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S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Krimi</strong> <strong>Berlin</strong><br />
extra<br />
4 Euro // Lunapark21 Extra06 > Frühjahr 2012
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />
gemeinsam mit dem <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, dem Ortsverband der <strong>Berlin</strong>er<br />
Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), dem Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle<br />
und dem Landesverband <strong>Berlin</strong>-Brandenburg von PRO BAHN gibt die<br />
Redaktion von Lunapark21 dieses Extra heraus. Wir wollen damit Mut<br />
machen und Argumente liefern, damit sich möglichst viele Menschen<br />
engagieren und mithelfen, die unhaltbaren Zustände bei der <strong>Berlin</strong>er<br />
S-<strong>Bahn</strong> zu beenden...<br />
Warum kneift mich niemand, warum wache ich nicht einfach auf?<br />
Warum kommt kein Show-down und beim Abspann weiß ich, dass es nur<br />
ein schlechter Film war?<br />
S-<strong>Bahn</strong> fahren in der Filmstadt <strong>Berlin</strong>, arbeiten im „Desaster-System“ S-<br />
<strong>Bahn</strong>. Pleiten, Pech und Pannen als zwangsläufiges Ergebnis eines Fahrens<br />
auf Verschleiß. Die Strategen der <strong>Bahn</strong>privatisierung schrieben das Drehbuch:<br />
Entlassung von Personal, Streckung der Wartungsintervalle, Vernachlässigung<br />
der Infrastuktur, Einfrieren dringend notwendiger Investitionen…<br />
Die Gentlemen bitten zur Kasse, Mord im Orientexpress, Stranger on a Train.<br />
Hunderte Filme spielen in oder an Zügen mit der Faszination der Eisenbahn.<br />
Die lange Anfangsszene in Spiel mir das Lied vom Tod könnte sich<br />
in die Länge ziehen, würde der Film heute an einem beliebigen <strong>Berlin</strong>er<br />
S-<strong>Bahn</strong>hof gedreht.<br />
Ich habe mich durch Hunderte Plakate von Filmen gearbeitet, in denen<br />
Eisenbahnen eine wichtige Rolle spielen. Mit mehr oder weniger montierenden Eingriffen strickte ich aus einigen davon fiktive<br />
Plakate von fiktiven Filmen über die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> (Originale: siehe unten). Ein echter <strong>Krimi</strong> wäre noch zu drehen, ein Wirtschaftskrimi,<br />
in dessen Abspann nicht darauf hingewiesen werden müsste, dass die handelnden Personen frei erfunden und jede<br />
Ähnlichkeit mit lebenden Menschen zufällig und nicht beabsichtigt seien:<br />
„Der gesamte Vorgang (der S-<strong>Bahn</strong>-Krise) hat für mich längst die Qualität eines Wirtschaftskrimis des<br />
größten deutschen Staatsunternehmens. Ich staune auch über unsere Justiz. Man läuft jedem kleinen<br />
Hühnerdieb hinterher, ignoriert jedoch grob fahrlässige Transportgefährdung Tausender Fahrgäste."<br />
Ernst-Otto Constantin, bis 2002 Arbeitsdirektor und mitverantwortlicher Geschäftsführer der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH, in einem Offenen Brief an die damalige<br />
Verkehrssenatorin Junge-Reyer und die Fraktionen im <strong>Berlin</strong>er Abgeordnetenhaus, <strong>Berlin</strong>, 10. Januar 2011<br />
siehe Seite 6<br />
siehe Seite 22 siehe Seite 26 siehe Seite 32<br />
siehe Seite 36 siehe Seite 47 siehe Seite 51 siehe Seite 55
INHALT<br />
VORWORTE<br />
<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> · Wessen Grundrechte?<br />
Klaus Just & Jürgen Kynast (EVG <strong>Berlin</strong>) · Was macht die EVG in der Lunapark?<br />
Dieter Doege (PRO BAHN <strong>Berlin</strong>-Brandenburg) · Sachbezogen; ohne ideologische Debatten<br />
Bernhard Knierim (<strong>Bahn</strong> für Alle) · Oben pfui, unten pfui<br />
Winfried Wolf · <strong>Bahn</strong>privatisierung und S-<strong>Bahn</strong>-Desaster<br />
I. Ein ebenso logischer wie destruktiver Zusammenhang<br />
II. Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />
III. 2009: Der Beginn des Desasters<br />
IV. 2010: Das Desaster als Dauerzustand<br />
V. 2011: Leichte Besserung und alte destruktive Wege<br />
VI. Absolution erster Klasse: Die offizielle Analyse des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters – der Gleiss Lutz-Bericht<br />
VII. Frühjahr 2012: Neues Stadium der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
VII.„Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“ – stimmt das?<br />
Dieter Doege · Welche S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge? Oder: Warum Vielfalt auch Einfalt sein kann<br />
Ein Gespräch zur S-<strong>Bahn</strong>-Krise zwischen Andreas Ballentin, Jörg Kronberg, Jörg Podzuweit und<br />
Bernhard Knierim · „Warum sollte der Reisende sich nicht fühlen, als wenn er mit dem Sofa unterwegs ist?“<br />
Carl Waßmuth · Droht periodisch das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos?<br />
Rouzbeh Taheri · <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, Entstehung und Perspektive<br />
Stellungnahme des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s zur Entscheidung des Senats, das Volksbegehren S-<strong>Bahn</strong> juristisch zu prüfen.<br />
Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen zum Volksbegehren<br />
Katrin Dornheim & Lucy Redler · Perspektiven & Alternativen für die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />
02<br />
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45
2<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Wessen Grundrechte?<br />
Wir würden lügen, würden wir heute<br />
behaupten, wir hätten im März<br />
2011 beim ersten Treffen von interessierten<br />
Aktivistinnen und Aktivisten<br />
gewusst, wie sehr das Volksbegehren<br />
„Rettet unsere S-<strong>Bahn</strong>“ zum politischen<br />
Bezugspunkt für die Bekämpfung des S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Chaos und gegen die Teilprivatisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> werden würde.<br />
Über 30000 <strong>Berlin</strong>er und <strong>Berlin</strong>erinnen<br />
haben das Volksbegehren in der ersten<br />
Stufe unterstützt.<br />
Zu Recht, denn die Pleiten, Pech und<br />
Pannen der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> reißen nicht<br />
ab. Wie wir als Mitherausgeber in diesem<br />
Lunapark21-Extraheft darlegen, liegen<br />
die Gründe dafür in dem Privatisierungskurs<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG und<br />
der Gewinnauspressung der S-<strong>Bahn</strong>.<br />
Der <strong>Berlin</strong>er Senat hat sich entschieden,<br />
das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos mit einer Teilprivatisierung<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Rings und weiterer<br />
Strecken zu beantworten. Der <strong>Berlin</strong>er<br />
S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> hat dargelegt, dass sich<br />
dadurch die Lage nicht verbessern, sondern<br />
erheblich verschlechtern wird. Warum<br />
das so ist und für welche Alternativen<br />
wir eintreten, wird in diesem Heft<br />
ausgeführt.<br />
Kurz vor Drucklegung dieses Heftes<br />
überschlugen sich die Ereignisse: Der<br />
SPD-CDU Senat musste eingestehen,<br />
dass sein Zeitplan für die geplante Aus-<br />
schreibung nicht einzuhalten ist. Er erwägt<br />
eine Verlängerung des Verkehrsvertrags<br />
mit der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG.<br />
Gleichzeitig hat sich der Senat entschieden,<br />
unser Volksbegehren vor dem Landesverfassungsgericht<br />
juristisch „überprüfen“<br />
zu lassen. In einer vierzehnseitigen<br />
Anklageschrift legt der Senat seine<br />
„Argumente“ dar, warum das Volksbegehren<br />
nicht rechtens sei.<br />
Er fährt schweres Geschütz auf. Die<br />
Forderung des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s nach<br />
Offenlegung der Verkehrsverträge verstoße<br />
beispielsweise gegen „Grundrechte,<br />
insbesondere gegen das Recht auf<br />
informationelle Selbstbestimmung.“<br />
Wessen Grundrechte sind hier gemeint?<br />
Sicherlich nicht das Grundrecht<br />
der <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er auf Einsicht<br />
in die Verträge, um zu erfahren,<br />
was mit ihren Steuergeldern passiert. Es<br />
geht auch nicht um die Grundrechte der<br />
Beschäftigten, die Arbeitsbedingungen<br />
zu verbessern.<br />
Gemeint ist das Grundrecht des Managements<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH und<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG, gemeinsam mit<br />
den Regierungen der Länder <strong>Berlin</strong> und<br />
Brandenburg Geheimverträge abschließen<br />
zu dürfen.<br />
Doch der politische Druck, die Verträge<br />
zu veröffentlichen, war zu groß. Kurze<br />
Zeit nach der Verfassung seiner An-<br />
klageschrift gegen das Volksbegehren<br />
sah sich der Senat gezwungen, die Verträge<br />
restlos offen zu legen. Er hatte<br />
Angst sich – ähnlich wie beim Volksbegehren<br />
zur Offenlegung der Wasserverträge<br />
– eine Niederlage einzuhandeln.<br />
Das zeigt, dass politischer Druck erfolgreich<br />
ist und dass wir auf dem richtigen<br />
Weg sind.<br />
Wir werden nicht von unseren Forderungen<br />
abrücken und uns politisch und<br />
juristisch gegen den Versuch des Senats<br />
wehren, die zweite Stufe des Volksbegehrens<br />
mit fadenscheinigen Argumenten<br />
zu verhindern.<br />
Wenn unsere berechtigten Forderungen,<br />
die von Zehntausenden <strong>Berlin</strong>ern<br />
unterstützt werden, angeblich gegen<br />
EU-Verordnungen und die <strong>Berlin</strong>er Verfassung<br />
verstoßen, dann stellen wir die<br />
Frage, wem diese Verordnungen und<br />
Verfassungsparagrafen nützen.<br />
Recht haben ist bekanntlich nicht<br />
gleich Recht bekommen.<br />
Doch bereits in drei ähnlichen Fällen<br />
(Volksbegehren Wasser, Kita und Wahlrecht)<br />
erlitt der Senat eine juristische<br />
Niederlage. Wir sind zuversichtlich, dass<br />
es uns gelingt, unsere politischen und<br />
juristischen Argumente durchzusetzen<br />
und dem Senat eine vierte Niederlage<br />
zuzufügen.<br />
Dadurch wäre noch nicht die Teilprivatisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> verhindert. Die<br />
Deutsche <strong>Bahn</strong> AG würde weiterhin Gewinne<br />
aus der S-<strong>Bahn</strong> herauspressen.<br />
Aber die Ausgangsbedingungen, gegen<br />
Ausschreibung und Privatisierung und<br />
für eine öffentliche <strong>Bahn</strong> zu kämpfen,<br />
wären besser und der politische Druck<br />
gestiegen. Vorbei wäre der Kampf damit<br />
noch lange nicht.<br />
Für den Koordonierungskreis des<br />
S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s:<br />
Bernhard Knierim · Rainer Perschewski<br />
Lucy Redler · Rouzbeh Taheri·<br />
Ulrich Tulatz<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Was macht die EVG in der Lunapark?<br />
Es mag ungewöhnlich erscheinen, den<br />
Ortsverband der <strong>Berlin</strong>er Eisenbahnund<br />
Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die<br />
Betriebsgruppe der S-<strong>Bahn</strong> als Mitherausgeber<br />
dieser Sonderausgabe von<br />
Lunapark 21 zu sehen. „Wir machen<br />
Politik“ – mit diesem Anspruch ist die<br />
2010 durch den Zusammenschluss der<br />
Gewerkschaften TRANSNET und GDBA<br />
gegründete EVG angetreten. Die gesamte<br />
Struktur der EVG wurde vom Kopf auf<br />
die Füße gestellt. Durch die Gründung<br />
von Betriebsgruppen mit neuen Möglichkeiten<br />
der eigenständigen Gewerkschaftsarbeit<br />
ist unsere Struktur wieder<br />
näher an die Mitglieder gerückt. Den<br />
Slogan „Wir machen Politik“ nehmen wir<br />
ernst, gehen neue Wege und sind bereit,<br />
neue Erfahrungen zu sammeln.<br />
Die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> ist zwar „nur“<br />
einer von knapp 60 <strong>Bahn</strong>betrieben in<br />
<strong>Berlin</strong>, aber mit über 3000 Beschäftigten<br />
der größte. Somit ist auch die S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Betriebsgruppe ein Standbein der EVG in<br />
dieser Stadt. Die Diskussionen über die<br />
Probleme der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> werden<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
hoch emotional und mit einer großen<br />
Bandbreite von Meinungen von den <strong>Berlin</strong>ern<br />
geführt. Die Auswirkungen auf die<br />
Fahrgäste und deren Meinung haben für<br />
die Beschäftigten einen hohen Stellenwert,<br />
denn nur zufriedene Kunden garantieren<br />
eine positive Entwicklung des<br />
Betriebes und sichern die Arbeitsplätze.<br />
Auf das Entstehen der heutigen Probleme<br />
haben gerade die Kolleginnen und<br />
Kollegen der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> schon vor<br />
Jahren hingewiesen. Nur wollten weder<br />
<strong>Bahn</strong>management noch Minister, Senatoren<br />
oder Abgeordnete etwas davon<br />
hören. Die Probleme haben letztlich ihre<br />
Ursache in der Privatisierungspolitik.<br />
Diese hat das komplexe System <strong>Bahn</strong> ins<br />
Wanken gebracht. Daher stehen als Verantwortliche<br />
für uns nicht nur das<br />
<strong>Bahn</strong>management mit seinem von wirtschaftlichen<br />
Kennzahlen getriebenen<br />
Führungssystem im Fokus der Kritik,<br />
sondern auch die Politik der jeweiligen<br />
Bundesregierung und des <strong>Berlin</strong>er Senats<br />
sowie die Industrie. Wer hat die so genannte<br />
<strong>Bahn</strong>reform beschlossen? Wer<br />
hat gefordert, die „Aufsichten“ auf den<br />
S-<strong>Bahn</strong>höfen abzuschaffen? Wer, wenn<br />
nicht der Eigentümer, ist in der Lage, den<br />
Auftrag des <strong>Bahn</strong>managements zu<br />
ändern? Derzeit läuft die vom Senat betriebene<br />
Politik und die Untätigkeit des<br />
Eigentümers Bund, auf eines hinaus:<br />
Zerschlagung der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> durch<br />
Teilausschreibungen. Die Leidtragenden<br />
dieser Politik sind – neben den Fahrgästen<br />
– in erster Linie die Beschäftigten<br />
und ihre Familien, und zwar nicht nur<br />
diejenigen der S-<strong>Bahn</strong>, sondern auch<br />
weiterer <strong>Bahn</strong>betriebe, die Aufträge der<br />
S-<strong>Bahn</strong> erfüllen. Das wird Auswirkungen<br />
auf die Beschäftigungssituation in unserer<br />
Stadt haben und das Chaos auf dem<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Netz durch die Zersplitterung<br />
vergrößern.<br />
Vor diesem Hintergrund haben wir uns<br />
entschieden, neue Wege zu gehen. Die<br />
Zusammenarbeit im S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, mit<br />
Fahrgastverbänden, Initiativen, Vereinen<br />
und Parteien führt dazu, die eigene Posi-<br />
Vorworte<br />
tion zu hinterfragen. Auch wenn die vorliegende<br />
Ausgabe von Lunapark21 nicht<br />
zu 100 Prozent unseren Ansichten oder<br />
gar der Beschlusslage der EVG entspricht,<br />
spiegelt sie Meinungen und Diskussionen<br />
zum Thema wider und ist ein<br />
wertvoller Beitrag dazu, alles auf eine<br />
sachliche Ebene zu stellen und Perspektiven<br />
zu entwickeln. Viele Mitglieder der<br />
<strong>Berlin</strong>er EVG waren an der Entstehung<br />
beteiligt. Mögliche Schlussfolgerungen<br />
sind jedem selbst überlassen.<br />
Die Diskussionen und Aktivitäten waren<br />
für uns eine neue Erfahrung, aus der<br />
wir vieles gelernt haben. Diesen Weg<br />
wollen wir weitergehen. Die Diskussionen<br />
haben aber auch gezeigt, dass unsere<br />
Bündnispartner viele neue Erkenntnisse<br />
gewinnen konnten. Es ist schon etwas<br />
anderes, ob – wie leider oft üblich –<br />
über eine Gewerkschaft geredet wird,<br />
oder ob mit Kolleginnen und Kollegen,<br />
die unsere Gewerkschaft ausmachen,<br />
gesprochen wird. Wir denken, dass dies<br />
für alle Partner produktiv war. Unseres<br />
Erachtens erfordert die aktuelle Situation,<br />
in Zukunft öfter Allianzen jenseits<br />
der klassischen Verbündeten zu schmieden.<br />
WIR können es nur empfehlen.<br />
Viel Spaß beim Lesen wünschen<br />
Klaus Just – Vorsitzender EVG-Ortsverband<br />
Jürgen Kynast – Vorsitzender EVG-<br />
Betriebsgruppe<br />
3
4<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Sachbezogen; ohne ideologische Debatten<br />
Nach durchaus reiflicher Überlegung<br />
hatte sich der PRO BAHN-Landesverband<br />
<strong>Berlin</strong>/Brandenburg im vergangenen<br />
Jahr entschlossen, der Arbeitsgemeinschaft<br />
S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> beizutreten.<br />
Nach Meinung unseres damaligen<br />
Bundesvorsitzenden und unseres Bundessprechers<br />
würden sich hieran auch<br />
„extremistische Parteien“ beteiligen.<br />
Unser Bundesverband glaubte deutlich<br />
machen zu müssen, dass wir „ohne<br />
Wenn und Aber fest zur freiheitlich<br />
demokratischen Grundordnung des<br />
Grundgesetzes“ stünden*.<br />
Stehen wir als PRO BAHN-Landesverband<br />
nicht zur freiheitlich demokratischen<br />
Grundordnung, wenn wir uns für<br />
das Anliegen des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s engagieren?<br />
Insoweit war ich schon auf diese angeblichen<br />
„Extremisten“ des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Tisch</strong>s gespannt, denen ich am 1. März<br />
2012 einen Vortrag zur <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>,<br />
ihren Fahrzeugen und den möglichen<br />
Zukunftsperspektiven zu halten hatte.<br />
Der etwa zweistündige Abend in dem<br />
bis auf den letzten Platz belegten Saal<br />
entpuppte sich als höchst sachbezogene<br />
Veranstaltung ohne jegliche ideologische<br />
Debatten. Na ja, nicht ganz, es kamen<br />
schon Fragen nach dem Sinn bestimmter<br />
Veränderungen in unserer Bundesrepublik<br />
auf. So ertappe ich mich seither<br />
immer wieder bei meiner Überlegung,<br />
worin der Vorteil liegen könnte, dass ich<br />
seit der Privatisierung der Post meine<br />
Briefe von fünf verschiedenen Postzustellfirmen<br />
erhalte.<br />
Bei den verschiedenen S-<strong>Bahn</strong>-Themen<br />
haben mich die dort vorgebrachten<br />
Argumente auf Anhieb und in jeder Beziehung<br />
überzeugt. Was soll man beispielsweise<br />
besorgten S-<strong>Bahn</strong>-Mitarbeitern<br />
vorhalten, die vor dem S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Desaster gegen ihre eigene Überzeugung<br />
daran gehindert wurden, ihre als Pflichtaufgabe<br />
empfundenen Wartungsarbeiten<br />
in vollem Umfang weiterzuführen?<br />
Unser Bundesverband kannte die Antwort<br />
– den Ausweg aus der <strong>Berlin</strong>er S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise – schon lange vorher: „Wir<br />
wollen, dass die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> nach<br />
modernen Maßgaben zu Qualität,<br />
Sicherheit und Mitarbeiterstandards<br />
ausgeschrieben wird. ... Eine Rückverstaatlichung<br />
in eine Behörde, eine Anstalt<br />
öffentlichen Rechts oder einen<br />
sonstigen Rechtskörper können wir aufgrund<br />
der überwiegend negativen Erfahrungen<br />
in der Vergangenheit nicht befürworten.<br />
<strong>Berlin</strong> braucht endlich wieder<br />
eine moderne S-<strong>Bahn</strong>, die den Kunden<br />
dient und die fährt und funktioniert. Und<br />
dieses ohne irgendeine ideologische Brille.<br />
Das Ergebnis wird zählen und nicht<br />
die ideologische Prämisse.“<br />
Habe ich da irgendetwas falsch in<br />
Erinnerung?<br />
Fuhr die elektrische S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> –<br />
einmal abgesehen von den letzten<br />
Kriegswochen und den ersten Wochen<br />
nach Kriegsende – nicht über hundert<br />
Jahren lang weitgehend unbeeinträchtigt<br />
durch sämtliche Staats- und Verwaltungsformen?<br />
Befand sie sich nicht<br />
mindestens ein Dreivierteljahrhundert<br />
lang in einer Behörden-ähnlichen, jedenfalls<br />
immer staatlichen Organisationsform?<br />
Sie fuhr dabei gleichermaßen<br />
gut durch Reichsbahn- und Deutsche<br />
<strong>Bahn</strong> Ära – eben bis zu jenem Zeitpunkt,<br />
als die Deutsche <strong>Bahn</strong> AG vor knapp<br />
einem Jahrzehnt auf Börsenkurs ging<br />
und dabei die S-<strong>Bahn</strong> – wie andere Teile<br />
des Konzerns – in diesem Kontext zu<br />
