Für<br />

viele Brandenburger hängt ihr Arbeitsplatz<br />

von der Funktionstüchtigkeit der<br />

S-<strong>Bahn</strong> ab, da sie sonst nicht ihren Arbeitsplatz<br />

erreichen können.<br />

Zum Sammeln bei bestimmten Anlässen<br />

möchte ich anmerken, dass Großveranstaltungen<br />

wie das ISTAF kaum dafür<br />

geeignet sind. Es sind zu viele Leute<br />

dort, die nicht in <strong>Berlin</strong> leben und damit<br />

nicht unterschriftsberechtigt sind. Häufig<br />

sind sie auch abgelenkt und für<br />

Gespräche zu kritischen Themen wenig<br />

aufgeschlossen. Bei solchen Anlässen<br />

sollte man auf jeden Fall in einer großen<br />

Gruppe (mindestens 15 Personen) sammeln,<br />

sonst geht man in dem Getümmel<br />

unter.<br />

Es bietet sich aber an, bei Veranstaltungen<br />

von Kiezinitiativen zu sammeln.<br />

Die dortigen Standinhaber und Besucher<br />

sind meist gut informiert und geneigt,<br />

sich kritisch mit sozialpolitischen Themen<br />

auseinanderzusetzen. Solche Erfahrung<br />

durften ein Mitstreiter und ich u.a.<br />

beim Bröhan-Museum machen.<br />

Bei vielen Mitbürgern macht sich<br />

nach zwei Jahrzehnten negativer Erfahrungen<br />

mit Privatisierungen in allen Bereichen<br />

(Energie, Wasser, Bildung, Pflege…)<br />

große Ernüchterung breit; viele<br />

fühlen sich sprichwörtlich verraten und<br />

verkauft. Nicht nur wegen der gravierenden<br />

Preisanstiege, die damit verbunden<br />

waren und sind, sondern auch, weil die<br />

Qualität der Dienstleistung nicht mehr<br />

den Mindestanforderungen gerecht wird.<br />

Auffällig war zudem, dass gerade bei<br />

den Sammelaktionen an der FU <strong>Berlin</strong><br />

relativ schwache Ergebnisse erzielt wurden.<br />

Das enttäuschte meine Erwartungen,<br />

die ich an Universitätsstudenten<br />

habe, sehr. Ich hatte den Eindruck, die<br />

Studenten wären vorrangig mit anderen<br />

Dingen beschäftigt; bei vielen musste<br />

ich leider ein erhebliches Desinteresse<br />

und/oder lückenhafte Kenntnis über das<br />

tagespolitische Geschehen feststellen.<br />

Fahrradläden, Buchhandlungen, kleine<br />

Bioläden, Kultkinos, Nachbarschaftsheime<br />

und Kieztreffpunkte sowie kleine<br />

Läden in unmittelbarer Nähe zu einem<br />

S-<strong>Bahn</strong>hof zeigten sich bereit, Flyer auszulegen<br />

und unsere Plakate aufzuhängen.<br />

Die persönliche Betreuung der Sammelstelle<br />

durch einen unserer Mitstreiter<br />

erwies sich dabei als äußerst hilfreich.<br />

Ich bin beispielsweise ab und an mal<br />

vorbeigefahren und habe nachgefragt,<br />

wie es läuft und ggf. volle Listen abgeholt.<br />

Unsere Unterstützer fragten sehr oft,<br />

ob und wo es beständig ambulante<br />

Sammelstellen gäbe. Die hatten wir leider<br />

nur sehr begrenzt und auch nicht<br />

gleichmäßig auf das Stadtgebiet verteilt.<br />

Vorausschauend auf die zweite Stufe des<br />

Volksbegehrens möchte ich deshalb anmerken,<br />

dass es sehr wichtig sein wird,<br />

eine Regelmäßigkeit in die Sammelaktionen<br />

zu bringen.<br />

Susanne Klodt ist Gründungsmitglied des<br />

S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Meinen Sammlelort am S-<strong>Bahn</strong>hof<br />

Charlottenburg, nahe der Einkaufsmeile<br />

Wilmersdorfer Straße, betreute ich mit<br />

Freunden oder alleine, mit wenigen Ausnahmen<br />

immer freitags zwischen 10 und<br />

12 Uhr. Ausgestattet mit einem vor die<br />

Brust gehängten großen Plakat „VOLKS-<br />

BEGEHREN Rettet die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“, einem<br />

Stapel Flugblätter und dem absolut<br />

notwendigen Klemmbrett mit Unterschriftenlisten,<br />

stand ich vor dem S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Ausgang, den Fahrgäste benutzen,<br />

die zum Übergang zur U 7, zur Wilmersdorfer<br />

Straße oder sonst wohin wollen.<br />

Oft war ich Auskunftsperson. Aus dem<br />

<strong>Bahn</strong>hof strömen nicht nur <strong>Berlin</strong>er,<br />

sondern auch viele Touristen. Die fragten<br />

nach dem Weg zum Schloss Charlottenburg,<br />

nach bestimmten Straßen, nach<br />

dem Regionalbahnhof oder nach einer<br />

Toilette. Bei der Frage nach dem U-<br />

<strong>Bahn</strong>-Eingang zitierte ich zur Belustigung<br />

der Vorbeigehenden oft Bully Buhlan,<br />

der in den fünfziger Jahren den<br />

Schlager „Immer an der Wand lang“<br />

sang. An genügend Wegweiser für Touristen<br />

hatte der Bezirk bei der Neugestaltung<br />

des Stuttgarter Platzes vor dem<br />

S-<strong>Bahn</strong>hof offenbar nicht gedacht.<br />

Meine recht laut vorgetragene Parole<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

war stets „Rettet die S-<strong>Bahn</strong>, keine Privatisierung,<br />

Schluss mit dem Chaos bei<br />

der S-<strong>Bahn</strong> – es reicht! Unterstützen Sie<br />

unser Volksbegehren mit einer Unterschrift!“<br />

Manchen erzählte ich, dass ich<br />

nachts aufwachend diese Parole schreiend<br />

verkünden würde, was mir schon<br />

Probleme mit den Nachbarn eingebracht<br />

hätte. Dieser Scherz brachte viele Stimmen<br />

ein und das Flugblatt wurde mir<br />

bereitwillig abgenommen.<br />

Etliche Vorbeigehende waren der Meinung,<br />

dass die Privaten es besser könnten<br />

als der Staat, und leisteten keine<br />

Unterschrift. Andere glaubten die S-<br />

<strong>Bahn</strong> dadurch zu retten, dass sie mit ihr<br />

fahren. Einige fragten, ob der S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Betrieb aktuell gestört sei. Manche hielten<br />

mich für einen S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten.<br />

Uniformierte <strong>Bahn</strong>mitarbeiter waren<br />

freundlich, aber nicht bereit, „im Dienst“<br />

zu unterschreiben. Als Sicherheitskräfte<br />

der <strong>Bahn</strong> fürchteten sie bei fortschreitender<br />

Privatisierung schlechtere Arbeitsbedingungen.<br />

Sie erklärten mir, ich<br />

dürfe eine imaginäre Linie nicht überschreiten<br />

– die Außenwand des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Damms („Immer an der Wand lang“).<br />

Selbstverständlich habe ich dieser Aufforderung<br />

entsprochen. Doch bisweilen<br />

regnete es und ich habe mich zum<br />

Schutz in den S-<strong>Bahn</strong>-Bereich begeben<br />

müssen. Flugblätter und Unterschriftenlisten<br />

sollten trocken bleiben.<br />

Ältere Fahrgäste erzählten von 1945,<br />

Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />

richte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrung<br />

Mit Humor<br />

geht’s besser<br />

Ulrich Thom<br />

als die Bomben die S-<strong>Bahn</strong>-Strecken in<br />

einer Nacht erheblich beschädigt hätten,<br />

aber am nächsten Morgen die <strong>Bahn</strong> unter<br />

Einsatz der Bürger wieder normal<br />

fuhr. Überhaupt waren ältere Frauen und<br />

Männer eher geneigt zu unterschreiben<br />

als Jüngere, die gutgekleidet vorbei hasteten.<br />

Junge Frauen und Männer aus<br />

dem eher alternativen Spektrum unterschrieben<br />

stets. Hatte ich sie überzeugt,<br />

versüßte ich ihre Unterschriftsleistung<br />

mit einer Bemerkung zu meinem roten<br />

Kugelschreiber, auf dem drei Buchstaben<br />

einer in <strong>Berlin</strong> schon lange regierenden<br />

Partei vermerkt waren. Der obere Teil sei<br />

zu drehen, aber bei diesem Kugelschreiber<br />

– wie bei der Partei – wisse man nie,<br />

in welche Richtung zu drehen sei, ob<br />

nach rechts oder nach links. Dieser<br />

Scherz wurde meist durch schallendes<br />

Lachen kommentiert.<br />

Sammelten wir zu zweit, nutzen Unterschriftswillige<br />

oft den Abstand zum<br />

Kollegen, das von mir erhaltene Flugblatt<br />

zu lesen und waren dann fast<br />

immer bereit, zu unterschreiben. Sehr<br />

wichtig schien mir die fast penetrante<br />

Wiederholung der Parole und die regelmäßige<br />

Anwesenheit am selben Ort zu<br />

sein. Oft hörte ich: „Sie waren doch<br />

schon letzte Woche hier!“ Es ist nicht<br />

leicht, fremde Menschen von der Wichtigkeit<br />

eines Anliegens auch für sie<br />

selbst zu überzeugen. Humor erzeugt<br />

auch nicht in jedem Falle Zustimmung,<br />

erleichtert sie aber ungemein.<br />

43


Wie kommt es, dass der <strong>Berlin</strong>er Bevölkerung ihr Nahverkehrsmittel so am Herzen liegt?<br />

Dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste ist: Die <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er wollen, dass<br />

die S-<strong>Bahn</strong> läuft<br />

und läuft<br />

und läuft<br />

und läuft und läuft und läuft<br />

und läuft und läuft und läuft<br />

und läuft und läuft und läuft<br />

und läuft und läuft und läuft und läuft


Wessen <strong>Bahn</strong>? Unsere <strong>Bahn</strong>!<br />

Perspektiven und Alternativen<br />

für die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />

Katrin Dornheim und Lucy Redler<br />

„Die vier Feinde der S-<strong>Bahn</strong>: Frühling, Sommer, Herbst und Winter“. Kurz und prägnant wird auf Postkarten,<br />

die man in <strong>Berlin</strong>er Kaufhäusern erwerben kann, zum Ausdruck gebracht, dass nicht – wie zu<br />

Beginn des Chaos von DB-Managern behauptet – der Winter am Chaos der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> schuld ist.<br />

Ursache der Pleite- und Pannenserie bei der S-<strong>Bahn</strong> sind nicht Eis und Schnee, sondern das bewusste<br />

Kaputtsparen der S-<strong>Bahn</strong>, um die Profite der DB AG zu erhöhen. Personalabbau, die Schließung von<br />

Werkstätten und eine Verlängerung der Wartungsintervalle um 30 Prozent haben in die Krise geführt.<br />

Die durch den Sparkurs erzielten Gewinne<br />

wurden nicht in die S-<strong>Bahn</strong> re-investiert,<br />

sondern flossen an die DB AG.<br />

Wenn Politiker in dieser Situation den<br />

Kurs der Gewinnauspressung mit einer<br />

Teilprivatisierung der S-<strong>Bahn</strong> beantworten<br />

wollen, kann man entweder an<br />

ihrem Geisteszustand zweifeln oder<br />

muss erkennen, dass sie andere Interessen<br />

als die Beschäftigten und Fahrgäste<br />

der S-<strong>Bahn</strong> vertreten.<br />

Wie kann eine S-<strong>Bahn</strong> im Interesse<br />

der Beschäftigten und der Fahrgäste<br />

aussehen, die in der Metropole <strong>Berlin</strong><br />

zugleich eine ökologisch-gesellschaftliche<br />

Funktion einnimmt?<br />

Welche Sofortmaßnahmen müssen<br />

ergriffen werden, um die unmittelbare<br />

Situation zu verbessern? Und wie sieht<br />

unsere <strong>Bahn</strong> der Zukunft aus?<br />

A Sofortmaßnahmen<br />

und mittelfristige<br />

Maßnahmen<br />

180-Grad-Wende in der<br />

Personalpolitik – aufbauen<br />

statt kaputt schrumpfen<br />

Derzeit hört man schon fast regelmäßig<br />

in den Nachrichten, dass wegen kurzfristiger<br />

Krankmeldungen „pünktlich zum<br />

Wochenende“ die Taktfrequenzen vergrößert<br />

werden müssen, oder einige Linien<br />

der S-<strong>Bahn</strong> gar nicht befahren werden.<br />

Auch dies ist eine direkte Folge des<br />

Privatisierungskurses der Deutschen<br />

<strong>Bahn</strong> AG: der Druck auf die Personalkosten.<br />

Die Personalstärke wurde über eineinhalb<br />

Jahrzehnte hinweg drastisch reduziert.<br />

Bei Gründung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

GmbH im Jahr 1994 zählte diese noch<br />

mehr als 5000 Beschäftigte; 4000 waren<br />

direkt bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH beschäftigt<br />

und 1150 Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter arbeiteten bei der S-<strong>Bahn</strong> im<br />

BVG-Bereich und wurden im Rahmen<br />

einer Dienstüberlassung für die neue<br />

Gesellschaft tätig. 2003 waren nur noch<br />

3920 Mitarbeiter bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

beschäftigt, 2006 war der Personalbestand<br />

bereits auf 3766 Beschäftigten<br />

reduziert. Bis 2009 wurde er erneut um<br />

fast ein Viertel auf 2885 Mitarbeiter<br />

gesenkt. Dabei muss immer bedacht<br />

werden, dass im gleichen Zeitraum die<br />

Leistungen der S-<strong>Bahn</strong> bei der Personenbeförderung<br />

sich fast verdoppelt haben<br />

und das Streckennetz deutlich verlängert<br />

wurde.<br />

Der Personalabbau und die Arbeitsverdichtung<br />

der verbliebenen Beschäftigten<br />

sind allein der Renditemaximierung, die<br />

der S-<strong>Bahn</strong> vom Mutterkonzern DB AG<br />

ins Stammbuch geschrieben wurde, geschuldet.<br />

Demnach hat die S-<strong>Bahn</strong> im<br />

Jahr 2006 etwa 24 Millionen Euro an die<br />

DB AG abgeführt, 2007 waren es bereits<br />

34 Millionen Euro, die im Jahr 2008 auf<br />

56,3 Millionen Euro gesteigert wurden. 1<br />

Es ist nicht so, dass sich die Triebfahrzeugführer<br />

zusammenrotten und „krankfeiern“<br />

wie es einzelne Kommentatoren<br />

gerne darstellen. Wie Ende 2011, als es<br />

hieß, von 960 Fahrern seien fast 100<br />

krankgeschrieben. Auf den Gedanken,<br />

dass die enorme Zunahme von Stress<br />

und Erkältungsgefahr bei den Fahrern<br />

auch dadurch verursacht wird, dass sie<br />

inzwischen auf fast allen S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />

selbst die Zugabfertigung vornehmen<br />

und an jedem <strong>Bahn</strong>hof den Führerstand<br />

Perspektiven & Alternativen<br />

verlassen müssen, kommen diese Kommentatoren<br />

in ihren gut geheizten<br />

Redaktionsstuben nicht. Tatsache ist,<br />

dass es in der Novemberausgabe der<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Zeitschrift „Punkt 3“ hieß: „Lokführer<br />

dringend gesucht“ und dass S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Chef Buchner am 18. Januar 2012<br />

bekannt gab: „Uns fehlen 50 Triebfahrzeugführer“.<br />

Im Wagenpark, beim Personal<br />

in den Werkstätten und auf den<br />

Zügen herrscht der gleiche Mangel an<br />

Reserven. Durchschnittlich hohe Arbeitsunfähigkeitszeiten<br />

können auf Kosten<br />

der verbliebenen Triebfahrzeugführer gemeistert,<br />

jedoch sporadisch auftretende<br />

Spitzen nicht mehr ausgeglichen werden.<br />

Mitarbeiter wurden in allen neuralgischen<br />

Bereichen der S-<strong>Bahn</strong> abgebaut,<br />

Ausbildungszahlen abgesenkt, Auszubildende<br />

nur nach strikter Forderung der<br />

Interessenvertretungen und dann immer<br />

nur zeitlich befristet übernommen.<br />

Vor diesem Hintergrund ist, um eine<br />

schnelle Verbesserung der Situation bei<br />

der S-<strong>Bahn</strong> zu erreichen, zu fordern: Der<br />

Personalbestand muss sofort und nachhaltig<br />

aufgestockt werden. Die derzeit<br />

insbesondere in den Werkstätten beschäftigten<br />

Leih- und Zeitarbeitnehmer<br />

sind umgehend fest einzustellen.<br />

Bei der Berechnung des Personalbedarfs<br />

sind alle Aspekte zu berücksichtigen<br />

(Urlaub, Krankheit, Bildungsurlaub,<br />

innerbetriebliche Bildungsmaßnahmen<br />

etc.). Es rächt sich, dass in der Vergangenheit<br />

an Nachwuchs kontinuierlich<br />

gespart wurde. Die Diskussionen um eine<br />

bevorstehende Teilausschreibung, die<br />

durch den <strong>Berlin</strong>er Senat vorangetrieben<br />

wird, ist in diesem Zusammenhang kontraproduktiv.<br />

Die Personalverantwortli-<br />

45


46<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

chen bei der S-<strong>Bahn</strong> verfallen zunehmend<br />

in eine Schockstarre. Nach einem<br />

leichten Anheben der Personalstärke auf<br />

etwas mehr als 3000 Beschäftigte, die es<br />

seit dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />

2009 gab, wird inzwischen das vorhandene<br />

Personal erneut überbeansprucht<br />

und ein neuer Abbau von Personal – insbesondere<br />

auf den <strong>Bahn</strong>höfen – durchgeführt<br />

bzw. geplant. Offensichtlich<br />

scheut man die Investition in zusätzliches<br />

Personal im Hinblick auf etwaige<br />

Marktverluste im Falle einer Teilprivatisierung<br />

und glaubt, dies unternehmerisch<br />

nicht vertreten zu können. Von<br />

nachhaltiger Personalpolitik kann unter<br />

diesen Vorzeichen keine Rede sein.<br />

Verantwortung für nachhaltige<br />

Instandhaltung in operativer<br />

Hand – Kapazitäten erhöhen<br />

Wie im Personalbereich muss in rollendes<br />

Material (Wagen und Züge) und<br />

Wartung und Instandhaltung investiert<br />

werden. Stichprobenartige Wartung, die<br />

zur Aussetzung von ganzen Wagenparks<br />

durch das Eisenbahnbundesamt (EBA)<br />

führte, muss der Vergangenheit angehören.<br />

Die aus rein betriebswirtschaftlicher<br />

Sicht eingeführten, verlängerten Wartungsintervalle<br />

müssen der Beanspruchung<br />

der Bauteile angepasst werden.<br />

Das Bauteil, das zwischen den Instandhaltungsintervallen<br />

die kürzeste Standzeit<br />

aufweist, ist ausschlaggebend für<br />

das Instandhaltungsintervall.<br />

Bei Wartung und Instandhaltung<br />

muss ein Umdenken im Prozess selbst<br />

erfolgen. Die jetzt vorherrschende zentralisierte<br />

kleinteilige Sichtweise muss<br />

einer vorausschauenden und nachhaltigen<br />

Grundhaltung Platz machen. Dazu<br />

ist es zwingend erforderlich, Verantwortung<br />

in die Instandhaltungsbereiche vor<br />

Ort zurückzugeben; Voraussetzung<br />

dafür: Vertrauen der Unternehmensführung<br />

in die Belegschaft.<br />

Ein Beispiel: Wenn ein Werkstattmeister<br />

einen Wagen mit dem Instandhaltungsauftrag<br />

in die Werkstatt bekommt,<br />

um eine Scheibe zu reparieren und dabei<br />

sieht, dass in fünf Tagen das Wartungsintervall<br />

der Klimaanlage abläuft, so<br />

muss er autonom die Entscheidung treffen<br />

können, diese Arbeit gleichzeitig,<br />

auch ohne Arbeitsauftrag, durchführen<br />

zu lassen. Derzeit scheitert dies an der<br />

Bürokratie: Arbeiten dürfen nur mit Arbeitsauftrag<br />

durchgeführt werden.<br />

Durch veränderte Intervalle und nachhaltige<br />

Instandhaltung erhöht sich jedoch<br />

der Bedarf an Werkstattkapazitäten<br />

und Werkstattpersonal. Infolgedessen<br />

müssen damit einhergehend auch<br />

die Kapazitäten der Werkstätten gesteigert<br />

werden. Man benötigt alle verfügbaren<br />

Werkstätten, einschließlich derer,<br />

die in den Jahren ab 2005 geschlossen<br />

wurden (Erkner, Papestraße, Grunewald,<br />

Friedrichsfelde). Und in diesen Werkstätten<br />

muss es, wie oben beschrieben, gut<br />

ausgebildetes Personal geben.<br />

Auf dem Höhepunkt des Chaos wurde<br />

die Werkstatt in Friedrichsfelde wieder<br />

eröffnet. Derzeit läuft aufgrund von geplanten<br />

Baumaßnahmen eine zeitweise<br />

Reaktivierung der Werkstatt in Erkner<br />

an. Diese muss jedoch nachhaltig und<br />

unbefristet reaktiviert werden und nicht<br />

nur für den Zeitraum X einer Baumaßnahme.<br />

Die Reaktivierung der dann noch<br />

geschlossenen Werkstätten Grunewald<br />

und Papestraße benötigt man auch deshalb,<br />

weil nur durch das einstmals vorhandene<br />

flächendeckende Werkstattangebot<br />

auch der zeitliche und logistische<br />

Aufwand für die Überführungen der S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Wagen und Züge in die vereinzelten<br />