einer lukrativen Geldproduktionsgenossenschaft<br />
umzuwidmen versuchte.<br />
Nun sieht der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
seine Aufgabe darin, die unheilvolle Entwicklung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> durch aufklärerische<br />
Sacharbeit vor Ort, durch Mobilisierung<br />
der <strong>Berlin</strong>er Bevölkerung und durch<br />
den stets unerlässlichen politischen<br />
Druck zu stoppen. Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> will<br />
die S-<strong>Bahn</strong> wieder zu dem zu machen,<br />
was sie einmal war und wofür sie von<br />
den <strong>Berlin</strong>ern geliebt wurde: das attraktive,<br />
dem Auto gegenüber konkurrenzfähige,<br />
gern genutzte und zuverlässige<br />
Beförderungsmittel der Bundeshauptstadt<br />
<strong>Berlin</strong>.<br />
Als <strong>Berlin</strong>er und brandenburgischer<br />
Fahrgastverband finden wir das Vorhaben<br />
des <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s in jeder<br />
Beziehung unterstützenswert und hoffen<br />
auf den notwendigen Erfolg bei der<br />
Rückkehr zu einem funktionierenden S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Betrieb.<br />
* In einer von Karl-Peter Naumann als<br />
Bundesvorsitzender und Matthias Oomen als<br />
Bundessprecher unterzeichneten Presseerklärung<br />
des PRO BAHN-Bundesvorstands vom<br />
27. Juni 2011 wurden „extremistische Parteien“<br />
als Teil des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es ausgemacht und<br />
dazu formuliert: „Der PRO BAHN<br />
Bundesverband möchte an dieser Stelle deutlich<br />
machen, dass es keine Gemeinsamkeiten<br />
mit Verfassungsfeinden von rechts oder links<br />
gibt und geben kann. Diese Parteien werden<br />
vom Verfassungsschutz des Bundesrepublik<br />
Deutschland beobachtet und in Teilen als<br />
extremistisch eingestuft. Der Fahrgastverband<br />
PRO BAHN arbeitet nicht mit antidemokratischen<br />
Kräften zusammen und steht hingegen<br />
ohne Wenn und Aber fest zur freiheitlich<br />
demokratischen Grundordnung des<br />
Grundgesetzes und zur Werte- und<br />
Vertragsgemeinschaft der Europäischen<br />
Union.“<br />
Dieter Doege<br />
Vorsitzender des PRO BAHN Landesverbandes<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburg e. V.<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Oben pfui, unten pfui<br />
Das Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle setzt sich<br />
seit 2005 aktiv gegen eine Privatisierung<br />
der <strong>Bahn</strong> ein. Eines unserer zentralen<br />
Argumente gegen die Privatisierung<br />
war von Anfang an die Befürchtung,<br />
dass eine privatisierte <strong>Bahn</strong> an der<br />
Substanz sparen und den <strong>Bahn</strong>verkehr<br />
damit unsicherer und unzuverlässiger<br />
machen würde. Unter <strong>Bahn</strong>chef Hartmut<br />
Mehdorn war das Kosteneinsparen<br />
oberstes Gebot, denn er wollte das<br />
Unternehmen um jeden Preis „fit für die<br />
Börse“ machen. Die Folgen dieses Kurses<br />
wurden spätestens am 9. Juli 2008 deutlich,<br />
als es in Köln zum Achsbruch an<br />
einem ICE kam – zum Glück bei niedriger<br />
Geschwindigkeit. Dieser Bruch hätte<br />
fast zu einem zweiten Eschede geführt,<br />
wäre er nur eine halbe Stunde früher<br />
wirksam geworden, als der Zug bei 300<br />
km/h von Frankfurt nach Köln fuhr.<br />
Dabei war die <strong>Bahn</strong>spitze von höchst<br />
kompetenter Seite gewarnt worden, dass<br />
die neu entwickelten Radsatzwellen<br />
nicht dauerfest waren. Dennoch wurden<br />
unter Führung des damaligen <strong>Bahn</strong>chefs<br />
Hartmut Mehdorn die Wartungs- und<br />
Kontrollintervalle „gespreizt“: Statt alle<br />
60000 km wurden die Achsen nur noch<br />
alle 300000 km überprüft – um ein Haar<br />
hätte dies tödliche Folgen gehabt. Die<br />
DB tat unter massiver Gefährdung von<br />
Fahrgästen und Beschäftigten wochenlang<br />
alles dafür, um die wahren Gründe<br />
für den Achsbruch zu verschleiern und<br />
den Börsengang im Herbst nicht zu gefährden.<br />
Der Börsengang scheiterte dann<br />
zum Glück doch – angeblich aufgrund<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
des Börsencrashs, in Wahrheit jedoch<br />
auch aufgrund des immer deutlicher<br />
werdenden Umfangs der Wartungsmängel.<br />
Aber nicht nur die nicht dauerfesten<br />
Achsen zeigen, wie seit Jahren an der<br />
Substanz gespart wird. Auch die massiven<br />
Verspätungen (laut unabhängigen<br />
Überprüfungen durch die Stiftung Warentest<br />
sind nicht einmal zwei Drittel der<br />
Fernzüge pünktlich) und das inzwischen<br />
regelmäßige „Winterchaos“ mit Ausfällen<br />
zahlreicher Züge und stundenlangen<br />
Verspätungen, das uns 2011/2012 vor<br />
allem deshalb erspart blieb, weil es kaum<br />
einen Winter gab, sind Folgen dieser Politik.<br />
Im Zuge der Sparorgien wurden<br />
aber auch massiv <strong>Bahn</strong>strecken und Service<br />
abgebaut – der falsche Kurs für eine<br />
zukunftsfähige <strong>Bahn</strong>. Diese fatale Orientierung<br />
der DB haben wir im Alternativen<br />
Geschäftsbericht der DB AG (Lunapark21,<br />
Extra 05) ausführlich dargestellt.<br />
Wir werden dies auch im neuen Alternativen<br />
Geschäftsbericht Deutsche <strong>Bahn</strong><br />
AG 2011, der im Sommer 2012 in gedruckter<br />
Form erscheint, dokumentieren.<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> wurde ebenfalls<br />
Mehdorns Spardiktat unterworfen, mit<br />
ähnlichen Folgen: Auch in <strong>Berlin</strong> gab es<br />
einen Achsbruch (am 1.5.2009 in Kaulsdorf),<br />
der zum Glück glimpflich ablief,<br />
jedoch die Aufmerksamkeit auf die mangelhafte<br />
Wartung richtete. Danach wurden<br />
immer weitere Mängel deutlich, die<br />
die S-<strong>Bahn</strong> aufgrund des massiven Personalabbaus<br />
nicht mehr beheben konnte.<br />
Schließlich musste ein Großteil der<br />
Züge stillgelegt werden, und der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Verkehr brach in der Folge fast<br />
komplett zusammen. Seitdem kommt es<br />
immer wieder zu massiven Problemen,<br />
die mit den Sparmaßnahmen zusammenhängen.<br />
Damit ist die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
quasi ein Modell im Kleinen dafür, was<br />
beim Mutterkonzern DB AG schief läuft<br />
und wie sich der Privatisierungskurs auswirkt.<br />
Eben: oben wie unten pfui!<br />
Das Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle fordert eine<br />
<strong>Bahn</strong> in öffentlicher Hand, die sich am<br />
Vorworte<br />
Gemeinwohl orientiert und nicht am<br />
Profit – und damit gleichzeitig auch eine<br />
öffentliche S-<strong>Bahn</strong>. Der „Wettbewerb im<br />
Schienenverkehr“, wie er von einigen<br />
propagiert wird, führt nicht zu Einsparungen<br />
und besserer Qualität. Das beweist<br />
nicht zuletzt das Beispiel Großbritannien<br />
mit seinem komplett liberalisierten<br />
Schienenverkehr, der im Vergleich<br />
zum rein öffentlichen System der<br />
Schweiz fast doppelt so teuer ist – bei<br />
deutlich schlechterer Qualität. Wir sollten<br />
aus den Erfahrungen unserer Nachbarn<br />
lernen und uns an der Schweiz und<br />
nicht an Großbritannien orientieren: für<br />
einen zuverlässigen und sicheren <strong>Bahn</strong>verkehr<br />
nicht nur in <strong>Berlin</strong>, sondern im<br />
ganzen Land, der immer mehr Menschen<br />
überzeugt, auf die <strong>Bahn</strong> als ökologischstes<br />
Verkehrsmittel umzusteigen.<br />
Für das Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle<br />
Bernhard Knierim<br />
5
6<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Die Gang vom Potsdamer Platz:<br />
Die Gang vom Potsdamer Platz in:<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Dennoch bleibt die S-<strong>Bahn</strong> ein Top-Thema<br />
für Hunderttausende Menschen in<br />
<strong>Berlin</strong> und Brandenburg. Dieses Verkehrsmittel<br />
befördert auch heute noch<br />
an jedem Werktag mehr als eine Million<br />
Menschen. Und wenn die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
im Verlauf ihrer nun fast dreijährigen<br />
Krise keinen größeren Verlust an Fahrgästen<br />
zu verzeichnen hatte, so liegt das<br />
einerseits daran, dass die meisten S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Nutzer auf dieses Verkehrsmittel<br />
angewiesen sind – und andererseits<br />
auch daran, dass die Menschen in und<br />
um <strong>Berlin</strong> von der S-<strong>Bahn</strong> überzeugt<br />
sind, diese vielfach lieben oder dabei<br />
sind, dann eine Hassliebe zu entwickeln,<br />
wenn die S-<strong>Bahn</strong>stationen Schöneberg<br />
zum Stöhneberg und der Botanische<br />
Garten zum Botanischen Warten werden.<br />
Kein anderes Verkehrsmittel prägte<br />
<strong>Berlin</strong> so stark wie die S-<strong>Bahn</strong> – und<br />
dies seit mehr als einem Dreivierteljahrundert.<br />
1 Dabei zählte die Straßenbahn<br />
vor dem Zweiten Weltkrieg und bis in<br />
die 1950er Jahre hinein mehr Fahrgäste<br />
als die S-<strong>Bahn</strong>. Sie erwies sich jedoch als<br />
krisenanfälliger als die S-<strong>Bahn</strong> und erlebte<br />
zwischen 1927 und 1933 einen<br />
Einbruch ihrer Fahrgastzahlen um mehr<br />
als 50 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
wurde die Tram im Westteil der<br />
Stadt völlig „aus dem Verkehr gezogen“<br />
oder auch, um nochmals die Eisenbahn-<br />
Sprache zu bemühen, „zur Strecke gebracht“.<br />
Leider gelang es selbst nach der<br />
Wende nicht, die Straßenbahn im Westteil<br />
wieder zu einem Massenverkehrsmittel<br />
und zum Rückgrat des öffentli-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
chen Verkehrs zu machen. Die S-<strong>Bahn</strong><br />
jedoch erlebte ab Beginn der 1990er<br />
Jahre eine erstaunliche Renaissance. Die<br />
Fahrgastzahlen verdoppelten sich von<br />
jährlich rund 200 Millionen Anfang der<br />
1990er Jahre auf knapp 400 Millionen<br />
kurz vor Ausbruch der offenen S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Krise 2009. Dabei muss man sich vor<br />
Augen halten, was in <strong>Berlin</strong> einmal an<br />
öffentlichem Verkehr veranstaltet wurde:<br />
1928 wurden in <strong>Berlin</strong>s öffentlichen<br />
Verkehrsmittel knapp zwei Milliarden<br />
Fahrgäste gezählt – fast doppelt so viel<br />
wie heute; die S-<strong>Bahn</strong> brachte es in diesem<br />
Jahr auf 470 Millionen und 1943<br />
auf 750 Millionen Fahrgäste – also auf<br />
erheblich mehr Fahrgäste, als vor der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise mit diesem Verkehrsmittel<br />
verkehrten.<br />
Die 2009 offen ausgebrochene S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise wird oft zu Recht mit der Situation<br />
am Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
verglichen. Selbst am 25. April 1945, als<br />
die Rote Armee im Begriff war, die<br />
faschistische Herrschaft endgültig zu<br />
beseitigen und die deutsche Hauptstadt<br />
zu erstürmen, waren von den damals<br />
vorhandenen 1118 sogenannten S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Viertelzügen 267 einsatzfähig. Also ein<br />
Viertel. Torsten Hampel zog in der Zeit<br />
die Parallele zur gegenwärtigen S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Krise: „Dass der Verkehr trotzdem am<br />
selben Tag, dem 25. April 1945, eingestellt<br />
wurde, lag nicht an den Kriegszerstörungen,<br />
sondern am Kohlemangel, es<br />
gab keinen Strom mehr. Im September<br />
2009 fuhren von 630 Viertelzügen noch<br />
163 – 25,87 Prozent. Ohne Beschuss und<br />
Rote Armee.“ 2<br />
S-<strong>Bahn</strong> Desaster<br />
I. <strong>Bahn</strong>privatisierung und S-<strong>Bahn</strong>-Desaster<br />
Ein ebenso logischer wie destruktiver Zusammenhang<br />
Winfried Wolf<br />
Im Januar 2011 nannten in einer repräsentativen Umfrage in <strong>Berlin</strong> 21<br />
Prozent „die S-<strong>Bahn</strong>“ als „das wichtigste Problem“ in der Hauptstadt –<br />
noch vor der Arbeitslosigkeit (18 %), der Bildungsmisere (15 %), der „wirtschaftlichen<br />
Lage“ (8 %) und „sozialer Ungerechtigkeit“ (7 %). In den vergangenen<br />
Monaten dürften sich die Gewichte wieder zugunsten der<br />
sozialen Themen verschoben haben und die S-<strong>Bahn</strong> mehr in den Hintergrund<br />
getreten sein. Dazu trug auch eine zeitweilige Entspannung bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> und ein wieder eher regelmäßiger Betrieb bei diesem Verkehrsmittels<br />
bei.<br />
Apropos Viertelzüge. Diese „Maßeinheit“<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> wird uns in dieser<br />
Publikation noch öfters begegnen;<br />
sie wird in der <strong>Berlin</strong>er Presse und in den<br />
übrigen Medien, insbesondere in S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krisen-Zeiten wie diesen, gelegentlich<br />
wie selbstverständlich erwähnt,<br />
obgleich auch viele <strong>Berlin</strong>erinnen und<br />
<strong>Berlin</strong>er kaum korrekt definieren können,<br />
um was es sich hier genau handelt. Im<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Klartext: Ein Viertelzug ist die<br />
kleinste S-<strong>Bahn</strong>-Zugeinheit; sie besteht<br />
aus einem Trieb- und einem Steuerwagen.<br />
Zwei Viertelzüge bilden einen Halbzug,<br />
drei Viertelzüge einen Dreiviertelzug<br />
und vier Viertelzüge einen Ganzzug.<br />
Doch grau ist jede Theorie. Die außerordentlich<br />
bunte Praxis der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
seit 2009 führte dazu, dass Hunderttausende<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Fahrgäste in <strong>Berlin</strong> und<br />
Brandenburg zwei dieser kleinsten Zugeinheiten<br />
– zwei Viertelzüge oder einen<br />
„Halbzug“ – auf dem Höhepunkt der S-<br />
<strong>Bahn</strong>krise, also auf den Tiefpunkten der<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Wagen-Verfügbarkeit wiederholt<br />
verkehren sahen – so im Juli 2009,<br />
im September und Dezember desselben<br />
Jahres und im Januar 2011.<br />
Wenn es Ende April 1945 ein Krieg<br />
war, der die Verfügbarkeit der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Viertelwagen auf ein Viertel des Gesamtbestand<br />
reduziert hatte, was war<br />
dann der Grund dafür, dass in der jüngsten<br />
– und in der in dieser Form ERSTEN!<br />
– S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009 und 2010 zeitweilig<br />
ähnlich wenige S-<strong>Bahn</strong>-Viertelzüge<br />
für den Einsatz im Verkehr zur Verfügung<br />
standen? Klar doch – ebenfalls ein<br />
Krieg: Der Krieg, den der Profit dem<br />
7
8<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
„<strong>Berlin</strong>er! Schützt eure S-<strong>Bahn</strong>!“<br />
Im Jahr 2005 waren die ersten Folgen der Sparmaßnahmen, die die Konzernzentrale<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> aufzwingen wollte, spürbar bzw. absehbar. Daraufhin entwickelte<br />
der damalige Betriebsrat der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH mit seinem Betriebsratsvorsitzenden<br />
Andreas Tannhäuser eine Kampagne unter der Parole „<strong>Berlin</strong>er!<br />
Schützt Eure S-<strong>Bahn</strong>“. Im Mittelpunkt stand der Widerstand gegen den Abzug des<br />
Personals auf den S-<strong>Bahn</strong>höfen. Bereits damals wurde seitens der S-<strong>Bahn</strong>-Geschäftsführung<br />
das Ziel aufgestellt, von den 165 S-<strong>Bahn</strong>höfen 21 zu sogenannten<br />
„Stammbahnhöfen“ zu machen. Diese sollten – jedenfalls zunächst – weiter mit<br />
Personal besetzt sein. Die übrigen <strong>Bahn</strong>höfe sollten kein Personal mehr haben.<br />
Dieser Plan musste später – auch wegen der S-<strong>Bahn</strong>krise und wegen Kritik des<br />
Eisenbahn-Bundesamtes an technischen Aspekten der personalfreien <strong>Bahn</strong>höfe –<br />
aufgegeben bzw. zeitlich aufgeschoben werden. Siehe die aktuelle S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
2012 (Seite 18).<br />
Die Forderungen der damaligen Kampagne des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebsrats sind höchst<br />
aktuell. Sie lauteten:<br />
• Erhalt und Sicherung der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> als ganzheitliches und eigenständiges<br />
Nahverkehrsunternehmen<br />
• Besetzung aller <strong>Bahn</strong>höfe und Fahrkartenausgaben mit Personal der S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH<br />
• Erhalt aller Werkstätten und Wiedereröffnung der geschlossenen Außenstellen<br />
• Verkürzung der Wartungs- und Reinigungsintervalle für die Züge der <strong>Berlin</strong>er S-<br />
<strong>Bahn</strong><br />
• Erweiterung des Angebots für die Kunden<br />
• Erhalt und Erweiterung der Ausbildungsstätte bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />
• Einsatz aller Regionalisierungsmittel ausschließlich für den ÖPNV<br />
• Sozialverträgliche Fahrpreise<br />
Es wurde eine Serie bunter A4-Flugblätter zu einzelnen Themen der Sparpolitik<br />
entwickelt. Auf einem dieser Flugblätter hieß es: „<strong>Berlin</strong>er bluten für den Börsengang!<br />
Die DB AG will sich auf Kosten ihrer Tochter – der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH –<br />
börsenfein machen. Zu diesem Zweck wird ein gesunder Betrieb gezwungen, Takte<br />
auszudünnen und Züge zu kürzen (…) Wartungsintervalle zu verlängern und<br />
Werkstätten aufzugeben, Personal durch Rufsäulen und Automaten zu ersetzen,<br />
Ausbildung zurückzufahren und die Fahrpreise zu erhöhen.“<br />
Für die Kampagne wurden 44325 Unterschriften in der Bevölkerung gesammelt<br />
und dem <strong>Berlin</strong>er Senat übergeben. Keiner kann sagen, die Öffentlichkeit sei nicht<br />
informiert und vor der bald offen ausbrechenden S-<strong>Bahn</strong>-Krise gewarnt worden.<br />
Die Kritik an diesen Sparmaßnahmen wurde damals bereits deutlich in den<br />
Zusammenhang mit der Orientierung der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG auf einen Börsengang<br />
gestellt.<br />
Mensch erklärt hatte, der Krieg, der mit<br />
der Orientierung auf den Börsengang der<br />
<strong>Bahn</strong> den Fahrgästen der <strong>Bahn</strong> im allgemeinen<br />
und den S-<strong>Bahn</strong>-Fahrgästen im<br />
besonderen erklärt wurde.<br />
Nach der Wiedervereinigung von<br />
West- und Ostdeutschland kam es zur<br />
Wiedervereinigung von Deutscher Bundesbahn<br />
und Deutscher Reichsbahn. Was<br />
da geographisch und hinsichtlich der<br />
Bevölkerung zusammenwuchs und zusammengehörte,<br />
wurde durchaus sinn-<br />
voll ergänzt durch die Vereinigung von<br />
Reichsbahn-S-<strong>Bahn</strong> und BVG-S-<strong>Bahn</strong>,<br />
zu der es 1994 kam. 3 Dass die im Januar<br />
1994 neu gebildete Deutsche <strong>Bahn</strong> AG<br />
als Zusammenschluss von Reichsbahn<br />
und Bundesbahn die S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Berlin</strong><br />
zugeteilt erhielt, machte solange Sinn,<br />
wie das vereinte Eisenbahnunternehmen<br />
die Entwicklung des Schienenverkehrs<br />
im allgemeinen und die Interessen der<br />
Fahrgäste im besonderen als seine zentralen<br />
Zielsetzungen erkannte. Mit dem<br />
im Dezember 1993 neu ins Grundgesetz<br />
eingefügten Artikel 87e wurde versucht,<br />
dies zu verankern. 4 Solange es eine solche<br />
Bindung der Deutschen <strong>Bahn</strong> an<br />
allgemeine Interessen gab, war es auch<br />
akzeptabel, dass die S-<strong>Bahn</strong> der neu gegründeten<br />
DB AG gleichsam geschenkt<br />
wurde – einschließlich vieler wertvoller<br />
Immobilien, die sich im Besitz der S-<br />
<strong>Bahn</strong> befunden hatten.<br />
Es ist heute müßig darüber zu streiten,<br />
inwieweit bereits die <strong>Bahn</strong>reform<br />
der Jahre 1993/94 auf eine nicht nur<br />
formelle, sondern auch materielle <strong>Bahn</strong>privatisierung<br />
abzielte. Eine Reihe von<br />
<strong>Bahn</strong>fachleuten gingen damals bereits<br />
davon aus. 5 Spätestens Ende der 1990er<br />
Jahre und mit Antritt von Hartmut Mehdorn<br />