Werkstätten reduziert werden kann.<br />

Personalaufbau und Werkstätten-Reaktivierung<br />

sind die großen vorherrschenden<br />

Themen. Bei einer genaueren<br />

Betrachtung entstehen weitere Forderungen.<br />

Ein Beispiel: Es wurden zur Instandhaltung<br />

und Lagerhaltung Softwaresysteme<br />

eingeführt, die den Beschäftigten<br />

nur unzureichend vermittelt<br />

wurden. Darüber hinaus weisen die neuen<br />

Systeme eine veränderte und reduzierte<br />

Funktionalität auf.<br />

Es muss ein Zustand hergestellt werden,<br />

bei dem nicht nur Betriebswirtschaftler,<br />

sondern das gesamte damit<br />

befasste Werkstattpersonal mit den<br />

Softwaresystemen umgehen kann. Der<br />

fehlerhafte Einsatz von Software-Systemen<br />

ist ebenso auf den Privatisierungskurs<br />

der DB AG zurückzuführen wie das<br />

„von der Stange gekaufte“ Wagenmaterial.<br />

Auch hier fehlen bei der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> GmbH operative Fachkräfte, die<br />

sich mit Instandhaltung, Technik und<br />

dem System Eisenbahn auskennen. Im<br />

Grunde müssten diese, wie dies früher in<br />

der Regel der Fall war, bereits bei der<br />

Entwicklung Einfluss nehmen. Doch<br />

anstelle solcher Fachleute mit Ingenieurwissen<br />

entsandte die DB AG in die<br />

Einkaufsverhandlungen zunehmend Leute<br />

mit juristischem und betriebswirtschaftlichem<br />

Spezialwissen.<br />

Aufsichten auf allen<br />

S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />

Der Sicherheitsaspekt, den der Eisenbahnbetrieb<br />

erfordert und den die Betriebseisenbahner<br />

noch kennen, rückt<br />

auf allen Ebenen immer mehr in den<br />

Hintergrund. Wenn bei der S-<strong>Bahn</strong> nur<br />

noch die betriebswirtschaftliche Sicht im<br />

Zentrum steht, braucht man sich über<br />

Unfälle und Unregelmäßigkeiten nicht<br />

zu beklagen.<br />

Zum Aspekt der Sicherheit gehören<br />

insbesondere auch die Aufsichten auf<br />

den <strong>Bahn</strong>steigen. Auch hier wurde in<br />

den vergangenen Jahren in großem<br />

Maßstab Personal abgebaut. Auf fast<br />

allen S-<strong>Bahn</strong>höfen müssen inzwischen<br />

die Fahrer die Zugabfertigung übernehmen.<br />

Das ist bereits hinsichtlich der Arbeitsbelastung<br />

unzumutbar. Auch sind<br />

die Fahrerkabinen dafür nicht gebaut;<br />

die Klimaanlagen funktionieren nicht,<br />

wenn alle zwei bis vier Minuten die Fahrertür<br />

geöffnet wird.<br />

Vor allem aber ist dies mit einem<br />

enormen Sicherheitsrisiko verbunden.<br />

Gerade bei Ein- und Ausfahrt des Zuges<br />

kann es zu Unfällen kommen. Es ist bei<br />

einem solchen kurzen Heraustreten aus<br />

dem Führerstand so gut wie unmöglich,<br />

einen sicheren Überblick über die gesamte<br />

Länge des S-<strong>Bahn</strong>-Zugs zu bekommen;<br />

das ist insbesondere der Fall<br />

bei <strong>Bahn</strong>höfen mit einem gekrümmten<br />

Gleis und bei großem Andrang (Hertha-<br />

Heimspiel; Berufsverkehr usw.).<br />

Die Aufsichten hatten – neben der<br />

pünktlichen Abfertigung des Zuges – die<br />

Aufgabe, den sicheren <strong>Bahn</strong>betrieb zu<br />

gewährleisten. All diese Aufgaben wurden<br />

zunehmend auf technische Lösungen<br />

verlagert, Aufsichtspersonal durch<br />

Zugabfertigungskameras eingespart und<br />

verbliebene Tätigkeiten auf den Triebfahrzeugführer<br />

verschoben.<br />

Schon diese Aufgaben rein auf technische<br />

Lösungen zu übertragen, ist aus<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Lunapark21·extra 6/2012<br />

Das große Abenteuer<br />

des Fahrens auf<br />

Verschleiß<br />

47


Grafik: Joachim Römer<br />

48<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Alle<br />

wettern<br />

übers Chaos<br />

Die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> fährt<br />

öffentlich-rechtlich in<br />

die Zukunft!<br />

Wir setzen<br />

uns für<br />

Abhilfe ein.<br />

Gründen der Betriebssicherheit absurd.<br />

Hinzu kommt, dass es in den letzten<br />

Jahren auf den <strong>Bahn</strong>höfen vermehrt zu<br />

tätlichen Übergriffen auf Fahrgäste kam.<br />

Auch hier kann eine natürliche Person<br />

mit einem Funkgerät in der Hand eher<br />

abschreckend wirken, als eine stumme<br />

Kamera, die den Überfall filmt, aber der<br />

Geschädigte trotz Kameraaufnahme verletzt<br />

auf dem <strong>Bahn</strong>steig oder gar im<br />

Gleisbereich liegt. Notwendig ist, dass<br />

auf allen 166 S-<strong>Bahn</strong>höfen wieder Aufsichtspersonal<br />

anwesend ist. Dafür sind<br />

mindestens 500 Beschäftigte erforderlich.<br />

Die aktuellen Planungen sehen die<br />

entgegengesetzte Entwicklung vor: Das<br />

Aufsichtspersonal soll weiter reduziert<br />

werden. Den Planungen der S-<strong>Bahn</strong><br />

Bürger<br />

S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong><br />

GmbH zufolge sollen nur noch 120 Mitarbeiter<br />

an zwanzig stark genutzten<br />

<strong>Bahn</strong>höfen dauerhaft eingesetzt werden.<br />

Unter Berücksichtigung der Schichtarbeit<br />

heißt das, dass es real nur 40 Personen<br />

sein werden. Und auch die sollen<br />

großteils nicht auf dem <strong>Bahn</strong>steig arbeiten,<br />

sondern in Aufsichtsgebäuden vor<br />

Monitoren sitzen, wo sie oft sogar mehrere<br />

<strong>Bahn</strong>höfe zu beobachten haben.<br />

Hinzu kommen 120 sogenannte Kundenbetreuer,<br />

die je nach Bedarf auf die<br />

<strong>Bahn</strong>höfe verteilt werden. 2<br />

Statt weiterem Personalabbau muss<br />

auf allen S-<strong>Bahn</strong>höfen wieder Aufsichtspersonal<br />

anwesend sein. Das ist im Interesse<br />

der Fahrgäste und entlastet die<br />

Triebfahrzeugführer.<br />

Eine weitere Verbesserung aus Sicht<br />

der Fahrgäste ist die Wiedereinrichtung<br />

von Fahrkartenschaltern, die mit Menschen<br />

besetzt sind. Die Automatisierung<br />

des Fahrkartenverkaufs schreckt viele<br />

Fahrgäste ab; ältere Menschen haben<br />

oftmals Probleme mit Automaten, andere<br />

brauchen wiederum eine spezielle<br />

Auskunft. Erfolgreiche Nahverkehrsunternehmen<br />

wie die Usedomer Bäderbahn<br />

verfolgen den entgegengesetzten Weg<br />

und setzen auf Kartenverkauf durch das<br />

Personal.<br />

Die Forderung des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es<br />

lautet: Zumindest auf allen Umsteigebahnhöfen<br />

im S- und U-<strong>Bahn</strong>netz muss<br />

es mit Personal besetzte Schalter geben,<br />

wobei diese Verkaufsmöglichkeiten mindestens<br />

zehn Stunden am Tag geöffnet<br />

sein müssen.<br />

Offenlegung der Verträge und<br />

Untersuchungsausschuss<br />

Zu all diesen den operativen Bereich betreffenden<br />

Forderungen kommt entscheidend<br />

hinzu, dass die Rahmenbedingungen,<br />

in denen sich die S-<strong>Bahn</strong> bewegt,<br />

für Nutzer, Belegschaft, Interessenvertretungen<br />

und andere transparent<br />

gemacht werden müssen. Dazu gehört<br />

unter anderem die inzwischen zu einem<br />

Großteil erfolgte Offenlegung des Verkehrsvertrages<br />

mit allen angehängten<br />

oder weitergehenden Dokumenten. Interessanterweise<br />

stellte diese Forderung<br />

am 14. Februar 2012 auch die SPD-Fraktion<br />

auf – womit sie eine Forderung des<br />

S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es übernahm.<br />

Um eine Wiederholung des S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Chaos auszuschließen, muss ein Untersuchungsausschuss<br />