als neuem Vorstandsvorsitzenden<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG orientierte sich<br />
die Deutsche <strong>Bahn</strong> erkennbar nicht an<br />
den Interessen der Allgemeinheit, sondern<br />
eindeutig an dem Ziel einer Profitmaximierung,<br />
konkretisiert mit einem<br />
Börsengang, also mit der auch materiellen<br />
Privatisierung des Schienenunternehmens.<br />
Diese Politik konnte das<br />
Management eines zu 100 Prozent in<br />
Bundeseigentum befindlichen Unternehmens<br />
natürlich nur verfolgen, solange<br />
diese durch die jeweiligen Bundesregierungen<br />
unterstützt wurde. Das war bei<br />
den SPD-Grünen Regierungen 1998 bis<br />
2005 ebenso der Fall wie bei der CDU/<br />
CSU-SPD-Regierung in den Jahren 2005<br />
bis 2009. Entsprechend wurde der<br />
<strong>Bahn</strong>börsengang vorangetrieben. Entsprechend<br />
hatte dies handfeste Auswirkungen<br />
auf die S-<strong>Bahn</strong> in <strong>Berlin</strong>.<br />
Die Rationalisierungsprogramme bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>, die es seit 2002 gab<br />
und die sich mal „Qualify & Qualify Plus<br />
Portfolio“ und mal „OSB – Optimierung<br />
S-<strong>Bahn</strong>“ nannten, sollten erklärtermaßen<br />
die Ausgangsbedingungen für den<br />
Börsengang der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG<br />
schaffen beziehungsweise diese verbessern.<br />
So heißt es in einer Broschüre zur<br />
Rationalisierung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>: „Wir<br />
wollen die <strong>Bahn</strong> kapitalmarktfähig<br />
machen.“<br />
Damit wurde der Krieg Profit gegen<br />
Allgemeininteresse und Börse gegen<br />
Fahrgast erklärt. Es ist kein Zufall, dass<br />
die Grundlagen für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise in<br />
<strong>Berlin</strong> genau in den Jahren und Monaten<br />
gelegt wurden, als die Deutsche <strong>Bahn</strong><br />
Lunapark21·extra 6/2012
AG und die jeweiligen Bundesregierungen<br />
unter dem Kanzler Gerhard Schröder<br />
beziehungsweise unter der Kanzlerin<br />
Angela Merkel mit aller Macht den<br />
<strong>Bahn</strong>börsengang vorantrieben. Das erfolgte<br />
in den Jahren 2003 bis 2008. Bereits<br />
2005 war der Zusammenhang zwischen<br />
dem Börsengang und der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Krise erkennbar – siehe den Kasten auf<br />
Seite 8 zur Kampagne des damaligen S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Betriebsrates. Allerdings war der<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Betriebsrat damals ein einsamer<br />
Rufer in der Wüste – ebenso wie das zu<br />
diesem Zeitpunkt neu gegründete Bündnis<br />
<strong>Bahn</strong> für Alle. Noch im Mai 2008<br />
fasste der Deutsche Bundestag einen bis<br />
heute relevanten Beschluss, wonach so<br />
bald als möglich die neu gebildete Subholding<br />
des DB Konzerns, die DB ML AG,<br />
bis zu 24,9 Prozent an private Investoren<br />
verkauft werden sollte. Da bei DB ML der<br />
Schienenfernverkehr (DB Fernverkehr),<br />
der Schienennahverkehr einschließlich<br />
der S-<strong>Bahn</strong>en (DB Regio), der Schienengüterverkehr<br />
(DB Schenker Railion) und<br />
die internationalen Aktivitäten des<br />
<strong>Bahn</strong>konzerns (Schenker und Arriva) gebündelt<br />
sind, orientiert dieser bis heute<br />
gültige Beschluss des Bundestags auf die<br />
Teilprivatisierung des gesamten Schienenverkehrs.<br />
Es war Peter Ramsauer, der<br />
damalige Vorsitzender der CSU-Landesgruppe<br />
im Deutschen Bundestag, der<br />
sich in besonderer Weise für diesen Bundestagsbeschluss<br />
und für einen <strong>Bahn</strong>börsengang<br />
engagierte.<br />
Derselbe Peter Ramsauer formulierte<br />
dann auf dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Krise in <strong>Berlin</strong>, als eine Kritik am <strong>Bahn</strong>börsengang<br />
opportun geworden war,<br />
zutreffend wie folgt: „Um die hohen<br />
Renditeforderungen des Mutterkonzerns<br />
DB zu erfüllen, haben die dienstbeflissenen<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Manager ihren Laden ausgepresst<br />
wie eine Zitrone – auf Kosten<br />
der Sicherheit und des Services.“ 6<br />
Wobei es natürlich nicht primär die<br />
„S-<strong>Bahn</strong>-Manager“, sondern die Top-<br />
Manager der Konzernspitze waren, die<br />
diese Politik betrieben hatten – unterstützt<br />
durch die jeweiligen Bundesregierungen<br />
und Herrn Ramsauer selbst.<br />
<strong>Berlin</strong> ist eine Stadt, in der auch heute<br />
noch die Hälfte der Haushalte über<br />
kein Auto verfügt. Damit dürften rund<br />
40 Prozent der Menschen im führerscheinbefähigten<br />
Alter, also der Erwach-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
senen, kein Auto haben. Rechnet man<br />
auch die Menschen im Alter von sechs<br />
bis 17 Jahren mit ein, dann dürfte in<br />
<strong>Berlin</strong> tatsächlich rund die Hälfte der<br />
Menschen, für die Mobilität ein hohes<br />
Gut ist, nicht über einen Pkw zur Bewältigung<br />
ihrer Alltagsmobilität verfügen.<br />
Diese Menschen sind auf ihre Füße, auf<br />
Fahrradpedale und auf die öffentlichen<br />
Verkehrsmittel angewiesen. Es gibt in<br />
Deutschland keine andere Stadt, in der<br />
es derart günstige Bedingungen für eine<br />
zukunftsfähige Verkehrspolitik geben<br />
würde.<br />
Die bisherigen Regierungen auf Bundesebene<br />
und in der Stadt <strong>Berlin</strong> selbst,<br />
erwiesen sich als unfähig, eine solche<br />
zukunftsfähige und notwendige Verkehrs-<br />
und <strong>Bahn</strong>politik umzusetzen.<br />
Offensichtlich wird eine solche dringend<br />
erforderliche Politik der Verkehrswende<br />
S-<strong>Bahn</strong> Desaster<br />
nur dann Erfolg haben, wenn sie von<br />
unten kommt: von den Menschen vor<br />
Ort, von den Beschäftigten im öffentlichen<br />
Verkehr, bei der <strong>Bahn</strong>, unterstützt<br />
von Umweltorganisationen und Verkehrsinitiativen.<br />
Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> in <strong>Berlin</strong> und die<br />
Initiative für ein Volksbegehren zum<br />
Erhalt einer fahrgastfreundlichen S-<br />
<strong>Bahn</strong> sind der Versuch, eine Bewegung<br />
von unten und aus der Bevölkerung zur<br />
Rettung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> zustande zu<br />
bekommen.<br />
Winfried Wolf ist Chefredakteur von<br />
Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen<br />
Ökonomie und Verfasser mehrerer verkehrswissenschaftlicher<br />
Bücher (u.a. von<br />
„Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung<br />
des Tempowahns“; Köln 2007 und 2009, und<br />
„<strong>Berlin</strong> – Weltstadt ohne Auto. Eine<br />
Verkehrsgeschichte 1848 – 2015“, Köln 1994).<br />
Anmerkungen:<br />
1 Es ist nicht ganz einfach, eine genaue Geburtsstunde der S-<strong>Bahn</strong> zu benennen. 2013 wird<br />
man das hundertjährige Jubiläum des Beschlusses des Preußischen Landtags über das<br />
„Gesetz über die Umstellung der <strong>Berlin</strong>er Stadt-, Ring- und Vorortbahnen auf elektrischen<br />
Betrieb“ aus dem Jahr 1913, eine Art Gründungsgesetz für die S-<strong>Bahn</strong>, begehen können.<br />
1924 wurde der elektrische Regelbetrieb auf dem ersten Streckenabschnitt, auf der<br />
Verbindung Stettiner Vorortbahnhof – Bernau aufgenommen. 1927/28 gab es die „Große<br />
Elektrisierung“ der Stadt-, Ring- und Vorortstrecken; am 11. Juni 1928 fuhren erstmals<br />
elektrische Züge über die Stadtbahn auf der Verbindung Potsdam – Erkner. Das S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Symbol – ein weißes „S“ auf grünen Grund – und der Begriff „S-<strong>Bahn</strong>“ wurden am 1.<br />
Dezember 1930 in <strong>Berlin</strong> offiziell eingeführt und später in anderen Städten für vergleichbare<br />
<strong>Bahn</strong>en übernommen. Für was genau das „S“ steht, ist unklar; mal für „Schnell“, dann<br />
für „Stadt“, auch mal für „Stadtschnellbahn“.<br />
2 Torsten Hampel, Die Entgleisung, in: Die Zeit vom 15. April 2010.<br />
3 Die DDR gab 1984 den Betrieb der S-<strong>Bahn</strong> auf Westberliner Gebiet auf, da dieser u.a. aufgrund<br />
von Boykottaufforderungen im Kalten Krieg zunehmend zu einem Verlustgeschäft<br />
geworden war. Am 9. Januar 1984 übernahm die Westberliner BVG den Betrieb des bereits<br />
stark reduzierten S-<strong>Bahn</strong>netzes im Westteil der Stadt. Nach dem Mauerfall engagierten sich<br />
Bürgerinitiativen und Bürgerbegehren erfolgreich für eine Ausweitung des S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrs<br />
und für einen Wiederaufbau des ursprünglichen S-<strong>Bahn</strong>-Netzes. Am 1. Januar 1995 wurde<br />
die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH als 100-prozentige Tochter der im Jahr zuvor neu gegründeten<br />
Deutschen <strong>Bahn</strong> AG gebildet.<br />
4 Der GG-Artikel lautet: „Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere<br />
den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der<br />
Eisenbahnen des Bundes sowie deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit<br />
diese nicht den Personennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird.“ Der Nahverkehr<br />
war aus diesem GG-Gebot nur deshalb herausgenommen worden, weil dieser mit der<br />
<strong>Bahn</strong>reform von 1993/94 zur Ländersache erklärt wurde und im Zusammenhang mit dem<br />
Regionalisierungsgesetz und den ÖPNV-Gesetzen der Länder noch deutlicher den<br />
Zielsetzungen des „Wohls der Allgemeinheit“ und „den Verkehrsbedürfnissen“ verpflichtet<br />
wurde.<br />
5 Diese Ansicht wurde 1992 formuliert, als die „Initiative für eine bessere <strong>Bahn</strong> – fbb“<br />
gegründet wurde, u.a. mit Heiner Monheim, Tine Seebohm und Winfried Wolf. Aus dieser<br />
Initiative, die die <strong>Bahn</strong>reform und die <strong>Bahn</strong>privatisierung kritisierte, entstand bald darauf<br />
das „Manifest der 1435 Worte“ und schließlich 2001 die <strong>Bahn</strong>fachleutegruppe „Bürgerbahn<br />
statt Börsenbahn – BsB“, die wiederum 2005 zusammen mit Attac, Robin Wood und „<strong>Bahn</strong><br />
von unten“ (in Transnet, heute EVG) den Kern des Bündnisses „<strong>Bahn</strong> für Alle – BfA“ bildeten.<br />
Siehe die Vorworte.<br />
6 In: <strong>Berlin</strong>er Zeitung vom 4.November 2011.<br />
9
10<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Wie die <strong>Bahn</strong>zentrale die S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> regierte und dirigierte<br />
Steif und fest behauptet <strong>Bahn</strong>chef Grube, die<br />
DB AG, also die Zentrale des Konzerns Deutsche<br />
<strong>Bahn</strong> AG, sei für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise nicht verantwortlich.<br />
Man habe nicht in das operative<br />
Geschäft der S-<strong>Bahn</strong> eingegriffen. So argumentiert<br />
auch heute Grube als Märchenerzähler im<br />
<strong>Berlin</strong>er Abgeordnetenhaus (s. Kasten S. 14).<br />
Diese Darstellung ließ sich die Deutsche <strong>Bahn</strong><br />
AG auch noch wissenschaftlich absegnen –<br />
durch das Gutachten der Kanzlei Gleiss Lutz (s.<br />
Kasten S. 16).<br />
Wie massiv die DB-Zentrale in die S-<strong>Bahn</strong><br />
hineinregierte, ja wie sie geradezu die S-<strong>Bahn</strong><br />
im Stil eines Politbüros dirigierte, zeigt der folgende<br />
Bericht, der auf dem Höhepunkt der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise, im Januar 2011, im Spiegel<br />
erschien. „Die Zukunft der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> erledigten<br />
die Manager der Deutschen <strong>Bahn</strong> (DB)<br />
mit einem Knopfdruck. Mehrmals pro Jahr<br />
bestellten sie den Projektleiter der zur DB gehörenden<br />
S-<strong>Bahn</strong> in den <strong>Bahn</strong>-Tower am Potsdamer<br />
Platz. Mit dem Fahrstuhl ging es oft bis<br />
zum 21. Stockwerk, in den Sitzungssaal ´Fliegende<br />
Hamburger´. An einem <strong>Tisch</strong> warteten<br />
gut ein Dutzend hohe Konzern-Manager. Genau<br />
20 Minuten lang durfte der S-<strong>Bahn</strong>er vortragen.<br />
Weitere 20 Minuten wurden Nachfragen<br />
gestellt. Dann nahmen die Herren ein kleines<br />
Gerät vom <strong>Tisch</strong>. Wer mit den Vorschlägen der<br />
S-<strong>Bahn</strong> einverstanden war, drückte auf ein grünes<br />
Knöpfchen. Unzufriedene konnten auf gelb<br />
oder rot drücken. Der S-<strong>Bahn</strong>-Projektleiter saß<br />
zwar dabei, aber wer wie abgestimmt hatte,<br />
erfuhr er nicht. Am Ende warf ein Beamer das<br />
Ergebnis an die Wand, dann musste der S-<strong>Bahn</strong>er<br />
den Raum verlassen. Die Sparmaßnahmen,<br />
heißt es, bekamen nach anfänglichem Gelb eine<br />
grüne Ampel. So wurden seit 2005 Millionen<br />
Euro wegrationalisiert, und mit jedem Knopfdruck<br />
fuhr die S-<strong>Bahn</strong> tiefer in die Krise.“<br />
Es wurden vor allem Beschäftigte wegrationalisiert<br />
und Millionen Euro Gewinne gemacht.<br />
Interessant ist, dass der Bericht – offensichtlich<br />
aus juristischen Gründen, möglicherweise<br />
wegen Quellenschutzes – keinen einzigen Teilnehmer<br />
mit Namen nennt. Wer war besagter<br />
„Projektleiter“? Welche „hohen Konzern-Manager“<br />
waren anwesend? Wie oft war Hartmut<br />
Mehdorn dabei? Nahm Ulrich Homburg teil?<br />
Aber auch ohne diese spannenden Details ist<br />
der Bericht, dem die DB nie widersprach, eindeutig:<br />
Die Geschäftsführung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
wurde faktisch im <strong>Bahn</strong>tower bestimmt.<br />
Zitat aus: „Tote Gleise“, Der Spiegel 2/2011, Verfasser:<br />
S. Becker, P. Müller, A. Wassermann, P. Wensierski<br />
II. Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />
Das Börsengang-Programm OSB als<br />
direkter Auslöser des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters<br />
Am Anfang stand OSB – das Rationalisierungsprogramm<br />
„Optimierung S-<br />
<strong>Bahn</strong>“ aus dem Jahr 2004. Es orientierte<br />
auf die systematische Erhöhung des<br />
Gewinns aus den S-<strong>Bahn</strong>-Systemen<br />
<strong>Berlin</strong> und Hamburg. Es wurde weitgehend<br />
zeitgleich mit dem Projekt Börsengang<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG beschlossen<br />
und in dem Maß verschärft angewandt,<br />
wie der Kurs an die Börse an<br />
Fahrt aufnahm. Dazu heißt es in einem<br />
bahninternen Dokument, datiert auf den<br />
6. Mai 2004: „Es soll sichergesellt werden,<br />
dass Ende 2006 ein jährliches Einsparpotential<br />
von 40 Millionen Euro von<br />
den S-<strong>Bahn</strong>en (<strong>Berlin</strong> und Hamburg;<br />
W.W.) realisiert wird.“ Dieses Programm<br />
wurde untersetzt mit konkreten Zielsetzungen<br />
wie die Reduktion der Reservekapazitäten<br />
bei S-<strong>Bahn</strong>-Wagen und<br />
Triebwagen (132 funktionsfähige<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Wagen wurden verschrottet),<br />
den Abbau der S-<strong>Bahn</strong>-Belegschaft, die<br />
Schließung von Werkstätten und die<br />
Spreizung von Wartungsintervallen bzw.<br />
des Ausfalls von Wartungsmaßnahmen<br />
überhaupt. Als OSB im Jahr 2005 in<br />
Kraft gesetzt wurde, hatte die S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> noch 3676 Beschäftigte. Auf dem<br />
Höhepunkt der Krise, Mitte 2009, waren<br />
es noch 2769. Es gab einen Abbau der<br />
Belegschaft um ein Viertel in nur vier<br />
Jahren. Dabei stieg bis 2008 die<br />
Betriebsleistung (gemessen in Millionen<br />
Zugkilometer) noch. Noch schwerwiegender<br />
als der Belegschaftsabbau erwies<br />
sich die Schließung von Werkstätten<br />
und die Reduktion der Belegschaft im<br />
Bereich der Wartung und Instandhaltung<br />
auf rund ein Drittel. Die vielfachen<br />
höchst komplex erscheinenden „Erklärungen“,<br />
die bei den Höhepunkten der<br />
S-<strong>Bahn</strong>krise 2009 und 2010 für den<br />
Ausfall einzelner strategisch wichtiger<br />
Komponenten durch DB-Obere angeführt<br />
wurden, erweisen sich als unernst<br />
angesichts der realen und banalen<br />
Unterlassungen bei der Wartung. Im<br />
Winter 2009/2010 fielen reihenweise<br />
Motoren aus – angeblich „wegen Flugschnee“.<br />
Klaus Kurpjuweit führt diese<br />
Ausfälle im Tagesspiegel auf schlichte<br />
Verstöße gegen die Wartungsvorschriften<br />
des Motorenherstellers zurück:<br />
„Statt bei der Revision eine Isolationsschicht<br />
drei Mal zu lackieren, hat man<br />
sich mit einem einmaligen Arbeitsgang<br />
begnügt.“ (21.1.2010).<br />
Die Umsetzung von OSB wurde in der<br />
Konzernzentrale gesteuert – siehe der<br />
Kasten auf dieser Seite. Die Kontrolle<br />
über die Geschäftsführung der S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH erfolgte in der DB Regio-Zentrale.<br />
DB Regio war (und ist) der 100-prozentige<br />
Eigentümer der<br />
S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH. Der Geschäftsführer<br />
der S-<strong>Bahn</strong> GmbH, Ulrich Thon, hatte<br />
nicht einmal einen Vertrag mit der S-<br />
<strong>Bahn</strong> GmbH; vielmehr hatte er einen<br />
Vertrag mit DB Regio. Der Chef von DB<br />
Regio wiederum war Ulrich Homburg.<br />
Zitat zum Thema:<br />
Der damalige Vorstandvorsitzende Hartmut<br />
Mehdorn und der Aufsichtsratsvorsitzende<br />
der S-<strong>Bahn</strong> wurden durch die<br />
damalige Geschäftsführung nachdrücklich<br />
gewarnt, die Ergebnisse der OSB-<br />
Arbeitsgruppe umzusetzen. Wir waren<br />
dazu nicht bereit, weil wir besorgt waren,<br />
dass die vorgesehenen Maßnahmen<br />
die S-<strong>Bahn</strong> ruinieren würden. (…) Der<br />
heutige Zustand der S-<strong>Bahn</strong> war vorauszusehen.<br />
Es ist empörend, dieses Debakel<br />
jetzt bei uns Altgeschäftsführern abzuladen.<br />
Immerhin ist die heute völlig vermurkste<br />
Technik der 481 über 10 Jahre<br />
lang völlig störungsfrei mit einem außerordentlich<br />
hohen Verfügungsgrad (…)<br />
von weit über 90 % gefahren. Sie war<br />
gepflegt, pünktlich und von unseren<br />
Kunden hochgelobt. (…) Zur Zukunft der<br />
S-<strong>Bahn</strong> warnen meine Kollegen und ich<br />
dringend davor, eine Teilausschreibung<br />
vorzunehmen. Das würde eine Fortsetzung<br />
des Debakels ganz anderer Art sein,<br />
weil das S-<strong>Bahn</strong>-System eine in sich geschlossene,<br />
hoch komplexe, ganzheitliche<br />
Technologie ist.<br />
Ernst-Otto Constantin, ehemaliger Arbeitsdirektor<br />
und bis 2002 mitverantwortlicher<br />
Geschäftsführer der S-<strong>Bahn</strong> GmbH, in einem<br />
Offenen Brief an die damalige Verkehrssenatorin<br />
Frau Junge-Reyer vom 10.1.2011.<br />
Lunapark21·extra 6/2012
III. 2009: Der Beginn des Desasters<br />
Die Entwicklung der Krise der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> wird am besten mit der Fieberkurve<br />
der Anzahl der zur Verfügung stehenden<br />
Viertelzüge ausgedrückt. Allerdings<br />
sind hier niedrige Werte Ausdruck der<br />
sich vertiefenden Krise und ein Ansteigen<br />
der Kurve Ausdruck eines sich normalisierenden<br />
Betriebs. Vertraglich vereinbart<br />
war, dass 562 Viertelzüge im<br />
werktäglichen Verkehr in Einsatz sind.<br />
Diese Vereinbarung wurde auch vor der<br />
Krise nicht eingehalten. Die Spitzenwerte<br />
lagen bei 546 Viertelzügen, was drei<br />
Prozent weniger sind als vertraglich vereinbart.<br />
Der Einbruch im Januar 2009 wurde<br />
in der Öffentlichkeit noch als Ergebnis<br />
natürlicher Einflüsse interpretiert. In<br />
Wirklichkeit war dies bereits Resultat<br />
Jan. 2009<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Feb. 2009<br />
Mrz. 2009<br />
unzureichender Wintervorbereitung.<br />
Nachdem am 1. Mai ein S-<strong>Bahn</strong>zug der<br />
Baureihe (BR) 481 in Kaulsdorf wegen<br />
eines Radreifenbruchs entgleiste, ging es<br />
Schlag auf Schlag: Die S-<strong>Bahn</strong> versprach,<br />
alle Radsätze im 7-Tage-Rhythmus<br />
zu überprüfen (7.5.); das EBA<br />
ertappte das Unternehmen dabei, die<br />
Selbstverpflichtung nicht einzuhalten<br />