zur Kontrolle der<br />

Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen<br />

und zur Wiederherstellung des<br />

sicheren, vollumfänglichen und nachhaltigen<br />

Fahrbetriebs eingesetzt werden.<br />

Dieser Untersuchungsausschuss muss<br />

sich auch erneut eingehend mit den<br />

Gründen für das entstandene Chaos beschäftigen,<br />

lückenlos auf allen Ebenen<br />

die Fehler auflisten und Handlungshinweise<br />

geben. Wenn der Untersuchungsausschuss<br />

diese Ziele verfolgen soll,<br />

kann er sich folgerichtig nicht nur aus<br />

dem Management (das heißt aus Betriebswirtschaftlern<br />

und Juristen) oder<br />

der Politik zusammensetzen. Es müssen<br />

Lunapark21·extra 6/2012


zwingend Fachkräfte aus der S-<strong>Bahn</strong>, Interessenvertreter<br />

aus den Gewerkschaften,<br />

Umwelt- und Fahrgastverbänden in<br />

einem solchen Gremium vertreten sein<br />

und zusammenarbeiten.<br />

Rückführung ausgegliederter<br />

Betriebsteile<br />

Die oben beschriebenen Maßnahmen<br />

können zu einer kurzfristigen Entspannung<br />

und Verbesserung der Situation<br />

beitragen. Langfristig müssen die Gründe<br />

für das Versagen des Systems S-<strong>Bahn</strong><br />

innerhalb des Konzerns DB AG gesucht<br />

und beseitigt werden. Viele der oben beschriebenen<br />

Probleme entstanden durch<br />

die beschönigend genannte Verschlankung<br />

des Konzerns. Seit der ersten Stufe<br />

der <strong>Bahn</strong>reform wurde damit begonnen,<br />

scheinbar unrentable Bereiche auszugliedern<br />

und zu verkaufen. Eine Querfinanzierung<br />

einzelner Bereiche untereinander<br />

war plötzlich nicht mehr möglich.<br />

So konnten Teile des Konzerns<br />

betriebswirtschaftlich „schlecht gerechnet“<br />

und als unwirtschaftlich ausgewiesen<br />

und abgestoßen werden. Eine andere<br />

Reaktion des Konzerns war die Zusammenlegung<br />

gleichartiger Tätigkeiten in<br />

verschiedenen Unternehmensbereichen<br />

in gemeinsame ServiceCenter (beispielsweise<br />

Personalbereich) oder Dienstleistungszentren<br />

(zum Beispiel Ausbildung).<br />

Ähnlich wurde auch bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

vorgegangen.<br />

Mittel- und langfristig müssen die<br />

ausgelagerten Bereiche der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

wieder in das Unternehmen eingegliedert<br />

werden. Dies gilt beispielsweise<br />

für die Reinigung, die Ausbildung und<br />

die Personaldienstleistungen. Die Strukturen<br />

der DB AG sind für die Einstellung<br />

neuer Mitarbeiter und Auszubildender<br />

viel zu weit weg von den einzelnen Betrieben<br />

und deren Anforderungen, zu<br />

langsam und zu starr. Nur wenn die Ausbildung<br />

und die Einstellung von Mitarbeitern<br />

wieder zurück in die S-<strong>Bahn</strong> gegeben<br />

wird, kann diese schnell und flexibel<br />

auf die Anforderungen reagieren.<br />

Dies gilt auch für den Bereich Personaldienstleistungen.<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> benötigt<br />

zusätzliches Personal aufgrund all<br />

der hier aufgezeigten Probleme, sie darf<br />

kein Personal mehr abbauen. Mitarbeiter<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

zu halten, sie wertzuschätzen und gut<br />

zu betreuen, ist jedoch in den unpersönlichen,<br />

zentral eingerichteten Service-<br />

Centern Personal kaum möglich. Die<br />

Leistungsverdichtung auf dem einzelnen<br />

Arbeitsplatz kann durch die vermehrte<br />

Zuführung von Mitarbeitern reduziert<br />

und damit auch der Krankenstand<br />

erheblich gesenkt werden.<br />

Modernisierung der<br />

Betriebsmittel und<br />

Aufbau von Reserven<br />

Die Werkstätten, Stellwerke und der<br />

Fahrzeugbestand sind auf dem aktuellen<br />

Stand der Technik zu führen und stetig<br />

weiterzuentwickeln. Dabei ist es erforderlich,<br />

bei Neuanschaffungen die Fachkräfte<br />

der S-<strong>Bahn</strong> direkt, am besten ab<br />

der Entwicklung, in den Prozess einzubeziehen.<br />

Möglich wäre auch, wieder eigene<br />

Entwicklungsbereiche aufzubauen.<br />

Technische Mängel sind bei der Industrie<br />

zu adressieren und bei Weiterentwicklung<br />

auf die Beseitigung zu achten. Vereiste<br />

Wagenwaschanlagen und vereiste,<br />

veraltete Türschließmechanismen, die<br />

eingekauft wurden, weil man bei den<br />

Anforderungen keinen harten mitteleuropäischen<br />

Winter einkalkuliert hat,<br />

müssen ebenso der Vergangenheit angehören,<br />

wie politisch und unternehmerisch<br />

motivierte Sparzwänge.<br />

Die Probleme bei der Baureihe 481,<br />

die in einer Gemeinschaftsproduktion<br />

unter dem Dach DWA (Deutsche Waggonbau<br />

AG) in der Nachwendezeit<br />

gemeinsam mit der <strong>Bahn</strong> und dem <strong>Berlin</strong>er<br />

Senat entwickelt wurde, rühren u.a.<br />

daher, dass die Wagen anders projektiert<br />

wurden als sie später in den Verkehr kamen.<br />

So wurden nach einer Entscheidung<br />

des damaligen <strong>Bahn</strong>vorstands und<br />

des <strong>Berlin</strong>er Senats z.B. geplante Klimaanlagen<br />

nicht eingebaut und dann an<br />

der Energieversorgung gespart. Um diese<br />

Wagen auf den aktuellen Stand der<br />

Technik zu bringen, um Türenteisung<br />

und Besandungsanlagen funktionstüchtig<br />

zu machen, darauf ist die abgespeckte<br />

Technik nicht ausgelegt.<br />

Der Sparwahn muss auch beim Wagenpark<br />

beendet werden. Der Fahrzeugpark<br />

war – nochmals: bei ständig gestiegenen<br />

Fahrzeugleistungen! – von rund<br />

800 Viertelzügen 1995 über 780 Viertel-<br />

Perspektiven & Alternativen<br />

zügen 2007 auf weniger als 600 Viertelzüge<br />

im Jahr 2009 abgebaut worden.<br />

Bewusst wurden die Reservekapazitäten<br />

von ehemals 17 Prozent auf weniger als<br />

7 Prozent gekappt. Eine im Jahr 2005<br />

vollzogene Verschrottung von erst in den<br />

1990er Jahren erworbenen Wagen ist<br />

blanker Irrsinn, wenn bedacht wird, dass<br />

in den letzten Jahren die nötige Flotte<br />

nicht mehr auf das Gleis gebracht werden<br />

konnte.<br />

Die Fahrzeugflotte muss auf ein Niveau<br />

gebracht werden, wie es vor Inkrafttreten<br />

des „Optimierungsprogramm<br />

S-<strong>Bahn</strong>“ galt; gleichzeitig ist eine mindestens<br />

20-prozentige Reserve einzuplanen.<br />

Der weitere Einsatz der<br />

Baureihe 481/482 oder die<br />

Anschaffung neuer Züge<br />

Die grundsätzliche Frage, ob die Baureihe<br />

481 aus technischen Gründen mittelfristig<br />

nicht mehr einsetzbar und durch<br />

eine neue Baureihe ersetzt werden muss,<br />

lässt sich hier nicht endgültig klären.<br />

Sicher ist: Die Grundaussage, diese Baureihe<br />

sei schlicht eine Fehlkonstruktion,<br />

ist in erster Linie diejenige des <strong>Bahn</strong>vorstands,<br />

unterstützt vom Gutachten der<br />

Berater Gleiss Lutz. Tatsache jedoch ist,<br />

dass die vielen Defekte mit diesen S-<br />

<strong>Bahn</strong>en in erster Linie nach den krassen<br />

Sparmaßnahmen – wie Spreizung der<br />

Wartungsintervalle und unterlassene<br />

Störungs- bzw. Unfall-Meldungen – aufgetreten<br />

sind.<br />

Schließlich befanden sich diese Züge<br />

vor dem Wirksamwerden dieser Sparprogramme<br />

im Zeitraum 1997 bis 2006 ein<br />

Jahrzehnt lang in einem Dauereinsatz,<br />

ohne dass es zu größeren Ausfällen kam.<br />

Unter normalen Bedingungen des Produktzyklus<br />

müssten diese Züge nach<br />

Durchführung der notwendigen Arbeiten<br />

an den Radsätzen, den Bremsen, an den<br />

Besandungsanlagen usw. noch mindestens<br />

weitere fünfzehn Jahre problemlos<br />

eingesetzt werden können. Das wird<br />

auch durch Aussagen von Fachleuten<br />

aus dem S-<strong>Bahn</strong>-Bereich und der <strong>Bahn</strong>industrie<br />

bestätigt.<br />

Eine so schwerwiegende Entscheidung,<br />

diese Baureihe mittelfristig durch<br />

komplett neue Züge zu ersetzen, muss<br />

wohl überlegt sein, zumal ja völlig offen<br />

49


50<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

ist, wer die entsprechenden Kosten in<br />

Höhe von bis zu zwei Milliarden Euro<br />

tragen soll. Es ist gut vorstellbar, dass<br />

dann eine solche Großinvestition dazu<br />

genutzt wird, zusätzlich Druck in Richtung<br />

Zerschlagung des Unternehmens S-<br />

<strong>Bahn</strong> bzw. Teilausschreibung von Strecken<br />

zu nutzen.<br />

Stattdessen sollte zunächst die Weiterverwendung<br />

dieser Baureihe mit dem<br />

nötigen Sachverstand umfassend geprüft<br />

werden, insbesondere durch Begleitung<br />

mit betrieblichem Fachverstand<br />

aus dem Bereich der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<br />

Werkstätten, mit Kollegen der <strong>Bahn</strong>industrie<br />

und fachlich kompetenten<br />

Gewerkschaftsvertretern.<br />

B Wir zahlen nicht<br />

für euer Chaos!<br />

Und wer soll das alles bezahlen? Wenn<br />

die S-<strong>Bahn</strong> nicht mehr gezwungen ist,<br />

die Gewinne an den Mutterkonzern abzuführen,<br />

können die dringend notwendigen<br />

Investitionen in Infrastruktur, Personal<br />

und Wartung durchgeführt werden.<br />

Auch der <strong>Berlin</strong>er Senat muss seinen<br />

Teil zur Wiederherstellung der S-<br />

<strong>Bahn</strong> beitragen.<br />

Die per Verkehrsvertrag geregelten<br />

Kürzungen der Zuschüsse für die S-<strong>Bahn</strong><br />

sind in das Netz zu reinvestieren. Die<br />

Regionalisierungsmittel sind ausschließlich<br />

für die Bestellungen im Regionalverkehr<br />

und nicht zweckentfremdet zu verwenden.<br />

Das erfordert, dass Strukturen<br />

geschaffen werden, bei denen ein Abfluss<br />

von S-<strong>Bahn</strong>-Einnahmen und Unterstützungen<br />

für die S-<strong>Bahn</strong> nicht an die<br />

DB Regio und den Mutterkonzern fließen<br />

können (siehe unten).<br />

Wenn zusätzliche Gelder benötigt<br />

werden, müssen der Bund und das Land<br />

auch zusätzliche Mittel bereitstellen. Es<br />

ist ein Irrglaube, dass sich der öffentliche<br />

Nah- und Regionalverkehr betriebswirtschaftlich<br />

rechnen müsse. Er ist Teil<br />

der öffentlichen Daseinsvorsorge und<br />

muss vor allem Mobilitätsbedürfnisse<br />

befriedigen.<br />

Doch ganz im Sinne der Renditemaximierung<br />

mussten in den vergangenen<br />

Jahren die Beschäftigten aufgrund des<br />

Sparkurses bluten und auch die Fahrgäste<br />

mussten draufzahlen.<br />

Rücknahme der<br />

Fahrpreiserhöhungen –<br />

Für ein Sozialticket<br />

„Ich bin hier oben noch ganz dicht, der<br />

Spaß ist zu teuer, von mir kriegste<br />

nüscht!“ sang Mensch Meier von Ton<br />

Steine Scherben. „Und da sagte einer, du<br />

hast recht Mensch Meier, was die so mit<br />

uns machen, ist der reine Hohn. Erst<br />

wollnse von uns immer höhere Steuern<br />

und was se dann versieben, kostet unseren<br />

Lohn.“<br />

An dieses Lied erinnerten sich wohl<br />

viele, als mitten auf dem Höhepunkt des<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Desasters am 1. Januar 2011 die<br />

Fahrpreise für S- und U-<strong>Bahn</strong>fahrten um<br />

2,8 Prozent erhöht wurden – obwohl nur<br />

40 Prozent der Züge im Einsatz waren.<br />

Für all jene, die in <strong>Berlin</strong> vor allem Einzeltickets<br />

benutzen, erhöhten sich die<br />

Kosten sogar um 9,5 Prozent. Im März<br />

2012 setzte der VBB eins drauf und verkündete<br />

eine neuerliche Fahrpreiserhöhung<br />

von 2,8 Prozent ab Sommer.<br />

Als Sofortmaßnahme müssen die<br />

jüngsten Preiserhöhungen zurück genommen<br />

werden.<br />

Wie in anderen Städten bereits realisiert,<br />

muss auch in <strong>Berlin</strong> ein Sozialticket<br />

eingeführt werden. Dieses muss<br />

sich in seiner Höhe an dem Regelsatz-<br />

Betrag des Arbeitslosengeldes II für eine<br />

Teilnahme am ÖPNV orientieren. Der<br />

<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> fordert deshalb<br />

die Einführung eines Sozialtickets in<br />

Höhe von 18 Euro. Es kann nicht sein,<br />

dass der Bund einerseits Millionen Menschen<br />

in Armut zwingt und bei den bewilligten<br />

monatlichen Unterstützungszahlen<br />

den Satz von 18 Euro als ausreichend<br />

für die ÖPNV-Kosten der Betroffenen<br />

erklärt, und andererseits öffentliche<br />

Unternehmen ermäßigte ÖPNV-<br />

Tickets anbieten, die beim Doppelten<br />

und Dreifachen dieses Satzes liegen. Gegebenenfalls<br />

muss der Bund bei den entsprechenden<br />

ÖPNV-Unternehmen für<br />

einen finanziellen Ausgleich Sorge tragen.<br />

Jeder und jedem – egal ob jung oder<br />

alt, krank oder gesund – muss es möglich<br />

sein, kostengünstig die öffentlichen<br />

Verkehrsmittel zu nutzen und dadurch<br />

am Arbeits- und sozialen und kulturellem<br />

Leben teilzunehmen.<br />

C Nein zu Privatisierung<br />

und Ausschreibung<br />

Die sogenannte <strong>Bahn</strong>reform und die Einführung<br />

neuer Verordnungen der Europäischen<br />

Union in Bezug auf den öffentlichen<br />

Verkehr erfolgten im Interesse der<br />

privaten Konzerne und Investoren. Sie<br />

sollen die <strong>Bahn</strong> wie andere Bereiche der<br />

öffentlichen Daseinsvorsorge für die<br />

Profitinteressen privater Unternehmen<br />

lukrativer machen.<br />

Die EU-Verordnung 1370/2007 gilt<br />

seit Dezember 2009. Ihr zufolge können<br />

Kreise und Städte Verkehrsleistungen<br />

entweder ausschreiben oder unter bestimmten<br />

Bedingungen direkt an ein<br />

landeseigenes oder kommunales Unternehmen<br />

vergeben. Die genauen Bestimmungen<br />

und Auslegungen sind rechtlich<br />

umstritten.<br />

Politisch wurde die Ausschreibung an<br />

Private mit mehr Wettbewerb, sinkenden<br />

Kosten und mehr Effizienz begründet.<br />

Die realen Erfahrungen sprechen jedoch<br />

eine andere Sprache.<br />

Beispiel Brandenburg: In Brandenburg<br />

wurden seitens des Verkehrsverbunds<br />

<strong>Berlin</strong> Brandenburg (VBB) im Jahr 2009<br />

sechzehn Linien des Regionalverkehrs<br />

ausgeschrieben. Für fünf Linien bekam<br />

die private Ostdeutsche Eisenbahn<br />

GmbH (ODEG) den Zuschlag. Es handelt<br />

sich dabei originellerweise um eine „private“<br />

Gesellschaft, die im wesentlichen<br />

von den beiden öffentlichen Unternehmen<br />

FS, der italienischen Staatsbahn,<br />

und der Hamburger Hochbahn kontrolliert<br />

wird. Brandenburg spart durch die<br />

Vergabe an die ODEG vierzig Millionen<br />

Euro jährlich. Im Klartext: Das Land spart<br />

Kosten und die ODEG macht Gewinne zu<br />

Lasten der Beschäftigten und der Fahrgäste.<br />

Die ODEG bezahlt ihren Beschäftigten<br />

– auf das Jahreseinkommen berechnet<br />

– dreißig Prozent weniger. Die<br />

Arbeitsplätze wurden bei der Übergabe<br />

des Auftrags von der DB Regio an die<br />

ODEG nicht gesichert, Tarif-und Sozialstandards<br />

wurden nicht eingehalten.<br />

Aus dem Mund einer ODEG-Sprecherin<br />

hört sich das so an: „Wir bieten allen<br />

<strong>Bahn</strong>-Mitarbeitern an, sich bei uns zu<br />

bewerben. Aber sie müssen eben zur<br />

ODEG passen.“ Übersetzt: Passende Mitarbeiter<br />

sind solche, die sich mit weniger<br />

Lunapark21·extra 6/2012


Die<br />

einen<br />

wollen<br />

jeden Tag<br />

an ein Ziel...<br />

...die anderen<br />

hoch hinaus<br />

51


52<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Nulltarif im Nahverkehr?<br />

In Templin, Lübben und in der belgischen Stadt Hasselt wurde ein Nulltarif im<br />

Nahverkehr oder für einen gewissen Bereich des Nahverkehrs eingeführt. Die<br />

Ergebnisse können sich sehen lassen. Viele Einwohner lassen ihr Auto stehen, die<br />

Fahrgastzahlen stiegen sprunghaft an. In Hasselt wurde die Innenstadt autofrei.<br />

Weniger Autoverkehr bedeutet weniger Unfälle, weniger Verletzte und Getötete.<br />

Eine Reduzierung des Autoverkehrs führt zudem zu einer sinkenden Umweltbelastung<br />

durch weniger Schadstoffaustoß und einer geringeren Lärmbelästigung für<br />

die Bevölkerung. Die dadurch entstehenden gesellschaftlichen Vorteile überwiegen<br />

die Einnahmeausfälle durch den Nulltarif für die Stadt langfristig.*<br />

Natürlich rechnet sich die Einführung des Nulltarifs betriebswirtschaftlich<br />

nicht. Aber das ist auch nicht zielführend. Ein Beispiel: Ob das Befahren einer<br />

Strecke in einem Außenbezirk im Zehn-Minutentakt sinnvoll ist oder nicht, lässt<br />

sich nicht betriebswirtschaftlich entscheiden, sondern richtet sich nach den<br />

Bedürfnissen der Menschen, die dort wohnen und nach <strong>Berlin</strong> zur Arbeit fahren.<br />

<strong>Berlin</strong> ist natürlich nicht mit Kleinstädten wie Hasselt vergleichbar. Aber<br />

warum sollte perspektivisch ein solches Nulltarif-System in dieser Großstadt mit<br />

der weit höheren Feinstaubbelastung, der großen Zahl von Verkehrsunfällen und<br />

ihrem ständigem Innenstadtstau nicht funktionieren? Durch erhöhte Investitionen<br />

könnten Strecken im Nahverkehrsnetz ausgebaut und Außenbezirke besser angebunden<br />

werden. Die Lebensqualität eines Großteils der <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er<br />

würde steigen. Der Rückgang der sogenannten externen Kosten des Straßenverkehrs<br />

(in Form von Toten, Verletzten, gesundheitlichen Schäden, Umweltbelastungen<br />

und Zerstörung der Stadt- und Lebensqualität) wäre deutlich größer als die<br />

zusätzlichen Kosten eines solchen flächendeckenden öffentlichen Gratisverkehrs.<br />

Stattdessen plant der Senat den Ausbau der Stadtautobahn A100. Typisch ist<br />

hier wieder die Kosten-Lasten-Verteilung: Der Bund trägt einen großen Teil der<br />

Kosten, „schenkt“ gewissermaßen die Autobahn dem Land und die Bevölkerung<br />

trägt den Schaden – mehr Autoverkehr mit all den beschriebenen Folgen.<br />

* Zum Weiterlesen: www.tagesspiegel.de/berlin/brandenburg/den-ganzen-tag-kostenlos-busfahren-in-templin-gilt-der-nulltarif-viele-lassen-ihr-auto-stehen/317194.html<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Personennahverkehr_in_Hasselt"http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Personennahverkehr_in_Hasselt<br />