(29.6.). Am 7.9. wurden entdeckt, dass<br />
an einem Zug vier von acht Bremszylinder<br />
defekt sind – es kommt zu neuen<br />
Auflagen. Erneut ein Wartungsfehler.<br />
Laut VBB-Qualitätsbilanz 2009 hätten<br />
„bei der Hauptuntersuchung die Druckmuttern<br />
und der Dichtungsring ausgetauscht<br />
werden müssen, was jedoch<br />
nicht erfolgte.“ Schließlich versagen ab<br />
Mitte Dezember reihenweise Fahrmoto-<br />
Apr. 2009<br />
Mai 2009<br />
Jun. 2009<br />
Jul. 2009<br />
Aug. 2009<br />
Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />
ren – erneut aufgrund unzureichender<br />
Vorbereitung auf den Winter.<br />
In der Folge sind zeitweilig weniger<br />
als 200 Viertelzüge – oder nur ein Drittel<br />
der vertraglich vereinbarten Flotte – im<br />
Einsatz. Die Takte werden ausgedünnt.<br />
Wichtige Streckenabschnitte können<br />
nicht mehr bedient werden. Wochenlang<br />
verkehren selbst auf Stammstrecken wie<br />
Alexanderplatz – Westkreuz, Westkreuz<br />
- Spandau keine S-<strong>Bahn</strong>züge.<br />
Zitat zum Jahr:<br />
Bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> werden wir auf der<br />
Grundlage aller uns bekannter Restriktionen<br />
noch im Jahr 2010 zum Normalfahrplan<br />
zurückkehren.<br />
Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr<br />
Deutsche <strong>Bahn</strong>, 6.1.2010 (dapd)<br />
Anzahl der eingesetzten Viertelzüge der S-<strong>Bahn</strong> (werktags; Jan. bis Dez. 2009)<br />
Vor dem Beginn der Krise standen 546 Viertelzüge zur Verfügung, vertraglich bestellt waren 562 Viertelzüge (weiße Strichlinie)<br />
600<br />
500<br />
400<br />
300<br />
200<br />
100<br />
Januar 2009: 3000<br />
ausgefallene Zugfahrten<br />
durch „unvorgesehenen“<br />
Kälteeinbruch<br />
1.5.2009:<br />
Radscheibenbruch<br />
Juli 2009: Das Eisenbahn-Bundesamt<br />
ordnet an, dass alle nicht fristgerecht<br />
gewarteten Züge außer Betrieb genommen<br />
werden müssen. In der Folge sind<br />
nur noch 165 Viertelzüge einsatzfähig.<br />
Eisenbahn Bundesamt fordert weitere<br />
Sicherheitsüberprüfungen;<br />
erste Notfahrpläne<br />
Sep. 2009<br />
7.9.2009: Bremsen<br />
falsch gewartet<br />
Oktober 2009: Zum ersten Mal<br />
seit Wochen wird wieder das<br />
gesamte S-<strong>Bahn</strong>-Netz befahren,<br />
aber mit einem dauerhaften Notfahrplan<br />
und verkürzten Zügen.<br />
Okt. 2009<br />
Nov. 2009<br />
Dez. 2009<br />
11
12<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
IV. 2010: Das Desaster als Dauerzustand<br />
Das neue Jahr begann erneut mit Winterchaos.<br />
Der Koloss DB-Konzern schien<br />
sich jedoch zu bewegen. Die Werkstatt<br />
Friedrichsfelde wurde nach einem langem<br />
Dornröschenschlaf wieder in Betrieb<br />
genommen. Grube und Homburg<br />
gaben bekannt, dass man zum Jahresende<br />
2010 wieder mit 501 Zügen im Einsatz<br />
sein werde. Dann erfuhren die Menschen<br />
in <strong>Berlin</strong> und im brandenburgischen<br />
Umland, dass das Unternehmen S-<br />
<strong>Bahn</strong> GmbH fünf Jahre lang mit nicht<br />
zugelassenen Rädern unterwegs gewesen<br />
war und am 17. März beim Eisenbahn-Bundesamt<br />
eine „Bauartänderung“<br />
mit fünfjähriger Verspätung nachreichte.<br />
Man stelle sich vor, eine Privatperson<br />
fährt fünf Jahre lang ohne TÜV… Am 2.<br />
September gab die S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />
Jan. 2010<br />
Feb. 2010<br />
Mrz. 2010<br />
Apr. 2010<br />
bekannt, dass die für diesen Zeitpunkt<br />
fest vereinbarte Hochfahrstufe nicht<br />
realisiert werden könnte. Die Schlagzeilen<br />
wurden von Begriffe wie „Besandungsanlagen“<br />
und „Füllstands- und<br />
Funktionskontrolleinrichtungen“<br />
geprägt: Die an den Fahrzeugen installierten<br />
Besandungsanlagen helfen, den<br />
für die Beschleunigung erforderlichen<br />
Reibwert zwischen Rad und Schiene<br />
durch Besandung der Schienenoberfläche<br />
z.B. bei ungünstiger Witterung herzustellen.<br />
Denselben Zweck erfüllen sie<br />
beim Bremsvorgang, indem sie die<br />
Bremswirkung verstärken. Bei Untersuchungen<br />
stellte sich heraus, dass diese<br />
Anlagen nicht einwandfrei funktionierten<br />
– was vor allem bei notwendig werdenden<br />
Bremsvorgängen fatale Folgen<br />
Mai 2010<br />
Jun. 2010<br />
Jul. 2010<br />
Aug. 2010<br />
haben könnte. Aufwendige Kontrollen<br />
wurden nötig. Die Verfügbarkeit der<br />
Züge wurde erneut reduziert. Und dann<br />
gab es tatsächlich Winter im Winter:<br />
Bereits nach dem ersten Schneefall am<br />
2. Dezember kam es zu vielen Weichenstörungen.<br />
Ein großer Teil des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Netzes wurde lahmgelegt. Erneut jagte<br />
die Fieberkurve den Tiefstständen des<br />
Jahres 2009 entgegen.<br />
Zitat zum Jahr:<br />
Dass wir in diesem Umfang einbrechen,<br />
habe ich mir nicht vorstellen können.<br />
Peter Buchner, (neuer) Geschäftsführer S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH, Dezember 2010<br />
Anzahl der eingesetzten Viertelzüge der S-<strong>Bahn</strong> (werktags; Jan. 2010 bis April 2012)<br />
Vor dem Beginn der Krise standen 546 Viertelzüge zur Verfügung, vertraglich bestellt waren 562 Viertelzüge (weiße Strichlinie)<br />
600<br />
500<br />
400<br />
300<br />
200<br />
100<br />
Januar 2010: Die 2005 geschlossene<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Werkstatt Friedrichsfelde<br />
wird wieder eröffnet und in<br />
Betrieb genommen.<br />
ab 22.12.2009: Wintereinbruch<br />
& intensive<br />
Radsatzprüfung<br />
Februar 2010: Rüdiger Grube:<br />
„Bis zum Fahrplanwechsel am 13.<br />
12. 2010 werden wir wieder mit<br />
mindestens 501 Zügen den<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb sicherstellen.“<br />
25.3.2010: Die S-<strong>Bahn</strong>-Geschäftsführung<br />
bestätigt: Die Baureihe 485<br />
(„Coladosen“) fuhr mindestens fünf<br />
Jahre mit nicht zugelassenen oder<br />
veralteten Rädern. Die BR485-Wagen<br />
rollen aufs Abstellgleis.<br />
Sep. 2010<br />
Dezember 2010: Wintereinbruch,<br />
nur 221 Viertelzüge im Einsatz<br />
Oktober 2010: VBB-Chef Hans-Werner Franz:<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> habe ein knappes Jahr Zeit gehabt zu<br />
lernen. Das sei leider nicht erfolgt. „Jetzt hilft<br />
nur das gemeinsame Gebet, dass der nächste<br />
Winter harmloser ausfällt als der letzte." Das Gebet<br />
wurde nicht erhört bzw. es gab beim Wettergott-Adressaten<br />
ein Mißverständnis: Erst der<br />
Winter 2011/2012 fiel dann völlig harmlos aus.<br />
2. September 2010: S-<strong>Bahn</strong> GmbH teilt mit, dass<br />
sie die zugesagte „Hochfahrstufe“ nicht umsetzen<br />
könne. Als wesentliche neuer Problematik wird ein<br />
Versagen der Besandungsanlagen (wichtig für Beschleunigen<br />
und Bremsen) genannt. Die unzureichend<br />
funktrionierenden Besandungsanlagen führen<br />
bald zu neuen Ausfällen und Anfang 2011 zu<br />
erheblich reduzierten Maximalgeschwindigkeiten.<br />
Okt. 2010<br />
Nov. 2010<br />
Januar 2011: Ganze Streckenabschnitte<br />
werden nicht mehr bedient;<br />
Preiserhöhungen bei BVG &<br />
S-<strong>Bahn</strong> um durchschnittlich 2,8%.<br />
Dez. 2010<br />
Jan. 2011<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Februar 2<br />
60 km/h-<br />
Feb. 2011
Gleich Anfang Januar wurden erneut<br />
Hunderttausende Fahrgäste vor den Kopf<br />
gestoßen und auf andere Verkehrsmittel<br />
verwiesen – oder ihrer Mobilität beraubt.<br />
Die S-<strong>Bahn</strong>-Linien 25 und 5 wurden<br />
auf den Abschnitten Hennigsdorf –<br />
Nordbahnhof und Strausberg Nord –<br />
Strausberg nur noch mit „Schienenersatzverkehr“<br />
bedient. Die Linie S75 verkehrte<br />
überhaupt nicht mehr. Die Besandungsproblematik<br />
führte nun dazu, dass<br />
am 24. Januar ein neuer Fahrplan mit<br />
auf 60 km/h reduzierter Maximalgeschwindigkeit<br />
eingeführt werden musste.<br />
Im weiteren Verlauf des Jahres schien<br />
sich ein zunehmend stabiler S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Verkehr zu entwickeln. Doch als am 15.<br />
Dezember in Halensee ein Stellwerk ausfiel<br />
und der S-<strong>Bahn</strong>verkehr weitgehend<br />
17. März 2011: Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
trifft sich zum ersten Mal und beschließt<br />
einige Wochen später, ein Volksbegehren<br />
gegen die drohende Ausschreibung von<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Linien zu initiieren.<br />
011:<br />
Notfahrplan<br />
Mrz. 2011<br />
V. 2011: Leichte Besserung & alte destruktive Wege<br />
Apr. 2011<br />
März 2011: Im Geschäftsbericht<br />
von DB ML wird die<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Krise allein als Resultat<br />
von Konstruktionsfehlern<br />
& Naturereignissen<br />
(„Flugschnee“) ausgegeben.<br />
Mai 2011<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Jun. 2011<br />
September 2011: S-<strong>Bahn</strong> kündigt<br />
beschleunigten Abbau von <strong>Bahn</strong>aufsichten<br />
an. Ende 2012 soll es<br />
nur noch auf 21 von 166 S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />
Personal geben.<br />
Jul. 2011<br />
Aug. 2011<br />
zusammenbrach, wurde erneut die Labilität<br />
der Lage verdeutlicht: Es gibt keine<br />
Rückfallebene; das gesamte S-<strong>Bahn</strong>-System<br />
ist inzwischen extrem krisenanfällig.<br />
Doch die S-<strong>Bahn</strong> GmbH beschreitet<br />
längst wieder den Weg, der tief in die<br />
Krise führte: Sie treibt den Belegschaftsabbau<br />
voran und will vor allem ihr fahrgastfeindliches<br />
Modell der S-<strong>Bahn</strong>höfe<br />
ohne Personal durchziehen. Sie hat auch<br />
„vergessen“, die Zahl der Triebfahrzeugführerinnen<br />
und –führer den allmählich<br />
wieder vergrößerten und im Einsatz befindlichen<br />
Zugkapazitäten anzupassen.<br />
Zwar fiel der Winter 2011/12 aus. Doch<br />
nun kam und kommt es zu Einschränkungen<br />
des Fahrbetriebs aufgrund von<br />
Fahrpersonalmangel. Die Unterinvestition<br />
bei der S-<strong>Bahn</strong>infrastruktur, die im<br />
Sep. 2011<br />
Januar 2012: S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />
gesteht das Fehlen von bis zu<br />
100 Triebfahrzeugführern ein.<br />
Okt. 2011<br />
22. März 2012: S-<strong>Bahn</strong> kündigt deutlich<br />
reduzierte Fahrplantakte an Wochenenden<br />
& Feiertagen auf einzelnen Linien an.<br />
Grund: Fahrermangel.<br />
Tariferhöhungen: BVG & S-<strong>Bahn</strong> kündigen<br />
neue Tariferhöhungen ab dem 1.8.2012 an.<br />
Von 2002 bis 2012 stieg der Preis für eine<br />
Monatskarte um 33% (Inflation = 17%).<br />
15. Dezember 2011: Aufgrund eines Stellwerkausfalls<br />
in Halensee brechen der S-<strong>Bahn</strong>-Verkehr<br />
und Teile des Regionalverkehrs fast in der gesamten<br />
Stadt zusammen. Menschen sitzen über<br />
Stunden in S-<strong>Bahn</strong>-Zügen fest. Der Ausfall eines<br />
einzigen Bauteils hat zu dem Defekt geführt.<br />
Nov. 2011<br />
Dez. 2011<br />
Offene S-<strong>Bahn</strong>-Krise 2009-2012<br />
April 2012 bekannt wird, deutet darauf<br />
hin, dass es bald nochmals neue technische<br />
Gründe für reduzierten S-bahnverkehr<br />
geben könnte. Als überzeugendes<br />
Dankeschön für drei Jahre S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
verkündeten BVG und S-<strong>Bahn</strong> im März<br />
2012 neue Fahrpreiserhöhungen. Insbesondere<br />
die Stammkunden werden<br />
geschröpft werden.<br />
Zitat zum Jahr:<br />
Bei der Eisenbahn sollte man nie etwas<br />
garantieren.<br />
Rüdiger Grube, Vorstandsvorsitztender<br />
Deutsche <strong>Bahn</strong> AG, Spiegel online 10.1.2011<br />
23. Dezember 2011: Der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Tisch</strong> übergibt der Landeswahlleiterin<br />
32000 Unterschriften für das Volksbegehren<br />
„Rettet unsere S-<strong>Bahn</strong>“.<br />
Jan. 2012<br />
Feb. 2012<br />
Mrz. 2012<br />
Apr. 2012<br />
600<br />
500<br />
400<br />
300<br />
April 2012: Massive Mängel (Unterinvestition)<br />
bei S-<strong>Bahn</strong>-Infrastruktur<br />
werden publik. Bis 2020 müssen 1,5200<br />
Mrd Euro investiert werden.<br />
100<br />
13
14<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise,<br />
der <strong>Bahn</strong>chef,<br />
und die Verantwortung Montage: J.Römer<br />
Am 10. Januar 2011 hatte Rüdiger Grube<br />
einen Auftritt im Abgeordnetenhaus<br />
<strong>Berlin</strong>. Dort erklärte er den Abgeordneten<br />
und der <strong>Berlin</strong>er Öffentlichkeit verkürzt<br />
viererlei: Erstens, dass der Hersteller<br />
die Hauptschuld trägt. Zweitens, dass<br />
der Natur glasklar eine Mitverantwortung<br />
zugesprochen werden muss. Drittens,<br />
dass die S-<strong>Bahn</strong> GmbH ein Sauladen<br />
ist oder zumindest war, wobei man<br />
für diesen Zustand die Muttergesellschaft<br />
in keiner Weise verantwortlich<br />
machen könne. Im übrigen trage – viertens<br />
– der DB-Konzern mit der S-<strong>Bahn</strong><br />
eher eine große – auch eine erhebliche<br />
finanzielle – Last, die er jedoch im Interesse<br />
der Allgemeinheit und aus purem<br />
Verantwortungsgefühl weiter tragen<br />
werde.<br />
Im folgenden O-Töne des <strong>Bahn</strong>chefs<br />
auf Basis des offiziellen Vorab-Redemanuskripts<br />
(gewagte Wortkonstruktionen<br />
und fragwürdige Grammatik inbegriffen).<br />
Der Fahrzeughersteller war´s<br />
„Was mich in der öffentlichen Diskussion<br />
allerdings stört, dass so gut wie gar<br />
nicht erwähnt wird, dass der eigentliche<br />
Auslöser für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise die mangelhafte<br />
und falsch konstruierte Fahrzeugflotte<br />
BR 481 eines bekannten Herstellers<br />
ist, die uns all die Schwierigkeiten<br />
bereitet.“<br />
„Der zentrale Schwachpunkt ist und<br />
bleibt die Fahrzeugkonstruktion der BR<br />
481 von Bombardier. (…) Wie ausführlich<br />
bekannt, verfügt die Baureihe 481 über<br />
technische und konstruktive Mängel, die<br />
kurz- und mittelfristig nicht lösbar sind.“<br />
„Lassen Sie uns nicht vergessen, aufgrund<br />
eines Konstruktionsfehlers, nämlich<br />
mangelnder Bremsleistung, dürfen<br />
wir nicht, wie eigentlich bestellt, 100<br />
km/h fahren.“<br />
„Ich sage ganz offen, wie stabil sich<br />
das Gesamtsystem beim nächsten längeren<br />
Winter- bzw. Frost- und Schnee-Ein-<br />
bruch verhält, ist nicht vorhersehbar,<br />
aufgrund der konstruktionsbedingten<br />
Mängel der Flotte.“<br />
Fatales Zusammenspiel<br />
von Fiesling Natur und<br />
Technikschrott<br />
„Zusätzlich kam dann noch der kälteste<br />
und schneereichste Dezember seit 41<br />
Jahren mit den größten betrieblichen<br />
Herausforderungen seit der norddeutschen<br />
Schneekatastrophe im Winter<br />
1978.“<br />
„Hohe Störanfälligkeit der Antriebe<br />
und der Elektronik insbesondere bei<br />
Flugschnee und Hitze, die ebenfalls konstruktionsbedingt<br />
sind. Wir hatten in<br />
diesem Winter vier mal höhere witterungsbedingte<br />
Antriebsstörungen im<br />
Dezember 2010 gegenüber dem Vorjahr<br />
vorliegen.“<br />
Sauladen S-<strong>Bahn</strong> GmbH, für<br />
den die DB AG nullkommanull<br />
Verantwortung trägt<br />
„Wir haben leider festgestellt, dass die<br />
frühere S-<strong>Bahn</strong>-Geschäftsleitung eine<br />
bereits in 2000 zugesagte Selbstverpflichtung<br />
bezüglich von durchzuführenden<br />
Wirbelstromprüfungen von Beginn<br />
an einfach ignoriert hat. Dies hat<br />
zu einer völligen Stilllegung der BR 485<br />
geführt. Hinzu kam noch, dass wir (…)<br />
festgestellt haben, dass im Jahr 2004<br />
geschmiedete Radkörper anstelle der<br />
zugelassenen Radkörper aus Gussmetall<br />
zum Einsatz kamen, hierüber hat man<br />
dem EBA aber nie eine Änderungsanzeige<br />
zukommen lassen.(…) Als weiteres<br />
Problem sind in der Folge alte, früher<br />
nicht weiter verfolgte Achsbrüche aus<br />
den Jahren seit 2006 aufgetaucht.“<br />
Den Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong><br />
werden wir aus purer Verantwortung<br />
uneigennützig<br />
weiterbetreiben<br />
„In den letzten Jahren sind hohe dreistellige<br />
Millionenbeträge aus Mitteln des<br />
Bundes und der DB AG in die Modernisierung<br />
und den Ausbau der S-<strong>Bahn</strong>-Infrastruktur<br />
geflossen. Die Infrastruktur<br />
befindet sich insgesamt in einem deutlich<br />
besseren Zustand als in früheren<br />
Jahren. Das Bauvolumen in 2010 ohne<br />
das Großprojekt Flughafen BBI betrug<br />
102,3 Mio. In 2011 werden nochmals<br />
116,7 Mio (ohne BBI) investiert.“<br />
„Ich habe mir mal die Kosten zusammenstellen<br />
lassen, was uns die Krise (…)<br />
mindestens kosten wird. (…) Bis einschließlich<br />
2014 kumulieren sich die<br />
Effekte auf fast 700 Mio Euro. (…) Wir<br />
haben bisher in das System S-<strong>Bahn</strong> rund<br />
eine Milliarde Euro investiert, aber bis<br />
einschließlich 2010 keinen einzigen Euro<br />
verdient. Von einer Rendite kann also<br />
nicht gesprochen werden. (…) Wir werden<br />
auch bis zum Auslauf des Verkehrsvertrags<br />
in 2017 keinen einzigen Euro<br />
verdienen.“<br />
„Wir stellen uns unserer Verantwortung,<br />
weil wir diejenigen sind, die ein<br />
Leistungsversprechen (…) abgegeben<br />
haben. Und dieses Leistungsversprechen<br />
wollen wir auch einlösen!!!“<br />
„Die Frage des Geldes bei der Lösung<br />
der Probleme steht nicht im Vordergrund.<br />
Sondern es geht uns ausschließlich<br />
um die Entwicklung einer dauerhaften,<br />
stabilen Lösung.“<br />
Lunapark21·extra 6/2012
VI. Absolution erster Klasse: Die offizielle Analyse<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters – der Gleiss Lutz-Bericht<br />
Der 60 Seiten starke Bericht der Kanzlei Gleiss Lutz zur S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> vom 23. Februar 2010<br />
stellt die einzige umfassende Analyse des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters dar. Der Auftraggeber für die<br />
Untersuchung war die DB selbst. Da die DB sich in Bundeseigentum befindet, tragen letzten<br />
Endes der Bund bzw. die Bundesregierung für diesen Bericht wesentliche Verantwortung.<br />
Die Bundesregierung bezieht sich auch<br />
positiv auf diesen Bericht (siehe Antwort<br />
der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage<br />
der Grünen zum „Sachstand Notbetrieb<br />
der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>, Drucksache<br />
17/1384). Umso fataler ist, dass es sich<br />
bei diesem Dokument, das bereits mit<br />
dem offiziellen Titel („Untersuchung zu<br />
den Ursachen der Betriebsstörungen bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“) das S-<strong>Bahn</strong>-Desaster<br />
bagatellisiert, um ein Gutachten handelt,<br />
in dem die wesentlichen Ursachen der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise nicht genannt werden und<br />
vor allem die Konzernebene von jeder<br />
Verantwortung freigesprochen wird. Der<br />
Geschäftsführer des Verkehrsverbundes<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburg, Hans Werner Franz,<br />
sprach zu Recht von einem „Gefälligkeitsgutachten“.<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Es gibt in dem Text entsprechend<br />
einen seltsamen Bruch. Während bis auf<br />
Seite 41 zum Teil krasse Fehlleistungen<br />
von Herstellern, Lieferanten und dem<br />
eigentlichen Unternehmen S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH dokumentiert werden, wird der<br />
Bericht ab Kapitel 4 „Konzerneinfluss<br />
und Fehler der Sanierungsprogramme“<br />
ausgesprochen schmallippig.<br />
In dem 20 Seiten langen Abschnitt,<br />
der dann folgt, gibt es keine Kritik an der<br />
Schließung von Instandhaltungseinrichtungen.<br />
Der massive Beschäftigungsabbau<br />
in diesem Zeitraum taucht nicht<br />
einmal auf. Allerdings äußert sich der<br />
Bericht in diskriminierender Weise zum<br />
Alter der S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten (siehe<br />
Kasten S. 17). Der Abbau des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Personals auf den <strong>Bahn</strong>höfen wird posi-<br />
Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise – Verantwortung<br />
tiv wie folgt kommentiert: „Das OBS<br />
(Rationalisierungsprogramm Optimierung<br />
S-<strong>Bahn</strong>en) zielte auf eine Effizienzsteigerung<br />
des Betriebsprozesses ab, vor<br />
allem über eine Abfertigung der Züge<br />
durch die Triebfahrzeugführer (...) Hierin<br />
wird ein Potential des Abbaus von wenigstens<br />
503 Mitarbeitern gesehen.“<br />
(S.47).<br />
Die Bilanz lautet dann auch: „In vielen<br />
Bereichen war OSB ein Erfolg.“ Noch<br />
deutlicher auf Seite 60: „Das vom DB-<br />
Konzern (...) initiierte Optimierungsprogramm<br />
OSB (ist) für die aktuellen Betriebsstörungen<br />
nicht verantwortlich.“ Es<br />
habe vor allem „Umsatzsteigerungen<br />
und weitere Verbesserungen“ mit sich<br />
gebracht. Grundsätzlich seien die Gewinne<br />
der S-<strong>Bahn</strong> quasi nur durch höhe-<br />
15
16<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Gleiss Lutz im O-Ton und Charakter der Kanzlei<br />
Der Bericht verschweigt komplett den radikalen Belegschaftsabbau. Zur Situation<br />
der Beschäftigten bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH heißt es jedoch: „Das Durchschnittsalter<br />
der Beschäftigten der S-<strong>Bahn</strong> ist kontinuierlich gestiegen, von 40<br />
Jahren in 2000 auf 45,1 Jahren in 2008, wobei das Durchschnittsalter im Bereich<br />
Fahrzeuginstandhaltung 2008 sogar 47,1 Jahre betrug. Dies wohlgemerkt in einem<br />
Unternehmen, in dem die Mehrzahl der Beschäftigten mit körperlicher Arbeit verbundene<br />
Tätigkeiten ausführt, Triebzüge fährt und instandhält.“ (S.46).<br />
Einmal abgesehen davon, dass das Alter nicht ausschlaggebend für die Qualität<br />
der Belegschaft ist, verschweigt der Bericht, dass der radikale Belegschaftsabbau,<br />
den es in den vorausgegangenen zehn Jahren gab, letzten Ende erheblich zu dem<br />
relativ hohen Durchschnittsalter beitrug.<br />
Bei der Kanzlei Gleiss Lutz handelt sich um ein Büro mit 250 Anwälten, verteilt<br />
auf acht Städte in Europa und mit einem – für eine Kanzlei – sehr hohen Umsatz<br />
von 109 Mio Euro. Die Kanzlei rühmt sich, für mehr als zwei Drittel der DAX-Konzerne<br />
aktiv zu sein. Gleiss Lutz ist nach eigenen Angaben auf das „M&A-Business“,<br />
auf Unternehmensübernahmen und Zusammenschlüsse, spezialisiert – also beispielsweise<br />
für eine bald wieder anstehende Privatisierung der <strong>Bahn</strong>. Der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Bericht ist nicht die erste Hilfestellung für die DB AG. Der für Gleiss Lutz aktive<br />
ehemalige Justizminister Rupert Scholz warf sich im März 2009 – auf dem Höhepunkt<br />
der <strong>Bahn</strong>-Spitzelaffäre – für den Konzern ins Zeug und unterstrich, dass die<br />
<strong>Bahn</strong> „durch Hartmut Mehdorn glänzend geführt“ werde (Tagesspiegel 25.2.2010).<br />
Der Fall Großmann<br />
In einer Kleinen Anfrage der Grünen vom April 2010 heißt es:<br />
„Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass<br />
der Alleingesellschafter der Georgsmarienhütte Holding GmbH, welche die Radsätze<br />
für die Baureihe 481 an die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH geliefert hat, gleichzeitig dem<br />
Aufsichtsrat der DB AG angehörte?“<br />
Die Antwort der Bundesregierung lautete: „Das genannte Aufsichtsratsmitglied<br />
ist aus Sicht der Bundesregierung ein ausgewiesener Experte mit hoher fachlicher<br />
Kompetenz. Die Bundesregierung geht von seiner Unabhängigkeit aus. Die Möglichkeit<br />
von Interessenskonflikten ist in jedem Einzelfall vom Aufsichtsratsvorsitzenden<br />
selbst zu prüfen und anzuzeigen.“<br />
Die Frage der Grünen traf ins Schwarze, auch wenn der Name Großmann mit<br />
falscher Höflichkeit unerwähnt blieb. Das letzte Wort und hier der Imperfekt ist<br />
allerdings irritierend: Großmann ist auch heute noch Aufsichtsrat der Deutschen<br />
<strong>Bahn</strong> AG. Und der Interessenskonflikt, in dem er sich dabei befindet, betrifft bei<br />
den ICE-Achsen, die zu einem großen Teil nicht dauerfest sind und die in den Jahren<br />
2013 bis 2015 zu tausenden ausgetauscht werden müssen, ein weit größeres<br />
Geschäftsvolumen als im Fall der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />
Quelle: Bundestagsdrucksache 17/1384<br />
Foto: Klaus Ihlau<br />
re Einnahmen aus den Erlösen im Personenverkehr<br />
erzielt worden. „Der Rückgang<br />
der Instandhaltungskosten war<br />
dafür nur von untergeordneter Bedeutung.“<br />
(S.48).<br />
Das ist schlicht die Unwahrheit. Die<br />
Schließung von Werkstätten, der Abbau<br />
der Belegschaft, die Verschrottung von<br />
132 S-<strong>Bahn</strong>-Wagen – all das war explizit<br />
Teil von OSB. Der Umstand, dass das<br />
Unternehmen seither keine Reservekapazitäten<br />
mehr hat, ist direkt OSB zu<br />
verdanken. Im Hauptwerk der Instandhaltung<br />
wurde als Teil der OSB-Sparmaßnahmen<br />
die Zahl der Beschäftigten<br />
von 800 auf rund 200 heruntergefahren;<br />
die Zahl der Meister von 26 auf 3. Das<br />
war ebenso gewinnbringend für den<br />
Konzern wie es zerstörerisch für die<br />
S-<strong>Bahn</strong> selbst war.<br />
Struktur der S-<strong>Bahn</strong> GmbH<br />
als Teil der DB AG<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH gehört zu 100<br />
Prozent der DB Regio AG, die wiederum<br />
eine Tochter der in Bundeseigentum befindlichen<br />
Deutschen <strong>Bahn</strong> AG ist. Die<br />
operative Geschäftsführung für die<br />
S-<strong>Bahn</strong>en wurde einer gesonderten Gesellschaft,<br />
der DB Stadtverkehr, übertragen;<br />
allerdings: nicht ein Prozent des<br />
Eigentums. Dieses blieb zu 100 Prozent<br />
bei DB Regio.<br />
Im Frühjahr 2008 wurde alles nochmals<br />
komplizierter: die Subholding DB<br />
ML (Mobility and Logistic) wurde zwischen<br />
DB AG und alle Schienenverkehrsunternehmen<br />
(DB Regio, Fernverkehr<br />
und Railion/Schenker) geschaltet. DB ML<br />
kontrolliert also DB Regio AG.<br />
Nun wird in dem Gleiss Lutz-Bericht<br />
das Einwirken des Konzerns bzw. von DB<br />
ML bzw. von DB Regio auf die S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH nicht thematisiert. Es werden<br />
lediglich einige lächerliche Probleme wie<br />
Kommunikationsmängel (S. 50/51), unzureichende<br />
„Audits“ der Werkstätten<br />
(S.51) und eine problematische „Unternehmenskultur“<br />
(S.52) angesprochen.<br />
Selbst so krasse Dinge wie die – oben<br />
zumindest abgesegnete – „Spreizung“<br />
der Wartungsintervalle wird in dem Dokument<br />
lässig kommentiert mit: „Die<br />
früher bei der S-<strong>Bahn</strong> praktizierten Verlängerungen<br />
von Wartungs- und Instandhaltungsfristen<br />
und von Laufleistungen<br />
bis zur Hauptuntersuchung wur-<br />
Lunapark21·extra 6/2012
den den Anforderungen an einen sicheren<br />
und zuverlässigen Eisenbahnbetrieb<br />
nicht gerecht.“ (S. 60). Tatsächlich handelte<br />
es sich hier schlicht um ein kriminelles<br />
Vorgehen – um Verstöße gegen<br />
klare Vorgaben, auch solche der Eisenbahn-Aufsicht,<br />
des Eisenbahn-Bundesamtes.<br />
Auf diese Weise wurde das Leben<br />
und die Gesundheit der S-<strong>Bahn</strong>-Fahrgäste<br />
und der S-<strong>Bahn</strong>-Begleitpersonale<br />
aufs Spiel gesetzt.<br />
Besonders originell ist, dass bei den<br />
Debatten um die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Ulrich<br />
Homburg, Vorstand Personenverkehr bei<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG, immer wieder<br />
als derjenige auftritt, der die Kritik an<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH vorträgt und<br />
unter anderem „Konsequenzen“ fordert<br />
bzw. solche umsetzt. Homburg war bis<br />
Herbst 2009 Vorstandsvorsitzender von<br />
DB Regio. Die aus der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
GmbH herausgepressten Extraprofite<br />
wurden direkt an DB Regio abgeführt.<br />
Der Verweis von Ulrich Homburg, wonach<br />
die DB Stadtverkehr „verantwortlich<br />
für das operative Geschäft“ gewesen<br />
sei, geht ins Leere. Homburg gehörte<br />
auch dem Aufsichtsrat der S-<strong>Bahn</strong> an.<br />
Doch auch ohne diese Funktion im<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Aufsichtsrat tragen die Konzern-Manager<br />
der Eigentümer-AG selbst<br />
Mitverantwortung. Tatsächlich haben<br />
nach Aktienrecht der Eigentümer der<br />
S-<strong>Bahn</strong>, also DB Regio, und die Konzern-<br />
Muttergesellschaft, die Verpflichtung,<br />
sich regelmäßig über den Geschäftsverlauf<br />
im allgemeinen und über dessen<br />
Risiken berichten zu lassen. Der Wirtschaftsrecht<br />
Professor Hans-Peter<br />
Schwintowski von der HU <strong>Berlin</strong> äußerte<br />
sich dazu speziell vor dem Hintergrund<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Debakels wie folgt: „Selbstverständlich<br />
hat der Vorstand der Obergesellschaft,<br />
in diesem Fall Herr Homburg,<br />
nach wie vor die Verantwortung,<br />
zwar nicht für jede einzelne Schraube im<br />
Unternehmen, aber doch für die Gesamtheit<br />
vor allem der Risiken.“ (rbb-<br />
Sendung vom 23.9.2009).<br />
Doch der Gleiss Lutz-Bericht stellt<br />
fest, die Aufsichtsräte der <strong>Bahn</strong> hätten<br />
während der S-<strong>Bahn</strong>-Krise „überdurchschnittlich<br />
gründlich gearbeitet“.<br />
Wir dokumentierten bereits, wie konkret<br />
die Konzernzentrale in die S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH hineinregierte (siehe Kasten S.<br />
10). Der damalige Betriebsratsvorsitzen-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
de der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH, Heiner<br />
Wegner, äußerte, er empfinde den Gleiss<br />
Lutz-Bericht als eine „schallende Ohrfeige“.<br />
Auch er verwies auf die enge Einbindung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> in den Konzern<br />
und sagte: „Die S-<strong>Bahn</strong> durfte gar keine<br />
eigenen Entscheidungen treffen.“ Wegner<br />
unterstrich insbesondere, dass die<br />
Arbeitnehmervertretung wiederholt auf<br />
die extremen Missstände vor allem im<br />
Bereich der Wartung verwiesen hatte:<br />
„Ich habe mehrmals mit den Geschäftsführern<br />
von DB Stadtverkehr (…) gesprochen.<br />
Es gab Gespräche mit dem Vorstand<br />
Personenverkehr, Karl-Friedrich<br />
Rausch. Schließlich gab es im Sommer<br />
2008 auch ein Gespräch mit dem DB<br />
Vorstand für Finanzen, Diethelm Sack.<br />
(…) wir haben allen gesagt, dass seit<br />
2003 katastrophale Zustände herrschen.<br />
Es wurde zu viel Personal abgebaut, dass<br />
wir die Züge nicht mehr wöchentlich<br />
warten konnten. Sie wurden manchmal<br />
nur noch alle 21 Tage untersucht. In die<br />
Instandhaltung wurden sie nur noch<br />
halb so oft geschickt wie vorgesehen.<br />
Das hat die S-<strong>Bahn</strong> alles missachtet –<br />
und das wussten Aufsichtsrat und Konzern.“<br />
(die tageszeitung vom 25.2.2010).<br />
Als er und sein Stellvertreter Hoffmann<br />
in ähnlicher Weise den damaligen Aufsichtsratschef<br />
Hermann Graf von der<br />
Schulenburg „über die Missstände informiert“<br />
hätten, habe von der Schulenburg<br />
„mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen“<br />
gedroht. (Tagesspiegel 25.2.2010).<br />
Lieferanten als Kontrolleur<br />
Der Bericht nennt – wie <strong>Bahn</strong>chef Grube<br />
– als Verantwortliche für das S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Desaster in erster Linie die Hersteller<br />
und hier neben Bombardier als den Lieferanten<br />
der S-<strong>Bahn</strong>-Garnituren auch<br />
die Radsatzfabrik Ilsenburg GmbH<br />
(RAFIL). Diese hatte die Räder und Radsatzwellen<br />
für S-<strong>Bahn</strong>-Wagen geliefert,<br />
die inzwischen ausgetauscht werden<br />
mussten. Dezent verschweigt die Kanzlei<br />
Gleiss Lutz hier einen entscheidenden<br />
Zusammenhang. Tatsächlich wurde die<br />
Ilsenburg GmbH 1991 von dem führenden<br />
deutschen Radsatzhersteller VSG<br />
Vereinigte Schmiedewerke GmbH in<br />
Bochum übernommen. Die VSG hatte die<br />
Räder geliefert, die die Eschede-Katastrophe<br />
1998 ausgelöst hatten; das<br />
Unternehmen wurde später in Bochumer<br />
Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise – Verantwortung<br />
Verein umbenannt. Der Bochumer Verein<br />
gehört zur Georgsmarienhütte, die sich<br />
wiederum zu 100 Prozent im privaten<br />
Eigentum eines gewissen Jürgen R.<br />
Großmann befindet. Jürgen R. Großmann<br />
war damals (und bis vor wenigen<br />
Wochen) im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender<br />
des Energiekonzerns RWE. Er<br />
ist Euro-Milliardär und einer der Reichsten<br />
im Lande … und Großmann ist seit<br />
mehreren Jahren Mitglied des Aufsichtsrats<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG.<br />
Das heißt: Der Privateigentümer von<br />
Bochumer Verein und Rafil, der zwei in<br />
Europa führenden Radsatz- und Radwellenhersteller,<br />
die beide zugleich Hauptlieferanten<br />
der DB AG und der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> sind, „kontrolliert“ die DB AG.<br />
Während die <strong>Bahn</strong> AG und die S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> GmbH Interesse an dauerfesten<br />
Radsatzwellen und an preisgünstig zu<br />
beziehenden Radsatzwellen haben müssen,<br />
sind die Interessen beim Eigentümer<br />
der genannten Radsatzwellen-Firmen<br />
Großmann deutlich anders gewichtet.<br />
Ihm kann es „nur“ darum gehen, dass<br />
seine Unternehmen weiter Hauptlieferant<br />
der DB AG bleiben. Nicht unrecht<br />
kann ihm sein, wenn zu überhöhten<br />
Preisen geliefert wird. Und wenn dabei<br />
gelegentlich Produkte in suboptimaler<br />
Qualität geliefert werden, dann ist das<br />
solange nicht geschäftsschädigend, wie<br />
man an neuen Zulieferungen verdient.<br />
Den Grünen war diese Personalie eine<br />
Anfrage bei der Bundesregierung wert.<br />
Die Antwort der Bundesregierung, wonach<br />
sie von der „Unabhängigkeit“ von<br />
Herrn Großmann ausgehe, ist grotesk<br />
bzw. weltfremd (Siehe Kasten)<br />
Die Bilanz lautet: Die offizielle Position<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG und im Großen<br />
und Ganzen diejenige der Bundesregierung<br />
lautet: Die „Schuld“ an dem<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Desaster haben die Hersteller<br />
und Manager der S-<strong>Bahn</strong> GmbH, die als<br />
Bauernopfer den Konzern verlassen haben<br />
oder in andere Positionen verschoben<br />
wurden. Die entscheidenden Ursachen<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Desasters – der Personalabbau<br />
und die Einsparungen bei Instandhaltung<br />
und Wartung, wurden<br />
nicht herausgearbeitet. Eine solche Krise<br />
kann sich damit grundsätzlich wiederholen.<br />
17
18<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Engpass Mensch als Tf<br />
Anfang 2012 widmeten sich zwei Ausgaben<br />
der Zeitschrift punkt 3 1, die von<br />
der S-<strong>Bahn</strong> GmbH und DB Regio herausgegeben<br />
wird, dem Fahrermangel bei der<br />
S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />
In der Januar-Ausgabe heißt es: „Vor<br />
besonderen Herausforderungen steht die<br />
Transportleitung dadurch, dass die Verfügbarkeit<br />
der Fahrzeuge schwankt und<br />
nicht genügend Lokführer einsetzbar<br />
sind.“ Zu diesem Zeitpunkt gab es noch<br />
eine öffentlich geführte Polemik über<br />
einen angeblich zu<br />
hohen Krankenstand bei<br />
den Triebfahrzeugführern.<br />
Weiter im Text:<br />
„Aktuell kann der aus<br />
verschiedenen Gründen<br />
mehrfach gestiegene<br />
Bedarf an Triebfahrzeugführern<br />
(Tf)<br />
nicht gedeckt werden,<br />
obwohl seit über einem<br />
Jahr mit voller Kraft<br />
neue Tf ausgebildet werden.<br />
Engpässe sind dabei<br />
die Kapazität im S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Simulator und die<br />
praktische Ausbildung<br />
im Führerstand. Im Vergleich<br />
zu Lokführern<br />
anderer <strong>Bahn</strong>en benötigen<br />
Tf der S-<strong>Bahn</strong><br />
wegen technischer Besonderheiten<br />
eine umfangreicheZusatzausbildung.<br />
Um künftig ausreichend Tf einsetzen<br />
zu können hat die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
neue Mitarbeiter gesucht. Sämtliche<br />
Ausbildungsplätze für 2012 sind jetzt<br />
vergeben.“<br />
Zwei Ausgaben später heißt es im<br />
Blatt punkt 3: „Engpässe bei Triebfahrzeugführern<br />
sorgen immer mal wieder<br />
für Einschränkungen im S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb.<br />
Es gibt zu wenig Personal, um unter Beachtung<br />
neuer Tarifregelungen den<br />
Fahrgastverkehr sowie alle Rangier- und<br />
Zuführungsfahrten stabil abzudecken<br />
und Krankenstände auszugleichen. Verstärkung<br />
für die Personaldecke zu schaffen,<br />
das hat deshalb höchste Priorität.“<br />
Wer verschwurbelt formuliert, hat<br />
meist etwas zu verbergen. Warum sollte<br />
bloß eine „PersonalDECKE verstärkt wer-<br />
den; alle Beteiligten wären zufrieden,<br />
wenn das Personal verstärkt werden<br />
würde. Welche „neuen Tarifregelungen<br />
im Fahrgastverkehr“ sollte es bloß gegeben<br />
haben? Dass der Fahrgastverkehr<br />
„stabil“ abzudecken und dass „Krankenstände<br />
auszugleichen“ sind, ist A und O<br />
bei einem S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb.<br />
Ganz offensichtlich hatte die Verstärkung<br />
des Personals eben keine Priorität.<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> wird seit fast drei Jahren mit<br />
einer Wagenflotte, die im Durchschnitt<br />
um 20 bis 30 Prozent unter der vertraglich<br />
zugesicherten Zahl an Fahrzeugen<br />
liegt, gefahren. Mehrfach wurde versprochen,<br />
in Bälde wieder im Normalbetrieb<br />
verkehren zu können. Es ist dabei<br />
leicht zu berechnen, wie viele Triebfahrzeugführer<br />
bei einem Normalbetrieb erforderlich<br />
sein würden. Die „Engpässe<br />
am Simulator“ und der spezifische Charakter<br />
der Ausbildung für die S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Berlin</strong> – mit dem ermüdenden Hinweis,<br />
diese sei ja „ein Unikat“ – überzeugen<br />
aus drei Gründen nicht.<br />
Erstens dauert die gesamte Ausbildung<br />
2 laut Angaben der DB AG nur „118<br />
Arbeitstage“, was „einem Zeitraum von<br />
einem halben Jahr“ entspricht. Dabei<br />
scheint eine der ursprünglichen Voraussetzungen<br />
zur Zulassung für diese Aus-<br />
bildung, die einer „abgeschlossenen Berufsausbildung“<br />
entspricht, nochmals<br />
aufgegeben worden zu sein. Die S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH führte 2012 eine „Berufsausbildung<br />
zum kombinierten Beruf Triebfahrzeugführer(in)<br />
/ Industriemechaniker(in)“<br />
ein.<br />
Zweitens heißt es in dem zitierten<br />
Text unzweideutig, dass „seit über einem<br />
Jahr“, also seit Anfang 2011, neue S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Fahrer ausgebildet werden würden.<br />
Ein Normalbetrieb war jedoch bereits<br />
mehrfach angekündigt,<br />
so für Anfang<br />
2010 und dann Anfang<br />
2011. Er hätte zu diesen<br />
Zeitpunkten voraussichtlich<br />
bereits wegen<br />
des „Tf-Engpasses“<br />
nicht realisiert werden<br />
können.<br />
Drittens schreibt die<br />
S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im<br />
Februar 2012 selbst,<br />
dass „derzeit vier Lehrgänge<br />
parallel“ laufen<br />
und „weitere vier mit<br />
12 bis 15 Teilnehmern<br />
dieses Jahr noch starten“<br />
würden (punkt 3,<br />
Nr. 4/2012). Ganz<br />
offensichtlich hat das<br />
Unternehmen recht<br />
plötzlich die Zahl der<br />
Auszubildenden massiv<br />
erhöht, da zu diesem<br />
Zeitpunkt – möglicherweise unerwartet<br />
– bereits wieder gut 470 Viertelzüge im<br />
Einsatz waren und nun anstelle der Ausfälle<br />
beim rollenden Material der Mangel<br />
an Triebfahrzeugführern zum entscheidenden<br />
Engpass wurde. Auch hier ist<br />