Lohn zufrieden geben, einen Teil der Reparaturen<br />

an den Zügen auch schon mal<br />

selbst erledigen und im Krankheitsfall<br />

von Kollegen ständig auf Abruf bereit<br />

stehen.<br />

Die „Wettbewerbsfähigkeit“ im Regional-<br />

und Nahverkehr wird über Lohndumping,<br />

Personalabbau und sinkende<br />

Investitionen hergestellt und ist damit<br />

gegen die Interessen der Beschäftigten<br />

und Fahrgäste gerichtet. Der sogenannte<br />

„Wettbewerb“ besteht nur in der Frage,<br />

wer sich am billigsten präsentiert und<br />

den Zuschlag erhält. Hat ein privates<br />

Unternehmen den Zuschlag erhalten,<br />

kann es sich als neues privates Monopol<br />

hohe Profite sichern. Eine Garantie dafür,<br />

dass die Züge der privaten Unternehmen<br />

funktionieren, gibt es natürlich<br />

nicht: Im Februar 2012 fielen beispielsweise<br />

bei den neuen ODEG-Zügen der<br />

Linie OE33 die Heizungen aus; das Unternehmen<br />

ließ mitteilen, diese seien nur<br />

bis minus 20 Grad Celsius ausgelegt. Die<br />

ODEG musste bereits aus dem Verkehr<br />

gezogene ältere Züge der – dem gleichen<br />

Konzern zugehörenden - Prignitzer<br />

Eisenbahn reaktivieren.<br />

Keine Teilausschreibung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Konkret auf die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> bezogen<br />

bedeutet eine Teilausschreibung von<br />

Verkehrsleistungen eine Vergrößerung<br />

des Chaos und eine Verschlechterung für<br />

Fahrgäste und Beschäftigte. Aus vier<br />

Gründen:<br />

> Erstens: Eine Teilausschreibung des S-<br />

<strong>Bahn</strong>-Betriebs auf dem Ring und<br />

mancher Linien im Süd-Osten bedeutet<br />

die Zerschlagung der S-<strong>Bahn</strong>. Der<br />

eine Teil, die Schienen und die <strong>Bahn</strong>höfe,<br />

würde als Infrastruktur bei der<br />

DB Netz AG und bei der DB Station&<br />

Service AG verbleiben. Der nicht ausgeschriebene<br />

„Rest“ des Zugbetriebs<br />

würde ebenfalls in der Verantwortung<br />

der DB AG verbleiben, während ein<br />

anderer Teil (Ring und weitere Linien)<br />

ab 2017 von privaten Verkehrsunternehmen<br />

betrieben werden könnte. Unterschiedliche<br />

Zugbetreiber auf unterschiedlichen<br />

Linien führen nicht zu<br />

mehr Effizienz und Wettbewerb, sondern<br />

vergrößern das Chaos und den<br />

Verwaltungsaufwand. Dies wäre ein<br />

Rückfall ins 19. Jahrhundert der Länderbahnen<br />

und Lokalbahnen. Würde<br />

der Zugbetrieb komplett ausgeschrieben,<br />

würde auch dies zu einer Trennung<br />

des Netzes und des Zugbetriebs<br />

führen.<br />

Ein S-<strong>Bahn</strong>er beschreibt seine Befürchtung<br />

in Bezug auf eine drohende Privatisierung<br />

in einem Bericht über seinen Arbeitsalltag<br />

wie folgt: „Ich frage mich,<br />

was das bringt, wenn eine Privatbahn<br />

S-<strong>Bahn</strong>en betreibt. Bei Störungen werden<br />

wir einer anderen Firma nicht ohne<br />

Weiteres helfen. Also dauert’s länger, bis<br />

alles wieder fährt. Auch ein Konkurrent<br />

würde darunter leiden, dass 80 Prozent<br />

der Störungen mit Signalen, Weichen<br />

und Stellwerken zu tun haben – also mit<br />

dem Unternehmen DB Netz, das bei der<br />

Deutschen <strong>Bahn</strong> bleibt und nicht privatisiert<br />

werden darf.“ 3<br />

> Zweitens: Im Fall einer Ausschreibung<br />

würden ab 2017 neue Wagen benötigt.<br />

Die DB hat bereits angekündigt,<br />

dass sie ihre S-<strong>Bahn</strong>-Züge nicht zur<br />

Verfügung stellen und diese nicht an<br />

private Konkurrenten verkaufen würde.<br />

Private Zugbetreiber sind nach eigenen<br />

Angaben gar nicht in der Lage,<br />

die erforderlichen Züge bis zum Zeitpunkt<br />

der Ausschreibung zu beschaffen.<br />

Eine Teilprivatisierung würde also<br />

das Chaos vergrößern. Anfang Februar<br />

2012 wurden Planungen des Senats<br />

öffentlich, nach denen dieser die angeblich<br />

aus technischen Gründen benötigten<br />

Züge selbst beschaffen würde,<br />

um sie später zu vermieten. Dies<br />

ist jedoch kein Schritt zur Kommunalisierung<br />

der S-<strong>Bahn</strong>. Damit würde die<br />

öffentliche Hand aktiv, um einen Einstieg<br />

privater Eisenbahnverkehrsunter-<br />

Lunapark21·extra 6/2012


nehmen bei der S-<strong>Bahn</strong> erst zu ermöglichen<br />

und diesen auch vorzufinanzieren.<br />

Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> geht davon<br />

aus, dass auch der Senat nicht in<br />

der Lage sein wird, die neuen Wagen<br />

in ausreichender Zahl bis 2017 zu<br />

beschaffen.<br />

> Drittens: Die Gewinne für die privaten<br />

Betreiber gehen zu Lasten von Fahrgästen<br />

und der Beschäftigten. Unter<br />

Lohndumping, Arbeitsverdichtung,<br />

Tarifflucht und der Zerstörung der<br />

Ausbildung werden die S-<strong>Bahn</strong>er<br />

zusätzlich leiden. Zudem entstehen<br />

höhere Kosten für die Koordination<br />

und Abstimmung zwischen den verschiedenen<br />

Zugbetreibern, Kosten, die<br />

dann „vergesellschaftet“ würden durch<br />

höhere Steuern oder Fahrpreiserhöhungen.<br />

Private Betreiber, die die Zugstrecken für<br />

eine bestimmte Zeitspanne betreiben,<br />

werden nötige langfristige Investitionen<br />

vernachlässigen. Wer einen Eindruck davon<br />

bekommen möchte, zu welchen katastrophalen<br />

Folgen dies führen kann,<br />

sollte einen Blick nach Großbritannien<br />

werfen. Dort wurde die staatliche <strong>Bahn</strong><br />

(British Rail) 1996 im Zuge der Privatisierung<br />

in über hundert Einzelunternehmen<br />

zerschlagen. Auch das Netz wurde<br />

privatisiert. Am Ende passte nichts mehr<br />

zueinander: Fahrpläne, Tickets, Streckenverbindungen.<br />

Investitionen wurden runtergefahren,<br />

die <strong>Bahn</strong> kaputt gespart, die<br />

Kosten für den Verwaltungsaufwand<br />

stiegen ins Unermessliche, es kam zu<br />

Unfällen mit mehreren Todesfällen. Im<br />

Jahr 2001 sah sich die Regierung gezwungen,<br />

Railtrack (den privaten Betreiber<br />

für die Schieneninfrastruktur) wieder<br />

zu verstaatlichen.<br />

Ähnlich katastrophale Folgen mit<br />

<strong>Bahn</strong>privatisierungen gab es in Argentinien,<br />

Mexiko, Neuseeland und Lettland.<br />

Hat der <strong>Berlin</strong>er Senat diese Beispiele<br />

nicht studiert? Oder verfolgt er andere<br />

Interessen?<br />

> Viertens: In den letzten Jahren war<br />

vielfach die Rede davon, dass die <strong>Berlin</strong>er<br />

S-<strong>Bahn</strong> ein Unikat ist und dass<br />

daher die Anschaffungskosten von rollendem<br />

Material besonders hoch sind.<br />

Das ist grundsätzlich richtig. Im Fall<br />

einer Teilausschreibung oder bei einer<br />

umfassenden Privatisierung – bei der<br />

es ja um „Wettbewerb“, also um viele<br />

Lunapark21·extra 6/2012<br />

private Betreiber gehen soll – erhöhen<br />

sich die damit zusammenhängenden<br />

Kosten nochmals. Es geht dann, wenn<br />

der Wagenpark erneuert wird, nicht<br />

um die Ausschreibung von vielen Hundert<br />

S-<strong>Bahn</strong>-Wagen, sondern nur um<br />

die Ausschreibung von vielen Dutzend<br />

Wagen. Das muss enorme zusätzliche<br />

Kosten verursachen, die erneut die<br />

Fahrgäste, die Steuerzahlenden und<br />

die S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten zu tragen<br />

haben würden.<br />

Aus all diesen Gründen muss jeglicher<br />

Privatisierung und Ausschreibung – ob<br />

teilweise oder vollständig – eine klare<br />

Absage erteilt werden. Wenn uns die<br />

Landes- und Bundesregierung mit Verweis<br />

auf die Europäischen Union die<br />

Alternativlosigkeit ihrer Politik predigt,<br />

stellen wir offensiv ihre Politik und<br />

Gesetze in Frage. Sowohl die <strong>Bahn</strong>reform<br />

von 1994, als auch alle EU-Verordnungen,<br />

die die öffentliche Daseinsvorsorge<br />

Profithaien zum Fraß vorwirft,<br />

müssen zurück genommen werden.<br />

D Eine andere S-<strong>Bahn</strong><br />

ist möglich<br />

Zu Beginn dieses Artikels wurde beschrieben,<br />

welche kurz- und mittelfristigen<br />

Maßnahmen ergriffen werden müssen,<br />

um das Chaos zu beheben und eine<br />

funktionierende S-<strong>Bahn</strong> wieder herzustellen.<br />

Damit wäre viel gewonnen. Es<br />

wurde ebenfalls dargelegt, warum eine<br />

Ausschreibung und die Teilprivatisierung<br />

das Chaos verschlimmern würden.<br />

Doch wem sollte die S-<strong>Bahn</strong> gehören?<br />

Wie sollte sie geleitet werden? Was ist<br />

die Alternative zur Ausschreibung?<br />

1. Für einen integrierten<br />

Betrieb<br />

Wichtig ist, dass der integrierte Betrieb<br />

erhalten bleibt und es nicht zu einer<br />

Zerschlagung kommt. Integrierter Betrieb<br />

bedeutet, dass die Infrastruktur<br />

und der Zugbetrieb der S-<strong>Bahn</strong> aus betrieblichen<br />

und technischen Gründen<br />

zum Vorteil aller in einem Unternehmen<br />

vereint sind.<br />

Gegenwärtig gehört die Infrastruktur<br />

teilweise, was die Trassen betrifft, zu DB<br />

Netz, die S-<strong>Bahn</strong>höfe befinden sich im<br />

Eigentum von DB Station und Service;<br />

Perspektiven & Alternativen<br />

die Energieversorgung wird von DB<br />

Energie GmbH gestellt. Allerdings ist die<br />

Betreuung der Infrastuktur per Geschäftsbesorgungsvertrag<br />

an die S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> GmbH gegeben worden.<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH und die anderen<br />

drei genannten Infrastrukturunternehmen<br />

gehören zum Gesamtverband<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG. Im Fall einer<br />

Ausschreibung, auch bei einer Teilausschreibung,<br />

können bereits aus EUrechtlichen<br />

Gründen der <strong>Bahn</strong>verbund<br />

und der Geschäftsbesorgungsvertrag<br />

nicht erhalten bleiben. Das muss infolge<br />

der dann unterschiedlichen Zuständigkeiten<br />

zu massiven zusätzlichen Reibungsverlusten<br />

führen.<br />

Eine Teilprivatisierung muss auch den<br />

internen Arbeitsmarkt grundsätzlich in<br />

Frage stellen.<br />

Der konzernweite Arbeitsmarkt funktioniert<br />

nur über konzernweit einheitliche<br />

Tarifverträge. Sollten Infrastruktur<br />

und Betrieb getrennt werden, würde dieses<br />

Konstrukt des konzernweiten Arbeitsmarktes<br />

auseinanderbrechen mit<br />

der Folge, dass betriebsbedingte Kündigungen<br />

sofort möglich wären (derzeit<br />

sind diese ausgeschlossen).<br />

Im Gegensatz zur Tendenz der Privatisierung<br />

muss darüber nachgedacht werden,<br />

ob ein optimal funktionierendes<br />

Unternehmen S-<strong>Bahn</strong> nicht selbst im<br />

Besitz der Infrastruktur sein sollte. Das<br />

war schließlich so bis 1994 – als es nur<br />

die in vollem Umfang integrierten Unternehmen<br />

Bundesbahn und Reichsbahn<br />

gab. Die Westberliner S-<strong>Bahn</strong> war zwischen<br />

1984 und 1994 ebenfalls ein integriertes<br />

Unternehmen mit Infrastruktur<br />

und Betrieb in einer Hand. Bei der <strong>Berlin</strong>er<br />

BVG käme auch niemand auf die<br />

Idee, die Straßenbahntrassen und die U-<br />

<strong>Bahn</strong>-Trassen einem Infrastrukturunternehmen<br />

zu übereignen und den Betrieb<br />

auf diesen Trassen in einem anderen Unternehmen<br />

zu konzentrieren. Eine Reihe<br />

gut funktionierender und höchst erfolgreicher<br />

regionaler Eisenbahnunternehmen<br />

wie die Usedomer Bäderbahn und<br />

die Karlsruher Verkehrsbetriebe sind<br />

ebenfalls in diesem Sinn integrierte Verkehrsbetriebe.<br />

Im Fall der <strong>Berlin</strong>er (und<br />

der Hamburger) S-<strong>Bahn</strong> kommt hinzu,<br />

dass die Infrastruktur ein Unikat ist, das<br />

außer der Spurweite überhaupt nichts<br />

mit der Infrastruktur der übrigen Deut-<br />

53


54<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

schen <strong>Bahn</strong> zu tun hat.<br />

Aus all diesen Gründen ist es sinnvoll,<br />

eine solche weitergehende Integration<br />

zu diskutieren.<br />

2. Aufhebung der<br />

Beherrschungsverträge<br />

Solange die DB privatwirtschaftlich organisiert<br />

ist, muss die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

GmbH der Kontrolle der DB-Manager<br />

entzogen werden. Das heutige DB-Management<br />

kommt aus der Auto- und<br />

Luftfahrtindustrie. Diese Manager verfolgen<br />

erkennbar andere Interessen als<br />

die Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse<br />

der <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er.<br />

Deutlich wird das auch bei der DB-Politik<br />

in Sachen Stuttgart 21. Hier geht es<br />

nicht um die Effektivität eines Kopfoder<br />

Tiefbahnhofs, sondern um milliardenschwere<br />

Immobilienprojekte. Deshalb<br />

muss der Beherrschungsvertrag zwischen<br />

DB AG und <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> aufgehoben<br />

werden. 4<br />

Das gilt umso mehr, da Bundesverkehrsminister<br />

Ramsauer im Januar 2012<br />

private Investoren aufforderte, in die DB<br />

Mobility Logistics, zu der die DB Regio<br />

und damit auch die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH<br />

gehören, zu „investieren“. Auch dies wäre,<br />

wie der bis 2008 verfolgte <strong>Bahn</strong>börsengang,<br />

eine Teilprivatisierung.<br />

Damit würden ganz unverfroren<br />

staatliche Gelder direkt in die Taschen<br />

von Privatinvestoren umgeleitet werden,<br />

da der Nahverkehr der Länder aus zugeteilten<br />

Bundesmitteln – den Regionalisierungsgeldern<br />

– finanziert wird.<br />

„Gewinne“ sind dann also immer nicht<br />

ausgegebene Steuergelder, die das<br />

jeweilige Unternehmen in die eigene<br />

Tasche steckt. 5<br />

Laut Vorratsbeschluss vom Mai 2008<br />

kann die Bundesregierung über Nacht<br />

bis zu 24,9 Prozent der DB Mobility Logistics<br />

privatisieren, also verkaufen. Damit<br />

wäre die DB ML – und mit ihr der<br />

gesamte Nah- und Fernverkehr und der<br />

Schienengüterverkehr nach EU-Recht<br />

wie ein privates Unternehmen zu behandeln,<br />

was schwerwiegende Konsequenzen<br />

für eine öffentliche Kofinanzierung<br />

hätte.<br />

Eine automatische Mitgehangen-Mitgefangen-Privatisierung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> auf<br />

diesem Weg muss verhindert werden.<br />

Das Ziel sollte sein, erstens die DB<br />

Mobility Logistics aufzulösen und in das<br />

gesamte Unternehmen zurückzuführen<br />

und zweitens die Deutsche <strong>Bahn</strong> anstatt<br />

diese als Aktiengesellschaft zu führen, in<br />

eine öffentliche Rechtsform umzuwandeln.<br />

3. Verbleib bei der DB oder<br />

Übergabe an das Land?<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> muss öffentlich betrieben<br />

werden, in staatlichem Eigentum sein<br />

und demokratisch kontrolliert und verwaltet<br />

werden. Hier stellt sich die Frage:<br />

Ist das besser im Rahmen der – in modifizierter<br />

Form strukturierten - Deutschen<br />

<strong>Bahn</strong> auf Bundesebene oder als kommunaler<br />

Betrieb möglich?<br />

Dies ist umstritten. Aufgrund des<br />

Ziels, die S-<strong>Bahn</strong> als integrierten Konzern<br />

beizubehalten und eine Zerschlagung<br />

zu verhindern, gibt es starke Argumente<br />

für einen Verbleib der S-<strong>Bahn</strong> bei<br />

der Deutschen <strong>Bahn</strong> und im Eigentum<br />

des Bundes (bei Aufhebung der Beherrschungsverträge<br />

und als eigenständiger<br />

Betrieb im Rahmen der DB, siehe Punkt<br />

2).<br />

Die S-<strong>Bahn</strong> fährt nicht nur in <strong>Berlin</strong>,<br />

sondern auch in Brandenburg. Die Beschäftigten<br />

der S-<strong>Bahn</strong> verstehen sich<br />

als Eisenbahner – das ist historisch so<br />

gewachsen – und nicht als Beschäftigte<br />

des Personennahverkehrs.<br />

Um die Verbindung von landes- und<br />

stadtbezogenen Belangen jedoch stärker<br />

zu berücksichtigen, wäre eine Beteiligung<br />

der Länder <strong>Berlin</strong> und Brandenburg<br />

am Betrieb der S-<strong>Bahn</strong> sinnvoll (womit<br />

diese dann eher eine S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Berlin</strong>-<br />

Brandenburg sein würde). Eine solche<br />

Beteiligung könnte juristisch auch zu<br />

einer Umgehung des Ausschreibungs<br />

„zwangs“ führen, der inzwischen nach<br />

EU-Recht aufgrund der Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichtshofs 6 weitgehend<br />

existiert.<br />

Bei alldem kann die S-<strong>Bahn</strong> nicht isoliert<br />

von der DB AG betrachtet werden.<br />

Der gesellschaftliche und betriebliche<br />

Druck für die Forderung nach Rücknahme<br />

der <strong>Bahn</strong>reform 1994 muss erhöht<br />

werden. Es darf zu keiner Teil- oder vollständigen<br />

Privatisierung der DB kommen.<br />

Die private Rechtsform der DB<br />

muss in eine öffentliche Rechtsform um-<br />

gewandelt und die Deutsche <strong>Bahn</strong> als<br />

staatlicher <strong>Bahn</strong>betrieb - zum Beispiel<br />

als Anstalt öffentlichen Rechts - unter<br />

demokratischer Kontrolle fortgeführt<br />

werden. 7<br />

Verantwortlich für den Privatisierungskurs<br />

bei der DB AG ist die Bundesregierung.<br />

Der Bund kann als Eigentümer<br />

in der Hauptversammlung bestimmend<br />

Einfluss nehmen und beschließen, das<br />

Unternehmen wieder in eine öffentliche<br />

Rechtsform ohne Gewinnorientierung zu<br />

überführen. Hätte die Regierung ein<br />

Interesse daran, wäre dies wohl längst<br />

geschehen.<br />

Die grundsätzlich zweite Option wäre<br />

eine Übernahme des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebs<br />

durch das Land <strong>Berlin</strong> beziehungsweise<br />

die Übergabe an ein landeseigenes Unternehmen<br />

wie die BVG. Eine ergänzende<br />

Form könnte auch die Übernahme des<br />

Unternehmens in das Eigentum der Länder<br />

<strong>Berlin</strong> und Brandenburg sein.<br />

In diesem Fall würde der Einfluss des<br />

Landes bzw. der beiden Bundesländer<br />

auf den S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb steigen. Eine<br />

vollständige Herauslösung der S-<strong>Bahn</strong><br />

<strong>Berlin</strong> GmbH aus der DB würde die<br />

Gefahr einer Teilprivatisierung der S-<br />

<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im Zuge einer Privatisierung<br />