interessant, dass das Hochfahren der<br />
Zahl der in Ausbildung Befindlichen<br />
offensichtlich möglich war und dem<br />
Angeführten die „Engpässe am Fahrsimulator“<br />
nicht grundsätzlich im Weg<br />
standen.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Nr. 2/2012 vom 26. Januar 2012 und Nr. 4/<br />
2012 vom 23. Februar 2012.<br />
2 Die Ausbildung wird bezeichnet als „Erstausbildung<br />
zum Eisenbahnfahrzeugführer<br />
Klasse 3; Zulassung für alle öffentlichen<br />
Streckennetze“.<br />
Lunapark21·extra 6/2012
VII. Frühjahr 2012: Neues Stadium der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
Drei neue Elemente im S-<strong>Bahn</strong>-Desaster: Fahrermangel – <strong>Bahn</strong>höfe<br />
ohne Personal und Teilausschreibung des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebs<br />
In den ersten Monaten des Jahres 2012 wird die Bedeutung der Krise, das negative Image,<br />
das von der Unzuverlässigkeit des S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrs ausgeht, zumindest in den Medien<br />
kaum noch zur Kenntnis genommen. Das kann denen, die für die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Verantwortung<br />
haben, nur Recht sein: eine eingelullte Öffentlichkeit verschafft ihnen neuen Spielraum.<br />
Gelingt es, dass die vormals heftige Kritik abflaut und die Fahrgäste die S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Dauerkrise als eine Art Naturnotwendigkeit hinnehmen, dann kann dort weitergemacht<br />
werden, wo 2003 begonnen wurde: mit dem Abbau von Personal, Service und Qualität<br />
bei der S-<strong>Bahn</strong> zugunsten der Gewinnmaximierung des <strong>Bahn</strong>konzerns.<br />
Und so war es auch, als am 29. März<br />
2012 Rüdiger Grube im <strong>Berlin</strong>er Hotel<br />
Maritim die Jahresbilanz der Deutschen<br />
<strong>Bahn</strong> für das Jahr 2011 vorstellte. S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise in <strong>Berlin</strong>? Das war kein Thema<br />
mehr. Im Geschäftsbericht der DB für<br />
das abgelaufene Jahr taucht die S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> nur noch wie folgt auf: „Die betriebliche<br />
Lage bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> hat<br />
sich stabilisiert. Zum Fahrplanwechsel<br />
2011/2012 ist ein Fahrplanangebot mit<br />
rund 500 Viertelzügen im Fahrgastbetrieb<br />
umgesetzt worden.“ Im übrigen<br />
habe man den Fahrgästen weitere „zusätzliche<br />
Entschädigungsleistungen“ in<br />
Höhe von 50 Millionen Euro gewährt.<br />
Das war´s .<br />
Dass die verfügbaren und im Einsatz<br />
befindlichen S-<strong>Bahn</strong>-Wagen deutlich<br />
unter 500 Viertelzügen liegen (siehe<br />
unsere Fieberkurve auf Seite 13), dass<br />
vertraglich 562 Viertelzüge zugesichert<br />
sind, dass damit auch im ersten Vierteljahr<br />
2012 dauerhaft 12 bis 15 Prozent<br />
zu wenige S-<strong>Bahn</strong>-Wagen unterwegs<br />
waren – all das ist für die DB kein Thema.<br />
Zumal auch die Politik im Bund, in<br />
<strong>Berlin</strong> und im Land Brandenburg das<br />
Thema S-<strong>Bahn</strong>-Krise weitgehend ad acta<br />
gelegt hat. Der außerordentlich milde<br />
Winter, den es 2011/2012 gab, half bei<br />
diesem Krisen-Verdrängungsprozess. Dabei<br />
ist eigentlich allen aufmerksamen<br />
Beobachtern klar: Im Fall eines neuen<br />
harten Winters wird es im S-<strong>Bahn</strong>betrieb<br />
zu neuen deutlichen, möglicherweise<br />
auch wieder zu tiefen Einbrüchen<br />
kommen.<br />
Tatsächlich gelangt das S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Desaster 2012 in ein neues Stadium, das<br />
durch drei Elemente gekennzeichnet ist.<br />
Erstens durch den Mangel an Triebfahr-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
zeugführern, zweitens durch den nun<br />
definitiv geplanten flächendeckenden<br />
Abbau von Personal auf fast allen S-<br />
<strong>Bahn</strong>höfen und drittens durch die seitens<br />
des <strong>Berlin</strong>er Senats beschlossene<br />
Ausschreibung von Teilen des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Betriebs.<br />
Mangel an Fahrpersonal<br />
Als zum Jahreswechsel 2011/2012 immer<br />
mal wieder S-<strong>Bahn</strong>en ausfielen, weil<br />
kein Fahrpersonal für diese Züge vorhanden<br />
war, setzte zunächst eine Polemik<br />
über den angeblich „zu hohen Krankenstand“<br />
bei den Triebfahrzeugführern der<br />
S-<strong>Bahn</strong> ein. Das ließ sich nicht durchhalten.<br />
Der reale Krankenstand war<br />
durchschnittlich bzw. er entsprach den<br />
besonderen Anforderungen an das Fahrpersonal,<br />
die mit der Einführung von<br />
„ZAT“, der Zugabfertigung durch den<br />
Triebfahrzeugführer, deutlich gestiegen<br />
waren. Bald darauf gestand die S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH ein, dass es schlicht und einfach<br />
zu wenig Triebfahrzeugführer gibt.<br />
Irgendwie hat man vergessen, dass<br />
man zum Betreiben der allmählich wieder<br />
vergrößerten Fahrzeugflotte auch<br />
mehr Fahrpersonal benötigt. Jetzt heißt<br />
es, man werde „intensiv“ daran arbeiten,<br />
diesen Missstand zu beheben und inzwischen<br />
„verstärkt neues Fahrpersonal<br />
ausbilden“. Bis Mitte oder Herbst diesen<br />
Jahres 2012 sei dieses „Problem gehoben“.<br />
Die <strong>Berlin</strong>er Medien nahmen das<br />
überwiegend ohne allzu große Proteste<br />
zur Kenntnis. Tatsächlich ist es jedoch<br />
ein Skandal, dass nach drei Jahren<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Krise und nach zwei Jahren<br />
Arbeit, um die selbst verschuldeten<br />
technischen Probleme beim Fuhrpark in<br />
den Griff zu bekommen…. schlicht das<br />
Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Frühjahr 2012<br />
Personal fehlt, um die langsam steigende<br />
Zahl fahrbereiter S-<strong>Bahn</strong>-Züge auch zu<br />
betreiben (siehe den nebenstehenden<br />
Kasten S. 18).<br />
In der Folge kommt es seit April 2012<br />
zu neuen Einschränkungen des S-<strong>Bahn</strong>betriebs.<br />
Nunmehr in erster Linie aufgrund<br />
der zu geringen Zahl von Fahrpersonal.<br />
Zunächst wurde für März und<br />
April 2012 angekündigt, dass „an<br />
Wochenenden und an Feiertagen“ der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Betrieb auf einigen Linien (S25<br />
und S75) stark ausgedünnt würde. Die<br />
Linie S45 stellt an Wochenenden und<br />
Feiertagen den Betrieb komplett ein. Zur<br />
Linie S85 (nach Grünau), die seit Beginn<br />
der S-<strong>Bahn</strong>-Krise aufgegeben wurde,<br />
heißt es, diese werde auch „auf absehbare<br />
Zeit nicht wieder in Betrieb genommen“.<br />
Und warum? Weil in Grünau alle<br />
zu Hause bleiben? Weil dort alle ein<br />
Sabbat-Jahr ohne S-<strong>Bahn</strong> einlegen?<br />
Abbau des Personals<br />
auf den S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />
Weitgehend zum gleichen Zeitpunkt<br />
ging die S-<strong>Bahn</strong> GmbH wieder in die<br />
Offensive beim Abbau des Personals auf<br />
den S-<strong>Bahn</strong>höfen. Die weitgehende Umstellung<br />
auf „ZAT = Zugabfertigung<br />
durch Triebfahrzeugführer“ war 2008<br />
ausgebremst worden. Der offizielle<br />
Grund waren technische Probleme. Die<br />
Tiefe der S-<strong>Bahn</strong>krise und die öffentlichen<br />
Proteste gegen die Auszehrungspolitik,<br />
die der <strong>Bahn</strong>konzern gegenüber seiner<br />
Tochter S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH betrieb,<br />
dürften dabei jedoch auch eine Rolle gespielt<br />
haben.<br />
2012 sollen die technischen Probleme<br />
gelöst sein. „ZAT“ soll in Zukunft funktionieren,<br />
ohne dass der Triebfahrzeug-<br />
19
20<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Senkt Wettbewerb die Kosten?<br />
In der aktuellen Debatte um die Zukunft<br />
der S-<strong>Bahn</strong> wird argumentiert, eine Ausschreibung<br />
von Teilen des S-<strong>Bahn</strong>-Netzes<br />
mache Sinn, weil damit „der Wettbewerb“<br />
gestärkt und die Deutsche <strong>Bahn</strong><br />
AG bei all ihrem – unbestritten gut dokumentierten<br />
– Missmanagement endlich<br />
durch eine solche Konkurrenz „Druck<br />
bekommen“ würde. Im Ergebnis gäbe es<br />
insgesamt dann eine S-<strong>Bahn</strong> mit niedrigeren<br />
Kosten und besserer Qualität.<br />
Dabei wird<br />
jedoch oft vergessen,<br />
dass es keinen<br />
wirklichen Wettbewerb<br />
auf den<br />
Schienen geben<br />
kann. Was die<br />
Wettbewerbsbefürwortertatsächlich<br />
meinen, ist ein<br />
Ausschreibungswettbewerb:Unternehmenbewerben<br />
sich um die<br />
Konzession, eine<br />
bestimmte Strecke<br />
für einen Zeitraum<br />
von zehn oder 15<br />
Jahren zu betreiben,<br />
und wer den<br />
Zuschlag<br />
bekommt, betreibt den Verkehr dann für<br />
diesen Zeitraum als Monopolist.<br />
Da öffentlicher Verkehr im allgemeinen<br />
und insbesondere öffentlicher<br />
Schienenverkehr unter den gegebenen<br />
Bedingungen des Verkehrsmarktes nur<br />
durch staatliche Unterstützungszahlungen<br />
kostendeckend zu betreiben ist, geht<br />
es bei dem Ausschreibungswettbewerb<br />
auch darum, wer in den Genuss dieser<br />
Subventionen kommen wird. Es geht im<br />
Endeffekt also um Staatsgelder.<br />
Und weil zu einer Zeit immer nur ein<br />
Zug auf der Strecke fahren kann, wäre es<br />
auch kaum möglich, einen alternativen<br />
Verkehr auf den gleichen Gleisen anzubieten<br />
– schon gar nicht im dicht befahrenen<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Netz.<br />
Schienenverkehr ist also ein natürliches<br />
Monopol (ähnlich wie z.B. die Wasserversorgung<br />
oder Energienetze). Es<br />
spricht vieles dafür, dass ein solches Monopol<br />
am besten von der öffentlichen<br />
Hand und aus einer Hand betrieben<br />
wird, um eine zuverlässige Versorgung<br />
sicherzustellen. Ein privater Betreiber<br />
hat hingegen immer den Anreiz, seine<br />
Monopolstellung auszunutzen und damit<br />
seine Gewinne zu maximieren –<br />
einerseits durch die Senkung der Kosten<br />
durch eine Reduktion von Qualität und<br />
Zuverlässigkeit, andererseits durch die<br />
Steigerung der Fahrpreise und der Nebenkosten<br />
und durch höhere Subventio-<br />
nen. Diese Tendenz gibt es jedoch auch<br />
bei staatlich organisierten Verkehrsbetrieben<br />
und insbesondere bei solchen,<br />
die mit ihrer Organisationsform (einer<br />
AG oder GmbH) auf Profitmaximierung<br />
ausgerichtet werden. Kommt dann noch<br />
ein vom Eigentümer öffentliche Hand<br />
mitgetragener Beschluss wie ein Börsengang<br />
hinzu, ist erst recht das Resultat<br />
eine solche Orientierung auf Profitmaximierung,<br />
Expansion usw. Dennoch gibt<br />
es auch hier einen entscheidenden Unterschied<br />
zwischen einem Unternehmen<br />
wie der DB AG und einem rein privaten<br />
Konzern wie z.B. Veolia (ehemals Connex):<br />
die DB AG kann durch einen politischen<br />
Beschluss (der Bundesregierung,<br />
im Bundestag) und durch politischen<br />
Druck zu einem öffentlichen Unternehmen,<br />
das ausschließlich die Interessen<br />
der Fahrgäste und der Beschäftigten im<br />
Zentrum hat, „zurückgebaut“ werden.<br />
Bei Veolia ist das nicht oder nur mit Ent-<br />
eignung vorstellbar.<br />
Die Negativbilanz der Ausschreibung<br />
und der Trennung von Netz und Betrieb<br />
lässt sich auch empirisch dokumentieren:<br />
In Großbritannien basiert seit der<br />
Privatisierung Mitte der 1990er Jahre<br />
das gesamte <strong>Bahn</strong>system auf solchen<br />
Ausschreibungswettbewerben. Die<br />
Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Sauberkeit<br />
der Züge ist überwiegend<br />
schlecht – bei sehr hohen Fahrpreisen<br />
und einer großen<br />
Unübersichtlichkeit<br />
des Systems mit 25<br />
<strong>Bahn</strong>gesellschaften.<br />
Laut einer Studie<br />
aus dem Jahr 2011<br />
(„Rail Value for<br />
Money Report“ alias<br />
„McNulty-<br />
Report“) ist der<br />
<strong>Bahn</strong>verkehr im<br />
Land ca. 40 Prozent<br />
ineffizienter als<br />
derjenige anderer<br />
<strong>Bahn</strong>en in Europa.<br />
Diese „Effizienzlücke“<br />
ist seit der Privatisierungerheblich<br />
größer geworden.<br />
Die privaten<br />
<strong>Bahn</strong>en erhalten<br />
auch höhere Subventionen als die<br />
Staatsbahn vor der Privatisierung. Ein<br />
Personenkilometer (also ein Durchschnittskilometer,<br />
den eine Person mit<br />
der <strong>Bahn</strong> zurücklegt) ist in Großbritannien<br />
fast doppelt so teuer wie in der<br />
Schweiz, die ein komplett öffentliches<br />
<strong>Bahn</strong>system hat.<br />
Die Studie nennt auch die Gründe:<br />
Neben einer zu starken Regulierung –<br />
wobei eine geringere Regulierung die<br />
Risiken noch erhöhen würde – sind es<br />
die fragmentierten Strukturen durch die<br />
Aufsplittung in eine Vielzahl von Unternehmen.<br />
Daher fordert eine breite Mehrheit der<br />
Britinnen und Briten: „Re-nationalise<br />
the Railways“. Auch zwei Drittel der<br />
Deutschen sprechen sich gegen eine<br />
<strong>Bahn</strong>privatisierung aus – man muss<br />
nicht jeden Fehler wiederholen, der<br />
andernorts schon gemacht worden ist.<br />
Bernhard Knierim<br />
Lunapark21·extra 6/2012
führer aus seinem Führerstand und auf<br />
den <strong>Bahn</strong>steig tritt. Kameras über den<br />
<strong>Bahn</strong>steigkanten nehmen haltende S-<br />
<strong>Bahn</strong>en ins Visier. Die Bilder werden in<br />
den Führerstand per Funk übertragen,<br />
wo sie auf einem Bildschirm vor dem<br />
Fahrer erscheinen. Entsprechend sollen<br />
die Fahrer im Führerstand die Lage überblicken<br />
und entscheiden können, wann<br />
die Türen frei sind und sie weiterfahren<br />
können. Soweit die Theorie. In der Praxis<br />
dürfte es tausendundeine Möglichkeit<br />
geben, dass das dann auch mal nicht<br />
funktioniert – womit in vielen Fällen die<br />
Weiterfahrt schlicht blockiert werden<br />
wird.<br />
Es handelt sich hier in doppelten Hinsicht<br />
um einen radikalen Schritt: Erstens<br />
wird eine Selbstverständlichkeit, die 100<br />
Jahre lang galt, aufgegeben, wonach es<br />
auf einem S-<strong>Bahn</strong>hof auch Personal gibt.<br />
Wobei dieses Personal nicht allein rein<br />
technisch bedingt ist, sondern ganz allgemein<br />
Ansprechpartner für Fahrgäste<br />
und Teil der allgemeinen Sicherheit ist.<br />
Zweitens wird damit ein drastischer Abbau<br />
von Service vollzogen, dessen Folgen<br />
man kurzfristig nicht sehen, sondern<br />
bestenfalls erahnen kann. Ganze Gruppen<br />
von Fahrgästen werden mit dieser<br />
Maßnahme in ihrer Mobilität drastisch<br />
eingeschränkt. Das gilt z. B. für Menschen<br />
mit Gehbehinderung. Drittens<br />
wird erneut die Zahl der S-<strong>Bahn</strong>beschäftigten<br />
reduziert und der Stress bei den<br />
Nochbeschäftigten, so beim Fahrpersonal,<br />
deutlich erhöht.<br />
Doch die S-<strong>Bahn</strong> und damit auch die<br />
Konzernzentrale der DB wollen 2012<br />
diesen Personal- und Serviceabbau ohne<br />
Abstriche durchziehen. Proteste werden<br />
nicht ernstgenommen. So äußerte Klaus<br />
Eisenreich, der Landesgeschäftsführer<br />
der Gewerkschaft der Polizei: „Das lässt<br />
die Sicherheitslage im ÖPNV nicht zu.<br />
Damit wälzt die S-<strong>Bahn</strong> ein Problem, das<br />
sie eigentlich lösen muss, auf die Polizei<br />
ab.“ (<strong>Berlin</strong>er Zeitung 14.9.2011). Gelegentlich<br />
auftretende Polizei anstelle von<br />
regelmäßig eingesetztem Personal auf<br />
den <strong>Bahn</strong>höfen verschlechtern das<br />
Image des ÖPNV deutlich.<br />
Ausschreibung heißt<br />
Zerschlagung<br />
Am 13. April 2012 berichtete die <strong>Berlin</strong>er<br />
Morgenpost: „Entscheidung: Senat sucht<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
neuen Betreiber für die S-<strong>Bahn</strong> (…) Der<br />
Senat wird den Betrieb der Ringbahn<br />
und der südöstlichen Linien für 15 Jahre<br />
ab 2017 in einem Wettbewerbsverfahren<br />
ausschreiben. Jedoch soll das Abgeordnetenhaus<br />
letztlich darüber entscheiden<br />
dürfen, ob der ausgewählte Bieter zum<br />
Zuge kommt.“ Die Entscheidung, die bei<br />
Redaktionsschluss dieser Publikation<br />
noch nicht alle Hürden in Senat und<br />
Abgeordnetenhaus genommen hat,<br />
stellt, wenn es bei ihr bleibt, in dreierlei<br />
Hinsicht einen tiefen Einschnitt in der<br />
Geschichte der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> dar. Erstens<br />
hinsichtlich des Umfangs: Damit<br />
wird ein großer Teil des S-<strong>Bahn</strong>betriebs<br />
auf den Weg der Privatisierung gebracht.<br />
Allein die Ringstrecke hat eine Länge<br />
von 37 km; auf ihr werden, wenn es<br />
denn einmal wieder Vollbetrieb geben<br />
sollte, pro Werktag 400000 Fahrgäste<br />
befördert. Insgesamt entsprechen die zur<br />
„Teilausschreibung“ vorgesehenen Strecken<br />
einem Drittel des gesamten S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Betriebs. Zweitens wird damit den<br />
Tendenzen der neoliberalen Verkehrspolitik<br />
zur Privatisierung des öffentlichen<br />
Verkehrs Vorschub geleistet. Wenn eine<br />
solche Ausschreibung einmal erfolgt ist,<br />
hat die EU und haben Gerichte weit bessere<br />
Möglichkeiten als bisher, die Privatisierung<br />
der gesamten S-<strong>Bahn</strong> und weiterer<br />
Teile des Öffentlichen Verkehrs in<br />
<strong>Berlin</strong> und durchaus auch anderswo – so<br />
beispielsweise bei der S-<strong>Bahn</strong> Hamburg<br />
– einzufordern. Der immer wieder als<br />
Beschwichtigung zitierte „Parlamentsvorbehalt“<br />
ist eine außerordentlich brüchige<br />
Brücke. Es kann durchaus sein,<br />
Die S-<strong>Bahn</strong>-Krise Frühjahr 2012<br />
dass ein privater Anbieter, der den Zuschlag<br />
erhielt und der dann doch noch<br />
durch eine Entscheidung des Abgeordnetenhauses<br />
kurzfristig ausgebremst wird,<br />
am Ende auf gerichtlichem Weg zum<br />
Zuge kommt und neuer S-<strong>Bahn</strong>-Betreiber<br />
wird. Auch ein privates Unternehmen,<br />
das bereits im Bieterverfahren<br />
scheiterte, kann danach auf juristischer<br />
Ebene dazwischen grätschen und beispielsweise<br />
hohe Schadenersatzforderungen<br />
stellen.<br />
Drittens schließlich läuft die Entscheidung<br />
des SPD-CDU-Senats auf eine Zerschlagung<br />
der Einheit von Infrastruktur<br />
und S-<strong>Bahn</strong>betrieb hinaus. Was rund<br />
hundert Jahre lang gut funktionierte und<br />
was für Eisenbahner ein Grundelement<br />
für einen sicheren und effizienten Betrieb<br />
ist, diese Einheit von Infrastruktur<br />
(von Trassen, <strong>Bahn</strong>höfen, Signaltechnik)<br />
und Betrieb (von Fahrten mit S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Zügen auf diesem Netz) wird in Frage<br />
gestellt. Zu den fatalen Folgen, die dies<br />
hat, siehe den nebenstehenden Kasten.<br />
Gerade diese jüngste Entscheidung<br />
unterstreicht die Notwendigkeit, die<br />
Öffentlichkeit zum Erhalt der S-<strong>Bahn</strong> zu<br />
mobilisieren. In der <strong>Berlin</strong>er Morgenpost<br />
war zu lesen: „Eine Vergabe des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Betriebs an ein privates Unternehmen<br />
sei in der <strong>Berlin</strong>er SPD politisch nicht<br />
durchsetzbar, sagte ein führender Sozialdemokrat.<br />
Zumal eine Bürgerinitiative<br />
mit Unterstützung von Gewerkschaften<br />
ein Volksbegehren gegen eine Teilprivatisierung<br />
anstrebt, was die SPD zusätzlich<br />
unter Druck setzt.“ (13.4.2012).<br />
So ist es.<br />
21
22<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Lunapark21·extra 6/2012
VII. „Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“ – stimmt das?<br />
Auf dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
betonten die Top-Manager des <strong>Bahn</strong>konzerns<br />
immer wieder, es treffe nicht<br />
zu, dass die S-<strong>Bahn</strong> zum Zweck der Profitmaximierung<br />
ausgequetscht worden<br />
sei. Vielmehr, so Grube, habe der <strong>Bahn</strong>konzern<br />
mit der S-<strong>Bahn</strong> Verluste eingefahren;<br />
die <strong>Bahn</strong> werde sogar bis einschließlich<br />
2014 draufzahlen. Wobei<br />
inzwischen die Kosten, die die S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Krise verursacht, mit als „Belastung“<br />
angeführt werden (siehe<br />
S. 14). Seltsamerweise weigert<br />
sich der <strong>Bahn</strong>chef<br />
gleichzeitig strikt, diesen<br />
„Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“<br />
zu verkaufen. Eine entsprechende<br />
Anfrage des<br />
<strong>Berlin</strong>er Senats vom Dezember<br />
2011 wurde abschlägig<br />
beschieden. Begründet<br />
wird dies damit,<br />
dass die S-<strong>Bahn</strong> ja Teil<br />
des „Kerngeschäfts“ der<br />
DB sei, dass es schließlich<br />
um den S-<strong>Bahn</strong>-Verkehr<br />
„in der deutschen Hauptstadt“<br />
gehen würde.<br />
Das klingt reichlich verantwortungsbewusst<br />
und höchst<br />
ungewohnt für den <strong>Bahn</strong>konzern<br />
im allgemeinen und für<br />
einen <strong>Bahn</strong>chef Rüdiger Grube<br />
im besonderen. Hatte letzterer<br />
doch jüngst im Zusammenhang mit<br />
Stuttgart 21 als seine Devise formuliert:<br />
„Cash in Däsch / is the name / of the<br />
game“.<br />
Ein näherer Blick hinter die Bilanz-<br />
Kulissen ergibt ein anderes Bild. Die<br />
S-<strong>Bahn</strong> GmbH führte bis zum offenen<br />
Ausbruch der S-<strong>Bahn</strong>-Krise Jahr für Jahr<br />
steigende Gewinne an den DB-Konzern<br />
ab. Insgesamt waren dies im Zeitraum<br />
2002 bis 2008 120 Millionen Euro. Da<br />
diese Gewinnquelle in Folge der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Krise versiegte, entstand der Eindruck,<br />
dass der <strong>Bahn</strong>konzern der S-<strong>Bahn</strong> keine<br />
Gelder mehr entziehen könne. Es gibt jedoch<br />
andere Transfers. Den größten Posten<br />
machen dabei die Trassenentgelte<br />
aus. Die S-<strong>Bahn</strong> zahlt pro Jahr rund 135<br />
Millionen Euro an DB Netz für die Trassennutzung.<br />
Im Zeitraum 2006 bis 2010<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
flossen von der S-<strong>Bahn</strong> an DB Netz 667<br />
Millionen Euro; einschließlich der Zahlungen<br />
im abgelaufenen Jahr 2011 waren<br />
es rund eine Milliarde Euro. Da die<br />
Trassenpreise deutlich angehoben wurden<br />
– sie stiegen im Zeitraum 2002 bis<br />
2010 um rund 25 Prozent – und da die<br />
<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> je Fahrzeugkilometer<br />
deutlich höhere Trassenpreise bezahlt als<br />
die S-<strong>Bahn</strong>en in Hamburg oder München<br />
– blieb auch das<br />
Niveau, das die<br />
S-<strong>Bahn</strong> GmbH an<br />
DB Netz abführte, in den Jahren der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Krise weitgehend erhalten. 1<br />
Darüber hinaus zahlt die S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH an den DB Konzern Gebühren für<br />
die Nutzung der <strong>Bahn</strong>höfe (zu zahlen an<br />
DB Station und Service), Gelder für Energie<br />
(zu bezahlen an DB Energie GmbH)<br />
und eine „Managementumlage“ (die an<br />
die Holding DB AG bezahlt werden dürfte).<br />
Für das Jahr 2008 liegen hierzu die<br />
folgenden, einigermaßen gesicherten<br />
Zahlen für die unterschiedlichen Transfers<br />
vor:<br />
• Trassenentgelte: 137 Mio Euro<br />
• Station und Service: 140 Mio Euro<br />
• DB Energie: 49 Mio Euro<br />
• Managementumlage: 34 Mio Euro<br />
• Gewinnabführung: 56 Mio Euro.<br />
Verlustbringer S-<strong>Bahn</strong>?<br />
In der Summe sind dies 416 Millionen<br />
Euro. Das ist ein stolzer Betrag an Transfers.<br />
2 Zumal der gesamte Unternehmensumsatz<br />
der S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im<br />
genannten Jahr 2008 „nur“ 760 Millionen<br />
Euro ausmachte (260 Mio Euro Regionalisierungsgelder<br />
und 598 Mio Euro<br />
Fahrgeldeinnahmen). Damit entsprechen<br />
die aufgeführten Transfers an den DB-<br />
Konzern 55 Prozent des gesamten Umsatzes<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH.<br />
Natürlich stehen den Zahlungen<br />
an den DB Konzern auch<br />
Leistungen der anderen DB<br />
Konzern-Töchter, an die transferiert<br />
wird, gegenüber. Zu prüfen<br />
wäre jedoch, ob diese Leistungen<br />
auch der Höhe der<br />
Transfers entsprechen. Um<br />
auf die eingangs erwähnte<br />
Summe der Trassenentgelte<br />
im Zeitraum 2002 bis 2011<br />
anzusprechen: Belegt werden<br />
müsste, dass DB Netz in<br />
diesem Zeitraum für den<br />
Unterhalt, die Erneuerung<br />
und den Ausbau des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Netzes tatsächlich eine Milliarde<br />
Euro investiert hat.<br />
Bevor man die Worte von Rüdiger<br />
Grube, wonach der DB Konzern<br />
bei der S-<strong>Bahn</strong> draufzahle,<br />
für bare Münze nimmt, ist eine<br />
Offenlegung der gesamten Rechnungsführung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH<br />
und derjenigen zwischen der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> und dem DB-Konzern zu fordern.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Die exakten Zahlen lauten: 2006 zahlte die<br />
S-<strong>Bahn</strong> GmbH 134 Mio Euro an DB Netz,<br />
2007: 133 Mio; 2008: 137 Mio; 2009: 128<br />
Mio und 2010: 135 Mio Euro. Nach: Antwort<br />
der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage<br />
der Abgeordneten Sabine Leidig und der<br />
Fraktion DIE LINKE vom 19. 12. 2011;<br />
Bundestagsdrucksache 17/8219.<br />
2 Es dürfte noch andere Transfers geben. So<br />
zahlte die S-<strong>Bahn</strong> GmbH 2008 allein für die<br />
S-<strong>Bahn</strong>höfe Grünau, Oranienburg, Schöneweide,<br />
Friedrichsfelde, Bernau und Erkner an<br />
den DB-Konzern 2,8 Millionen Euro für Erbbaupacht;<br />
für einen PC-Arbeitsplatz im Bereich<br />
der S-<strong>Bahn</strong> Gmbh sind jährlich 3700<br />
Euro an DB Systel abzuführen.<br />
23
24<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Welche S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge? Oder:<br />
Warum Vielfalt auch Einfalt sein kann<br />
Anmerkungen zur Debatte um die Neubeschaffung von Fahrzeugen für die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Dieter Doege<br />
Bei der vom <strong>Berlin</strong>er Senat 2011 und 2012 in die Wege geleiteten Markterkundung bleiben die S-<strong>Bahn</strong> Fahrzeuge<br />
der 481er Baureihe unberührt. Es geht um die Bestellung von 73 Halbzügen mit jeweils vier Wagen und 28 Viertelzügen<br />
mit jeweils zwei Wagen, also insgesamt um 348 Wagen und nicht, wie vielfach berichtet, um 348 Züge.<br />
Anders formuliert: Die genannten 348 Wagen entsprechen 174 Viertelzügen, das sind Züge jeweils mit vier Wagen.<br />
Derzeit verfügt die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> über<br />
insgesamt 650 Viertelzüge. Diese teilen<br />
sich auf die drei Baureihen BR 481 (500<br />
Viertelzüge), BR 480 (70 Viertelzüge)<br />
und BR 485 (80 Viertelzüge) auf. Hiervon<br />
waren in den Jahren der offenen S-<br />
<strong>Bahn</strong>krise zwischen Anfang 2009 und<br />
Anfang 2012 nur eine drastisch verminderte,<br />
wechselnde Anzahl von S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Zügen unterwegs: zwischen 430 Viertelzügen<br />
und im ungünstigsten Fall nur<br />
155 Viertelzügen. Zur Kompensation<br />
technischer und betrieblicher Einschränkungen<br />
hält ein Verkehrsunternehmen<br />
Reserven bereit: Bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
sind das 70 Viertelzüge. Unter normalen<br />
Bedingungen stehen damit der S-<strong>Bahn</strong><br />
für den Betrieb planmäßig 580 Viertelzüge<br />
von insgesamt 650 Viertelzügen<br />
zur Verfügung. Dieses entspricht einer<br />
Quote der technischen Flottenverfügbarkeit<br />
von gut 89 Prozent und einer Betriebs-<br />
und Instandhaltungsreserve von<br />
rund 11 Prozent.<br />
Nach den Vorstellungen des Fahrgastverbandes<br />
PRO BAHN <strong>Berlin</strong>/Brandenburg<br />
ist die beabsichtigte Ausschreibung<br />
von 174 Viertelzügen sinnvoll und für<br />
den geplanten Ersatz der insgesamt 150<br />
Viertelzüge aus den Baureihen 480 und<br />
485 - siehe oben - auch angemessen. Es<br />
ist allerdings in diesem Zusammenhang<br />
unerlässlich, den Zeitplan für die Herstellung<br />
dieser geplanten Bestellung von<br />
174 Viertelzügen genauer zu durchleuchten.<br />
Grundbedingungen<br />
extremen finanziellen Verlusten korri-<br />
Erarbeitet werden muss ein überaus reagierbar.listisches, also belastbares Arbeitsszena- Was man in jedem Fall überlegen sollrio<br />
für einen sinnvollen, das heißt wirtte und was durchaus ratsam erscheint,<br />
schaftlichen und nach Möglichkeit stö- das wäre, eine neue Betriebsform für<br />
rungsfreien Produktionsablauf für neue den <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-Ring zu finden.<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge. Dabei ist ein ausrei- Ähnlich der Nürnberger U-<strong>Bahn</strong>, die auf<br />
chender Zeitrahmen im Anfangsstadium einzelnen Linien in einer Mischform von<br />
der Entwicklung dieser Fahrzeuge und herkömmlich manuell sowie vollständig<br />
der Prototypen-Erprobung extrem wich- automatisierten, fahrerlosen Fahrzeugen<br />
tig. Jede notwendig gewordene Ände- betrieben wird, könnte der <strong>Berlin</strong>er S-<br />
rung an einem ausreichend lang getes- <strong>Bahn</strong>-Ringverkehr zukünftig automatiteten<br />
Prototypen erspart um ein Vielfasiert ablaufen. Damit wäre die Dichte<br />
ches zeitintensivere Nacharbeiten an des Zugverkehrs weitgehend kostenneu-<br />
einer Serie von 348 Wagen. Erwähnt tral ausschließlich über die Fahrgast-<br />
werden muss hier auch mit Blick auf die nachfrage zu steuern. Die freiwerdenden<br />
vielfachen Hinweise auf das „Unikat S- Triebfahrzeugführer können nicht nur<br />
<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“, dass diese Stückzahl unter zum Abbau des akuten Fahrermangels<br />
eisenbahntechnischen Bedingungen beitragen, sondern auch als kompetente<br />
bereits eine Großserie darstellt. <strong>Bahn</strong>hofsaufsichten endlich den frühe-<br />
Dazu gehört, die betrieblichen Anforren Servicegedanken der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />
derungen zu hinterfragen. <strong>Berlin</strong>er S- neu beleben.<br />
<strong>Bahn</strong>-Wagen sind Sonderfahrzeuge, die<br />
zu keinem anderen Eisenbahnnetz pas- Lehren aus der Vergangenheit<br />
sen. Diese können bis zum Ende ihrer Vom Fahrzeugtyp liegen die <strong>Berlin</strong>er S-<br />
Lebensdauer ausschließlich auf dem Ber- <strong>Bahn</strong>wagen in der Fertigungsbreite zwiliner<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Netz eingesetzt werden. Es schen Straßen- und Voll-Eisenbahnen.<br />
macht keinen Sinn, dieses ohnehin rela- Im Gegensatz zu den früheren langen<br />
tiv begrenzte S-<strong>Bahn</strong>-Netz durch unter- Erprobungszeiten von zehn und mehr<br />
schiedliche Vorgaben in verschiedene Jahren geht der Trend in der Schienen-<br />
Bereiche zu zerteilen. Das gilt für die fahrzeug-Herstellung immer stärker zu<br />
Fahrzeuge ebenso wie für mögliche Be- kurzfristigen Realisierungen. Das ist oft<br />
treiber. Eine einmal getroffene Entschei- mit verheerenden Folgen verbunden: So<br />
dung beeinflusst den S-<strong>Bahn</strong>verkehr der musste im Straßenbahnbereich vor acht<br />
Bundeshauptstadt <strong>Berlin</strong> auf die Dauer Jahren eine ganze Fahrzeugserie mit 500<br />
von 30 bis 40 Jahren und wäre nur mit schadhaften, fehlkonstruierten <strong>Bahn</strong>en<br />
Lunapark21·extra 6/2012
aus dem Verkehr gezogen werden.<br />
Jüngst hatte die Stadt München das<br />
große Problem, neu gekaufte Straßenbahnfahrzeuge<br />
wegen mangelnder Zulassung<br />
zwei lange Jahre lang verwendungsunfähig<br />
in der Remise abstellen zu<br />
müssen. Es gibt allerdings auch nachahmenswerte<br />
Beispiele, wiederum aus dem<br />
Straßenbahn-Bereich. So hat die BVG<br />
<strong>Berlin</strong> vor der endgültigen Vergabe von<br />
rund 200 Fahrzeugen vier Prototypen<br />
zwei Jahre lang auf Herz und Nieren im<br />
rauen Fahrgastbetrieb getestet – überaus<br />
erfolgreich, wie man inzwischen<br />
weiß. Nicht nur aus Fahrgastsicht hat<br />
sich also diese Vorgehensweise der BVG<br />
ausgezahlt.<br />
Produktion und Erprobung<br />
neuer S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge<br />
Eine längere Erprobungsphase schafft<br />
eine größere Sicherheit vor mängelbehafteten<br />
Fahrzeugen. Sie hat allerdings<br />
den großen Nachteil, dass die Lieferzeit<br />
um die Erprobungsphase verlängert wird.<br />
Dies macht die Fahrzeuge wegen der<br />
dann erforderlichen Produktionspause<br />
teurer.<br />
Die Aussagekraft der Erprobungs-Ergebnisse<br />
muss durch eine ausreichende<br />
Anzahl von Zugeinheiten gestützt werden.<br />
Eine erste Serie von 32 Wagen ließe<br />
sich unter Serien-Bedingungen fertigen.<br />
Sie böte in der Bandbreite zwischen vier<br />
Vollzügen und acht Halbzügen die Möglichkeit<br />
ausreichender Fahrzeug-Kombinationen<br />
und später auch im Zugverband<br />
hinreichend untersetzte Test-Ergebnisse.<br />
Sollten nach dem Abschluss<br />
der Testphasen Nachbesserungen erforderlich<br />
werden, bleibt dennoch der Aufwand<br />
vertretbar.<br />
Die Erprobungsdauer im Streckenbetrieb<br />
sollte sechs bis sieben Monate keinesfalls<br />
unterschreiten. Dabei muss nach<br />
den bisherigen Erfahrungen zwingend<br />
eine Sommerperiode und eine Winterzeit<br />
erfasst werden. Um unter den vorgenannten<br />
Bedingungen bis Ende 2017<br />
eine halbwegs ausreichende Anzahl von<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeugen mit der Chance auf<br />
störungsfreien Betrieb zu bekommen,<br />
würde eine Auftragsvergabe mit dem<br />
Abschluss des ersten Quartals 2013<br />
erforderlich. Mit den derzeit in der Fahrzeug-<br />
und vor allem in der Zulieferindustrie<br />
üblichen Fristen wäre die Fertig-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Welche S-<strong>Bahn</strong>-Fahrzeuge?<br />
stellung des ersten Vorserien-Zuges und wegen der abweichenden Ausrüstungen<br />
dessen Inbetriebnahme etwa im dritten sogar noch ein vierter, weiter kostenstei-<br />
Quartal 2015 denkbar.<br />
gernder Wagentyp notwendig.<br />
Grundlagen der S-<strong>Bahn</strong>-Flotte<br />
Wegen der weit überdurchschnittlichen<br />
Kosten bei derart kleinen Stück-<br />
Selbst bei Einhaltung all dieser Bedinzahlen sollte darauf unbedingt verzichgungen<br />
bleibt das vorgenannte Produktet werden. Der Fahrzeug-Hersteller solltions-<br />
und Erprobungsszenario ante variantenarm planen und effektiv und<br />
spruchsvoll. Nach lückenloser Auswer- kostengünstig produzieren können. Zwar<br />
tung aller vorhandenen Studien und Un- können durch den Verzicht auf die beitersuchungsberichte<br />
zur <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> den Optionen mit den neuen Fahrzeugen<br />
waren eine Vielzahl von Details in teil- keine Zwei- und Sechs-Wagenzüge<br />
weise überraschendem Zusammenwirken gefahren werden, doch wiegt der große<br />
die Ursache für das im begrenzten Um- Vorteil einer überzeugenden Vereinfafang<br />
immer noch nachwirkende S-<strong>Bahn</strong>- chung des Wagenparks diesen Nachteil<br />
Desaster.<br />
mehr als auf. Im Übrigen wird durch<br />
Daher müssen bei der im Volumen abgetrennte Zwei-Wagenzüge ohne<br />
stets begrenzten S-<strong>Bahn</strong>-Flotte mög- Übergangsmöglichkeit die subjektive<br />
lichst einfache, standardisierungsfähige Sicherheit halbiert und die Notwendig-<br />
Vorgaben gesetzt werden. Die in den keit von Sechs-Wagenzügen auf der<br />
Fahrzeuganforderungen des Senats er- <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> ist eher als gering einkennbare<br />
Idee eines einfach strukturierzustufen.ten Wagenparks mit im Prinzip nur zwei<br />
unterschiedlichen Fahrzeugtypen – be- Grundlagen der Fahrzeuge<br />
stehend aus dem Endwagen mit Führer- Eine anerkannte Faustformel besagt,<br />
stand und Fahrzeugübergang sowie dem dass sich die Kosten im überaus langen<br />
Zwischenwagen mit zwei Fahrzeugüber- Leben eines Schienentriebfahrzeugs zu<br />
gängen – ist richtig.<br />
etwa gleichen Teilen auf den Anschaf-<br />
Da die auf Grund der komplexen techfungspreis, den Energieverbrauch und<br />
nischen Fahrzeug-Anforderungen inzwi- die Wartung verteilen. Im Sinne des späschen<br />
sehr umfangreich gewordene Austeren Betreibers sowie der Fahrgäste<br />
rüstungs- und Steuerungstechnik auf müssen vor allem niedrige Betriebskos-<br />
zwei S-<strong>Bahn</strong>-Wagen verteilt werden ten und somit indirekt akzeptable Fahr-<br />
muss, stellt sich die kleinste Fahrzeugpreise durch die Bewertungskriterien in<br />
einheit als dauerhaft gekuppeltes Wa- der Ausschreibung abgesichert sein.<br />
genpaar aus Endwagen mit Führerstand Hierzu ist zwingend erforderlich, dass<br />
und Zwischenwagen mit Fahrzeugüber- die präventive Sicht auf Zuverlässigkeit,<br />
gang dar. Dieses als Viertelzug bezeich- Energieeffizienz, Verfügbarkeit und Warnete<br />
Wagenpaar bildet mit einem zweitungsarmut der Fahrzeuge in der S-<br />
ten baugleichen Wagenpaar einen <strong>Bahn</strong>-Ausschreibung einen angemesse-<br />
durchgehend begehbaren Halbzug. Zwei nen Rang einnimmt und nicht der An-<br />
dieser Halbzüge können zu einem Vollschaffungspreis die Fahrzeugbewertung<br />
zug mit dann vier Wagenpaaren gekup- dominiert.<br />
pelt werden.<br />
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist im<br />
Die vom <strong>Berlin</strong>er Senat gewünschte Zeichen der Umweltdiskussion eine ent-<br />
zusätzliche Ausführung von 28 Viertelsprechende Bewertung umweltverträglizügen<br />
mit Führerständen an beiden Encher Bauformen und Materialien. In dieden<br />
erfordert die Produktion eines dritsem Zusammenhang ist der <strong>Berlin</strong>er Seten<br />
Wagentyps, der angesichts seines nat auf dem richtigen Wege, durch<br />
geringen Anteils von lediglich vier Pro- zukunftsweisende Betriebskonzepte wie<br />
zent an der Gesamtzahl von 348 S- mit Flügeln, Stärken und Schwächen von<br />
<strong>Bahn</strong>-Wagen den Kostenaufwand über- Zügen attraktive und gleichzeitig kosproportional<br />
ansteigen ließe. Für die als tengünstige Beförderungsangebote zu<br />
weitere Option erwogene spätere Ergänzung<br />
dieser Viertelzüge mit zwei Führerständen<br />
durch zwei zusätzliche Zwi-<br />
etablieren.<br />
schenwagen zu einem Halbzug wäre Dieter Doege ist Nahverkehrsexperte<br />
25
WENN DIESE HERREN SICH AN<br />
ÖFFENTLICHEM EIGENTUM VERGREIFEN,<br />
WIRD ES TEUER: CHAOS MIT METHODE.<br />
Ein Film des Unternehmens Börsengang<br />
Ulrich Rüdiger in den ausbadenden Rollen:<br />
Homburg Grube <strong>Bahn</strong>angestellte / Sie und Ich
„Warum sollte der Reisende sich nicht fühlen,<br />
als wenn er mit dem Sofa unterwegs ist?“<br />
Ein Gespräch zur S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
Das hier wiedergegebene Gespräch zur S-<strong>Bahn</strong>-Krise wurde mit Andreas<br />
Ballentin (AB; Fahrdienstleiter bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> und Betriebsrat), Jörg<br />
Kronberg (JK; Gewerkschaftssekretär bei der EVG) und Jörg Podzuweit (JP;<br />
ehrenamtlich bei der EVG tätig und ehemaliger Vorsitzender des Verkehrsausschusses<br />
im Bezirk Nordost) geführt. Die Gesprächsleitung für Lunapark21<br />
und den S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> hatte Bernhard Knierim (BK). Fotos von Klaus<br />
Ihlau (S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>).<br />
Bernhard Knierim (BK): Was hat aus<br />
Eurer Sicht zu der Krise bei der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> geführt?<br />
Jörg Podzuweit (JP): <strong>Bahn</strong> und Politik<br />
sind an der S-<strong>Bahn</strong>-Krise schuld. Das hat<br />
schon angefangen, als man in den<br />
1990ern begonnen hat, neue Fahrzeuge<br />
für die S-<strong>Bahn</strong> zu beschaffen. Damals<br />
gab es beim Senat die Entscheidung, den<br />