oder eines Börsengangs der DB<br />

AG verringern. Zudem könnte aller Voraussicht<br />

nach eine Ausschreibung des<br />

Zugbetriebs vermieden werden.<br />

Das DB-Management weigert sich jedoch,<br />

die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH an das<br />

Land zu übergeben. Eine Kommunalisierung<br />

wäre nur als Ergebnis eines massiven<br />

politischen Drucks durchsetzbar. Das<br />

Hauptproblem ist aber, dass eine Übernahme<br />

durch das Land <strong>Berlin</strong> beim jetzigen<br />

Zustand zu einer Zerschlagung der<br />

S-<strong>Bahn</strong> führen würde – aufgrund der<br />

dann zu erfolgenden Trennung zwischen<br />

Zugbetrieb, der in kommunalem Betrieb<br />

übergehen würde, und der Infrastruktur,<br />

die bei der DB Netz bleiben würde. Es sei<br />

denn, man würde den oben skizzierten<br />

Weg verfolgen und die Infrastruktur direkt<br />

in das Unternehmen S-<strong>Bahn</strong> integrieren.<br />

Die Gewerkschaften und der Betriebsrat<br />

der S-<strong>Bahn</strong> warnen vor einer solchen<br />

drohenden Zerschlagung.<br />

Es stellt sich auch eine andere Frage:<br />

Wer sagt, dass der rot-schwarze Senat<br />

von <strong>Berlin</strong> eine progressivere Politik als<br />

Lunapark21·extra 6/2012


VON DEN MACHERN DES NEOLIBERALEN DURCHMARSCHS<br />

EIN FLUGZEUG- UND<br />

EIN AUTOMANAGER.<br />

ZWEI BAHNFREMDE, DEREN<br />

GEMEINSAMKEIT IHR AUFTRAG UND<br />

IHR FESTER WILLE IST, DIE BAHN<br />

ZU PRIVATISIEREN – HIN ZU<br />

VERSCHLEISS UND PROFIT .<br />

HARTMUT MEHDORN RÜDIGER GRUBE<br />

DER ZWILLINGSFILM ZU STUTTGART 21<br />

55


56<br />

S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />

die schwarz-gelbe Bundesregierung betreibt?<br />

Am VBB sind die Länder <strong>Berlin</strong> und<br />

Brandenburg beteiligt; der VBB befürwortet<br />

Ausschreibungen des Regionalverkehrs<br />

(siehe Brandenburg). Bei der<br />

zu 100 Prozent landeseigenen BVG wird<br />

mit dem Segen des Senats Lohndumping<br />

und Ausgründung betrieben – die BVG-<br />

Tochter <strong>Berlin</strong> Transport wurde unter<br />

dem rot-roten Vorgängersenat gegründet.<br />

Seitdem verdienen Neueingestellte<br />

erheblich weniger als die Alt-Beschäftigten<br />

der BVG.<br />

Einen Automatismus, dass eine S-<br />

<strong>Bahn</strong> in kommunalem Betrieb im Interesse<br />

der <strong>Berlin</strong>er und <strong>Berlin</strong>erinnen<br />

geführt würde, gibt es nicht.<br />

Entscheidend ist daher nicht, ob die<br />

S-<strong>Bahn</strong> im Eigentum des Bundes oder<br />

der Länder ist, sondern dass sie erstens<br />

in öffentlichem Eigentum, zweitens<br />

nicht privatrechtlich geführt und drittens<br />

einer ganz anderen demokratischen<br />

Kontrolle und Leitung unterstellt wird.<br />

4. Demokratische Kontrolle<br />

und Verwaltung<br />

Staatliches Eigentum ist eine notwendige,<br />

aber keine hinreichende Bedingung<br />

dafür, dass Betriebe im Interesse der<br />

Mehrheit der Bevölkerung stehen. Im<br />

Kapitalismus gebärden sich staatliche<br />

Betriebe oft wie private Konzerne. Das<br />

beste Beispiel in der Finanzkrise sind die<br />

Landesbanken, die sich genauso wie Privatbanken<br />

verspekuliert haben, und der<br />

schwedische staatliche Energiekonzern<br />

Vattenfall, mit dessen Hilfe in <strong>Berlin</strong> die<br />

Privatisierung der Energieversorgung –<br />

einschließlich der deutlichen Verteuerung<br />

der Energiepreise – zustande kam.<br />

Verstaatlichungen werden heute im<br />

Kapitalismus meist vorgenommen, um<br />

Verluste zu sozialisieren und Gewinne zu<br />

privatisieren. Dieses Schauspiel kann<br />

man aktuell auch am Beispiel der Hypo<br />

Real Estate (HRE) beobachten.<br />

Wenn also staatliche Betriebe im Interesse<br />

von Belegschaften und der Allgemeinheit<br />

stehen sollen, müssen sie an-<br />

Anmerkungen:<br />

1 Vgl. Kleine Anfrage an den Deutschen Bundestag, in: Drucksache 16/12945 vom 7.5.2009<br />

2 Vgl. S-<strong>Bahn</strong> will ihre Aufsicht durch Monitore ersetzen, <strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 14.9.2011,<br />

unter: http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article1763972/S-<strong>Bahn</strong>-will-ihre-Aufsichtdurch-Monitore-ersetzen.html<br />

3 Zitiert nach: Peter Neumann: In manchen Wochen 60 Arbeitsstunden – Ein Lokführer<br />

erzählt , warum es bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> Personalmangel und so viele Krankmeldungen<br />

gibt in: <strong>Berlin</strong>er Zeitung, 1.2.2012, S. 16<br />

4 Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH gehört zu 100 Prozent der DB Regio, die wiederum eine Tochter<br />

der DB AG ist, welche zu 100 Prozent in Bundeseigentum ist. Die operative Geschäftsführung<br />

der S-<strong>Bahn</strong> lag bis 2010 bei der DB Stadtverkehr. Die DB Regio ist seit 2008 der<br />

Subholding DB Mobility Logistics (DB ML) unterstellt. Die DB ML ist von der Bundesregierung<br />

zur Teilprivatisierung (24,9%) vorgesehen – mit ihr die DB Regio und damit auch<br />

die S-<strong>Bahn</strong>en. Die Infrastruktur ist Teil der DB Netz AG und der DB Station & Service AG<br />

und der DB Energie GmbH und soll nicht privatisiert werden.<br />

5 Mit den Regionalisierungsmitteln des Bundes – die nach einem gesetzlich festgelegten<br />

Schlüssel an die Bundesländer verteilt werden – bezahlen die Länder den durch Ausschreibung<br />

bestellten Nahverkehr. Im Fall der Vergabe an private Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

(EVU) gehen die „Gewinne“ an den Eigner des jeweiligen Unternehmens. Auch der Personenfernverkehr<br />

und der Schienengüterverkehr werden zur Umverteilungsmaschine: Die<br />

Instandhaltung und Modernisierung von Schienen und <strong>Bahn</strong>höfen und der Neubau von<br />

Strecken erfolgt zu einem großen Teil durch öffentliche Zuschüsse. Dies führt zu höheren<br />

Einnahmen von Personen- und Güterverkehr.<br />

6 Am 8. Februar 2011 entschied der Bundesgerichtshof aufgrund einer Klage des privaten<br />

<strong>Bahn</strong>unternehmens Abellio in einem Fall in NRW, dass eine Direktvergabe von Verkehrsleistungen<br />

des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) an die DB AG unzulässig sei.<br />

7 Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn (1990-93) waren sogenannte Sondervermögen<br />

des Bundes. Das hatte vor allem den Nachteil, dass diese Unternehmen leicht Spielball<br />

der Politik wurden, zur Versorgung von ehemaligen Politikern und Bürokraten herhalten<br />

mussten usw. Die Unternehmensform der Anstalt des öffentlichen Rechts bietet<br />

grundsätzlich die Chance der größeren Selbständigkeit und einer Festlegung auf spezifische<br />

verkehrspolitische, soziale und ökologische Ziele.<br />

ders als bisher kontrolliert und geleitet<br />

werden.<br />

Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> fordert ein dauerhaftes<br />

Aufsichtsgremium für die S-<strong>Bahn</strong>,<br />

in dem Vertreter der Eisenbahngewerkschaften,<br />

Vertreter der Fahrgastverbände<br />

und der Beschäftigten eine entscheidende<br />

Rolle spielen.<br />

Um die S-<strong>Bahn</strong> jedoch nicht nur zu<br />

kontrollieren, sondern diese auch an den<br />

Bedürfnissen der Fahrgäste und Beschäftigten<br />

auszurichten, wäre eine<br />

andere Leitung der S-<strong>Bahn</strong> nötig. Wie<br />

könnte eine solche aussehen? Man stelle<br />

sich als Vision vor, die S-<strong>Bahn</strong> würde<br />

paritätisch von Vertretern der Belegschaft,<br />

der Gewerkschaften, Umweltund<br />

Fahrgastverbänden und Vertretern<br />

der Regierung (Land und Bund) geleitet.<br />

Dies könnte möglicherweise dazu führen,<br />

dass die S-<strong>Bahn</strong> einen Beitrag zu<br />

kostengünstiger und perspektivisch kostenloser<br />

Mobilität und einer grünen<br />

Stadt für Alle leisten würde.<br />

Dass das nicht im Interesse der großen<br />

Konzerne wäre, versteht sich von<br />

selbst. Mit Hilfe von Tausenden Lobbyisten<br />

setzen sie täglich und stündlich ihre<br />

Interessen durch. Eine S-<strong>Bahn</strong> in unserem<br />

Interesse ist nicht im Einvernehmen,<br />

sondern nur gegen die Profitinteressen<br />

der Damen und Herren im DB-Tower und<br />

in den Konzernzentralen der Auto- und<br />

Luftfahrtindustrie und ihren Vertretern<br />

in der Bundesregierung durchsetzbar.<br />

Das Volksbegehren des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s<br />

ist ein wichtiger Anfang, aktiv zu werden.<br />

Es soll und kann betrieblichen und<br />

gewerkschaftlichen Protest nicht ersetzen.<br />

Die Aktiven des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s stehen<br />

für gemeinsamen Widerstand gegen<br />

die Zerschlagung der S-<strong>Bahn</strong>.<br />

In wessen Interesse öffentliche Betriebe<br />

arbeiten und wer sie leitet und<br />

kontrolliert, ist immer Ausdruck des gesellschaftlichen<br />

Kräfteverhältnisses. Eine<br />

andere S-<strong>Bahn</strong> wird es nur geben, wenn<br />

Beschäftigte und Fahrgäste ihre Geschicke<br />

selbst in die Hand nehmen und dafür<br />

streiten.<br />

Katrin Dornheim ist Betriebsrätin im DB<br />

Konzern und stellv. Vorsitzende des<br />

Ortsverbands <strong>Berlin</strong> der Gewerkschaft EVG.<br />

Lucy Redler ist Mitglied des<br />

Koordinierungskreises des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s<br />

<strong>Berlin</strong>.<br />

Lunapark21·extra 6/2012


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