Preis für diese Fahrzeuge zu drücken.<br />
Das ging damit weiter, dass diese Fahrzeuge<br />
ursprünglich für Klimaanlagen<br />
konstruiert waren, dann aber ohne fuhren.<br />
Gleichzeitig konnte man aber auch<br />
die Fenster nicht öffnen. Das ist nur<br />
einer der eklatanten Mängel, der aber<br />
für die Fahrgäste sofort spürbar war.<br />
Zum Teil haben sich auch die Anforderungen<br />
an die Fahrzeuge geändert. Es<br />
sind neue Vorschriften dazugekommen,<br />
und die Fahrzeuge mussten dann nachgerüstet<br />
werden, waren aber dafür nicht<br />
ausgelegt. Ein anderes Thema sind die<br />
Fahrstände und die Elektronik: Ursprünglich<br />
waren die Züge darauf ausgelegt,<br />
dass der Fahrstand klimatisiert ist<br />
und der Lokführer dort bleibt und von<br />
dort aus alles macht. Inzwischen muss er<br />
wegen der „Zugabfertigung durch den<br />
Triebwagenführer“ (ZAT) alle zwei Minuten<br />
aus dem Führerstand treten. Das bedeutet,<br />
dass die Klimaanlage Probleme<br />
bekommt, denn für solche Anforderungen<br />
ist keine Klimaanlage ausgelegt. In<br />
der Folge gibt es dann Schwierigkeiten<br />
mit der Elektronik. Sodann hat die Politik<br />
die Anforderungen geändert und das<br />
Eisenbahnbundesamt hat seine Anforderungen<br />
geändert. Dazu kamen dann die<br />
Personalkürzungen und all die Sparmaßnahmen.<br />
Dadurch kann jetzt keine vorausschauende<br />
Wartung mehr durchge-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
führt werden: es gibt also keinen rechtzeitigen<br />
Austausch von Teilen, die absehbar<br />
demnächst kaputt gehen werden.<br />
Jörg Kronberg (JK): Das ist natürlich<br />
auch auf das Wegsparen von Personal<br />
zurückzuführen. Alles, was irgendwie –<br />
und wenn es noch so schräg war – zu<br />
begründen ging, wurde abgebaut, bis<br />
fast nichts mehr an Kapazitäten und<br />
Wissen da war.<br />
BK: Das bedeutet also, dass sowohl<br />
diejenigen Recht haben, die die Probleme<br />
auf die Politik schieben, als auch<br />
die, die das Management der S-<strong>Bahn</strong><br />
in der Verantwortung sehen?<br />
Andreas Ballentin (AB): Die Presse hat<br />
sich damals dann auf die Geschäftsführer<br />
gestürzt. Sicher hat die Geschäftsführung<br />
vieles noch zusätzlich verschlimmert,<br />
aber jeder andere Manager,<br />
den die <strong>Bahn</strong> in die Position geschickt<br />
hätte, hätte genau das Gleiche getan.<br />
Das wurde in den Medien völlig ausgeblendet.<br />
JP: Die <strong>Bahn</strong> hat damals auch als Schadensbeseitiger<br />
den eingesetzt, der<br />
eigentlich mit die größte Verantwortung<br />
dafür getragen hat, dass dieser Schaden<br />
erst zustande gekommen ist, nämlich<br />
Herrn Homburg. 1<br />
BK: Welchen Zusammenhang seht Ihr<br />
mit den gescheiterten Plänen eines<br />
<strong>Bahn</strong>-Börsengangs?<br />
JK: Man darf nicht die Verantwortung<br />
der Politik außer Acht lassen. Über Hartmut<br />
Mehdorn kann man denken, was<br />
man will, mir fällt dazu nicht viel Gutes<br />
ein. Aber den Auftrag des Eigentümers,<br />
die <strong>Bahn</strong> auf den Kurs an die Börse zu<br />
bringen, den hat er erfüllt. Dann stellt<br />
Gespräch<br />
man sich hin und sagt: Also, so hatten<br />
wir uns das aber nicht vorgestellt. Von<br />
den Börsenplänen will jetzt keiner mehr<br />
etwas wissen. Ebenso verhält es sich bei<br />
dem Thema <strong>Bahn</strong>hofsaufsichten: Der<br />
Senat hat die Vorgabe gemacht, in diesem<br />
Bereich 20 Millionen Euro einzusparen<br />
– wer braucht denn überhaupt Aufsichten?<br />
Jetzt regen sie sich auf, dass die<br />
Aufsichten fehlen, und die das tun sind<br />
zum Teil dieselben Leute.<br />
AB: Damals hat der Vorstand nie davon<br />
gesprochen, dass es um den Börsengang<br />
ging, sondern es wurde immer alles auf<br />
die drohenden Ausschreibungen geschoben.<br />
Sie haben gesagt, sie müssten die<br />
S-<strong>Bahn</strong> rationalisieren und „marktfit“<br />
machen, damit sie „im Wettbewerb bestehen“<br />
könne. Der Herr Thon 2 behauptet<br />
ja heute noch, er habe die S-<strong>Bahn</strong> als<br />
ein marodes Unternehmen wieder salonfähig<br />
gemacht. Aus seiner Sicht hat er ja<br />
auch alles richtig gemacht. Er hat den<br />
Auftrag von Mehdorn gehabt, das zu<br />
machen, was er gemacht hat.<br />
JK: Wenn der Börsengang 2008 tatsächlich<br />
geklappt hätte, dann hätten sich die<br />
Käufer vermutlich sehr schnell gewundert:<br />
„Was hab‘ ich da denn für Aktien<br />
gekauft? Das funktioniert ja alles gar<br />
nicht mehr!“<br />
BK: Warum ist es bei anderen S-<strong>Bahn</strong>en<br />
– z. B. in Hamburg oder München<br />
– nicht zu einer ähnlichen Krise wie in<br />
<strong>Berlin</strong> gekommen?<br />
JP: Vergleichen lassen sich allenfalls<br />
Hamburg und <strong>Berlin</strong>, da dies die einzigen<br />
S-<strong>Bahn</strong>en mit einem ganz eigenen System<br />
sind. Aus meiner Sicht hat das zwei<br />
Ursachen: Die Hamburger Politik hat<br />
anders agiert, sie hat auch vor zwei Jah-<br />
27
28<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
ren noch einmal einen Vertrag mit der<br />
Hamburger S-<strong>Bahn</strong> in Direktvergabe<br />
gemacht. Der gilt bis 2020, mit einer<br />
weiteren Verlängerungsoption für fünf<br />
Jahre. Dafür hat die S-<strong>Bahn</strong> dort sich<br />
verpflichtet, neue Fahrzeuge zu beschaffen.<br />
Zweitens hatte die Hamburger S-<br />
<strong>Bahn</strong> aber auch einen sehr geschlossenen<br />
Betriebsrat.<br />
AB: Trotz der ohne Zweifel vorhandenen<br />
Schwierigkeiten hat der damalige Betriebsrat<br />
im Rahmen seiner Möglichkeiten<br />
versucht, das Schlimmste zu verhindern.<br />
Im damals verhandelten Sozialplan<br />
findet sich z.B. der Hinweis wieder, dass<br />
die geplanten Maßnahmen die Leistungsfähigkeit<br />
und die Zukunft der <strong>Berlin</strong>er<br />
S-<strong>Bahn</strong> gefährden. Der Einigungsstellenrichter<br />
erklärte aber, dass z.B. der<br />
Abbau der Aufsichten eine unternehmerische<br />
Entscheidung ist. Nachdem sich<br />
der Herr Thon und seine Kumpels bei der<br />
S-<strong>Bahn</strong> ausgetobt hatten und das S-<br />
<strong>Bahn</strong>system kollabiert ist, wurden dann<br />
auch diese Leute entsorgt. Insgesamt<br />
wurden in der Amtszeit des Betriebsratsvorsitzenden<br />
Heiner Wegner 13 oder 14<br />
Geschäftsführer bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />
verschlissen.<br />
Übrigens gab es bereits davor schon<br />
Versuche, bei der S-<strong>Bahn</strong> ähnliches<br />
umzusetzen, aber das konnte der<br />
Betriebsrat damals noch durch Vereinbarungen<br />
verhindern. Danach fing es dann<br />
an. Viele Maßnahmen, die man bei der<br />
DB über viele Jahre verteilt durchgeführt<br />
hat, sind dann bei uns auf einen Schlag<br />
durchgeführt worden. Deshalb ging das<br />
dann auch schief.<br />
BK: Heißt das, dass die gleichen Maßnahmen<br />
nicht zu den Problemen geführt<br />
hätten, wenn sie langsamer umgesetzt<br />
worden wären? Auch bei der<br />
DB gab und gibt es ja trotz der langsameren<br />
Umsetzung erhebliche Schwierigkeiten<br />
wie stark gesteigerte Verspätungen,<br />
Achsbrüche, Winterchaos, Klimaanlagenchaos<br />
etc.<br />
JP: Ich erinnere mich an ein Gespräch<br />
mit Herrn Dürr 3 im Speisewagen. Da<br />
ging es um „PVI – Planmäßig vorhaltende<br />
Instandhaltung“. Da blaffte mich Herr<br />
Dürr an: „Was ist das? Das brauchen wir<br />
bei der <strong>Bahn</strong> nicht mehr! Ausgewechselt<br />
wird erst, wenn etwas kaputt geht.“ Das<br />
war sein Kommentar. So hat man versucht,<br />
das ganze System umzustricken –<br />
das hat Mehdorn nicht anders gemacht.<br />
Nur: Reparier‘ mal einen Wagen, der auf<br />
der Stadtbahn kaputt geht und dort stehen<br />
bleibt. Wenn man Teile rechtzeitig<br />
auswechselt, dann vermeidet man solche<br />
Probleme.<br />
JK: Die Kolleginnen und Kollegen werden<br />
auch irgendwann verrückt, wenn<br />
auf eine Anweisung die nächste folgt.<br />
Bei der S-<strong>Bahn</strong> haben die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter einen ganzen Stapel<br />
von neuen Formblättern mit Regelungen<br />
bekommen; die haben zum Teil abends<br />
noch versucht, den ganzen Papierkram<br />
zu lesen, weil sie sonst tagsüber kein<br />
Drehgestell mehr gewechselt bekommen<br />
hätten. Da sind die Menschen auch<br />
irgendwann einfach überfordert.<br />
AB: Die alte Geschäftsführung unter<br />
Ruppert 4 hatte damals schon erkannt,<br />
wo die Reise hingehen soll, und die<br />
haben sich dagegen im Rahmen ihrer<br />
Möglichkeiten gewehrt; deswegen sind<br />
sie dann auch abgelöst worden. Ruppert<br />
und seine Leute waren zu sehr S-<strong>Bahn</strong>er<br />
– das hat nicht ins Konzept gepasst.<br />
JP: Das ist aber ein Problem bei der ganzen<br />
<strong>Bahn</strong>. Vor zwei Jahren machte die<br />
Transnet 5 eine Umfrage unter dem technischen<br />
Personal, und da gab es eine<br />
Unzufriedenheit von mehr als 98 Prozent.<br />
Das ingenieurtechnische Personal<br />
hat keine fachliche und sachliche Entscheidungskompetenz.<br />
Es entscheiden<br />
die Controller, und das sind ganz überwiegend<br />
Quereinsteiger, die den Laden<br />
überhaupt nicht kennen. Die interessiert<br />
gar nicht, ob die Brücke da jetzt nachgestopft<br />
werden müsste oder nicht. Die<br />
sagen: „Was, kostet 18000 Euro? Abgelehnt!“<br />
Drei Jahre später sind Risse im<br />
Brückenfundament, und es stehen 2,1<br />
Millionen zu Buche. Das interessiert im<br />
Nachhinein keinen mehr – nur der zuständige<br />
Bereichsleiter hat rechtzeitig<br />
Bescheid gesagt, was da passiert.<br />
JK: Woran wahrscheinlich alle Konzerne<br />
vergleichbarer Größe kranken, ist der<br />
Versuch, die Entscheidungen viele Etagen<br />
über der eigentlichen Arbeitsebene<br />
zu treffen. Es herrscht ein mangelndes<br />
Vertrauen zu den Beschäftigten. Führungskräfte<br />
denken auch, sie hätten nur<br />
dann die Kompetenz einer Führungskraft,<br />
wenn sie alles kontrollieren. Eine<br />
Führungskraft sollte aber so viel Spielraum<br />
einräumen, dass sich die Sachen<br />
auf den Ebenen darunter von selber<br />
regeln – dort, wo die tatsächliche Kompetenz<br />
dafür ist.<br />
BK: Was bedeutet es in der jetzigen<br />
Situation, als S-<strong>Bahn</strong>er zu arbeiten?<br />
Wie reagieren die Fahrgäste, wenn es<br />
immer wieder zu den bekannten Problemen<br />
kommt?<br />
AB: Bei allen Freunden – auch bei denen,<br />
die nie S-<strong>Bahn</strong> fahren – wird man<br />
inzwischen immer auf die Probleme angesprochen.<br />
Es gibt Kollegen, die sagen,<br />
sie fahren mit ihren Uniformen nicht<br />
mehr öffentlich. Sie möchten am liebsten,<br />
dass man gar nicht weiß, dass sie<br />
bei der S-<strong>Bahn</strong> arbeiten, weil sie immer<br />
wieder aufgrund der Presse und der Berichte<br />
vom RBB ziemlichen Anfeindungen<br />
ausgesetzt sind.<br />
JK: Ich bin noch nicht so lange in <strong>Berlin</strong>,<br />
aber ich habe noch nie erlebt, dass eine<br />
Bevölkerung so an einem Nahverkehrsmittel<br />
hängt. Die S-<strong>Bahn</strong> liegt den <strong>Berlin</strong>ern<br />
so am Herzen, so sind auch die vielen<br />
Unterschriften für das Volksbegehren<br />
zustande gekommen. In einer anderen<br />
Stadt, wäre die Sache schon ganz anders<br />
ausgegangen.<br />
JP: Als Nawrocki noch S-<strong>Bahn</strong>-Chef war,<br />
da war der Slogan der S-<strong>Bahn</strong>: „Es liebet<br />
der <strong>Berlin</strong>er Bär seine S-<strong>Bahn</strong> ganz doll<br />
sehr.“ Ein blöder Satz, aber das hat die<br />
Sache auf den Punkt gebracht.<br />
BK: Man sprach früher einmal von der<br />
„S-<strong>Bahn</strong>er-Familie“; es gab eine hohe<br />
Identifikation mit dem Arbeitsplatz.<br />
Wie erlebt Ihr das heute?<br />
AB: Ich bin seit 1999 dabei – das ist bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> kurz. Damals war ja noch<br />
alles in Ordnung, es war schon so, dass<br />
Lunapark21·extra 6/2012
sich alle als etwas Besonders fühlten,<br />
und es gab einen großen Zusammenhalt.<br />
Im Osten war das, man merkt das bis<br />
heute, noch ausgeprägter. Jetzt kommen<br />
die ganzen Vorbereitungen für die Ausschreibung:<br />
Dies bereitet man vor, indem<br />
man alle Bereiche organisatorisch<br />
trennt. Inzwischen arbeitet jeder Fachbereich<br />
nur noch für sich selbst. Da fehlt<br />
es jetzt an Abstimmung und Informationen<br />
innerhalb der S- <strong>Bahn</strong> – das spaltet<br />
alles die Belegschaft, und das merkt<br />
man. Das verunsichert die Leute, es gibt<br />
kein Gefühl von Zusammenhalt mehr.<br />
Ich glaube, das ist auch ein unterschwelliges<br />
Ziel bei der ganzen Geschichte,<br />
dass man da alle zermürbt,<br />
damit es am Ende nicht mehr so einen<br />
großen Widerstand gibt – so kommt mir<br />
das vor.<br />
JK: „Teile und herrsche“ – damit haben<br />
sie der Arbeiterbewegung schon immer<br />
zugesetzt. Das wird hier auch genutzt.<br />
Und trotzdem merkt man immer noch:<br />
Die S-<strong>Bahn</strong>er wollen sich da eigentlich<br />
noch nicht ganz aufgeben; bei bestimmten<br />
Situationen merkt man den Zusammenhalt<br />
dann wieder ganz deutlich –<br />
wie bei einem Gummiband, dass dann<br />
plötzlich wieder zusammenschnellt. Bei<br />
den Anforderungen hier in <strong>Berlin</strong><br />
braucht man aber Leute, die das mit<br />
ganzem Herzen tun.<br />
AB: Wer das aber überhaupt nicht gebrauchen<br />
kann, das sind diese Ausschreiber.<br />
Denen ist das natürlich total<br />
zuwider, dass es da Leute gibt, die an<br />
ihrer Firma hängen und die sich dafür<br />
auch einsetzen.<br />
JK: Die Identifikation würde aber auch<br />
wieder steigen, wenn die Entscheidun-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
gen endlich wieder dort getroffen werden,<br />
wo sie auch hingehören. Sonst<br />
stiehlt man den Kollegen auch den Stolz,<br />
wenn man wegen jedem kleinen Schritt<br />
erst fragen muss – früher hat man das<br />
einfach gemacht, und dann war das<br />
okay. Da waren die Leute stolz darauf,<br />
dass sie den Laden am Laufen gehalten<br />
haben. Heute muss man da erst einen<br />
Antrag stellen, braucht dreizehn Unterschriften<br />
usw.<br />
BK: Es gibt immer mehr S-<strong>Bahn</strong>höfe<br />
mit „ZAT“, also ohne Personal auf dem<br />
<strong>Bahn</strong>steig. Wie beurteilt ihr die Sicherheit<br />
auf diesen <strong>Bahn</strong>höfen?<br />
JP: Das ist ein allgemeines Problem – bei<br />
der <strong>Bahn</strong> heißt das gleiche „TAV – technikbasiertes<br />
Abfertigungsverfahren“. Das<br />
Eisenbahnbundesamt hat dem ganzen<br />
damals zugestimmt – aus meiner Sicht<br />
fälschlicherweise. Es gab den Fall der<br />
Frau, die in einem Regionalexpress in der<br />
Tür eingeklemmt wurde und bis zur<br />
nächsten Station bei 120 km/h in der Tür<br />
hängen geblieben ist – zum Glück ist ihr<br />
nichts passiert. Aber solche Dinge kann<br />
ich technisch nicht ausschließen. Insofern<br />
ist das Abfertigungssystem für mich<br />
Lug und Trug, und es birgt eine Unsicherheit<br />
für die Reisenden in sich, die ist<br />
enorm. Ein Triebfahrzeugführer hat eine<br />
Menge um die Ohren, und ich kann ihm<br />
nicht auch noch die Verantwortung für<br />
die Abfertigung aufdrücken. Aber jetzt<br />
ist es so: Der Triebfahrzeugführer trägt<br />
die Verantwortung, aber es ist nicht seine<br />
Verantwortung. Insofern ist es richtig<br />
zu fordern: Aufsichten auf den <strong>Bahn</strong>höfen,<br />
insbesondere auf den <strong>Bahn</strong>höfen<br />
mit viel Verkehr.<br />
Gespräch<br />
29
30<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
JK: Friedrichstraße, wenn Hertha spielt –<br />
da kann mir doch keiner erzählen, dass<br />
der Triebfahrzeugführer das alles überblicken<br />
kann.<br />
AB: Dabei kommt auch wieder die Komplexität<br />
der S-<strong>Bahn</strong> zutage. Genaugenommen<br />
weiß niemand, ob das System<br />
„ZAT“ funktioniert oder nicht. Mit den<br />
fehlenden Aufsichten kommt aber noch<br />
etwas dazu: Wir als Fahrdienstleiter sitzen<br />
bald alle draußen in der Betriebszentrale<br />
Halensee. Wenn es jetzt ein<br />
Problem im Betriebsablauf gibt, dann<br />
haben wir auf den <strong>Bahn</strong>höfen keine Ansprechpartner<br />
mehr, nur noch die Triebfahrzeugführer.<br />
Die paar Stammaufsichten<br />
und die Handvoll mobile Aufsichten<br />
können die örtlichen Aufsichten auch<br />
nicht in Gänze ersetzen, die haben dann<br />
auch genug zu tun. Irgendetwas bleibt<br />
im Störungsfall immer auf der Strecke:<br />
Entweder Du informierst die Fahrgäste<br />
nicht richtig, oder der Zug fährt unpünktlich<br />
– beides geht nicht.<br />
JK: Selbst wenn ich die Züge technisch<br />
abfertigen könnte, brauche ich noch<br />
Leute auf dem <strong>Bahn</strong>hof. Was passiert<br />
denn, wenn das „ZAT“ ausfällt? Dann ist<br />
der Triebfahrzeugführer schlichtweg<br />
aufgeschmissen. Wer will denn die Verantwortung<br />
übernehmen auf den gebogenen<br />
<strong>Bahn</strong>steigen, wenn man nichts<br />
sieht? Dazu kommt noch das subjektive<br />
Sicherheitsempfinden der Fahrgäste.<br />
Und die Leute wollen Informationen.<br />
Auch das haben in der Vergangenheit die<br />
Aufsichten gemacht. Doch das ist eine<br />
politische Entscheidung: Wie viel ist es<br />
mir wert, dass auf den <strong>Bahn</strong>steigen<br />
Menschen sind, die mit Menschen reden<br />
und ihnen weiterhelfen?<br />
JP: Das gleiche gilt auch bei der U-<strong>Bahn</strong>.<br />
Dieses Null-Personen-System überall ist<br />
für eine Stadt, die sich rühmt, die höchsten<br />
Zuwächse im Tourismus zu haben,<br />
einfach nur hanebüchen. Da gehen so<br />
ein paar Ein-Euro-Jobber – und das richtet<br />
sich nicht gegen die Menschen – mit<br />
einer grünen Weste durch die <strong>Bahn</strong>höfe,<br />
und da meint man, so könnte man dann<br />
die Sicherheit gewährleisten.<br />
JK: Gerade damit strafen die Politiker<br />
doch ihre eigenen Aussagen Lügen. Erst<br />
heißt es, man bräuchte keine Aufsichten.<br />
Aber dann werden Ein-Euro-Jobber geholt,<br />
bekommen eine Schnellbesohlung,<br />
und sollen damit die Aufsichten ersetzen.<br />
AB: Es ist schon mehrmals vorgekommen,<br />
dass die Funkanlage genau in den<br />
Fällen, wo es eigentlich drauf ankommt,<br />
zusammenbricht. Dann erreichst Du den<br />
Triebfahrzeugführer einfach nicht. Auch<br />
bei uns in der Betriebszentrale wurde ein<br />
solcher Kahlschlag vollzogen, dass auch<br />
da reihenweise die Arbeitsplätze nicht<br />
besetzt sind und dass es auch da zu Personalengpässen<br />
kommt.<br />
JK: Dazu kommt für die Aufsichten, die<br />
noch da sind: Man sagt ihnen, dass man<br />
sie eigentlich nicht mehr braucht, aber<br />
trotzdem sollen sie ihre Arbeit noch mit<br />
vollem Einsatz machen. Wenn dann<br />
immer von der Motivation der Leute gesprochen<br />
wird – das muss man erstmal<br />
bringen, sich dann noch von den Fahrgästen<br />
anspucken zu lassen und trotzdem<br />
noch zu sagen: Das ist mein Betrieb.<br />
Das nimmt den Leuten auch ein<br />
stückweit die Würde. Und die Politik<br />
hätte es verdammt nochmal in der Hand,<br />
da auch zu sagen: Dann nehmen wir<br />
eben die zweckentfremdeten Regionalisierungsmittel,<br />
von denen der Senat<br />
einen Anteil einbehält, um damit die<br />
Schulden der BVG abzuzahlen. Mit den<br />
123 Millionen Euro jedes Jahr könnte<br />
man schon eine Menge machen.<br />
JP: Es ist auch erschreckend, wie viele<br />
Entscheidungen die Politik eigentlich<br />
abgibt. Es werden Entscheidungen auf<br />
nicht demokratisch legitimierte Institutionen<br />
wie den Verkehrsverbund <strong>Berlin</strong>-<br />
Brandenburg (VBB) ausgelagert Der VBB<br />
ist eine GmbH und nicht der Daseinsvorsorge,<br />
die in der Landesverfassung steht,<br />
verpflichtet!<br />
JK: Es geht auch immer um die Ausschreibungen<br />
und Sozialstandards. In<br />
den Situationen sagt die Politik immer,<br />
da kann man keinen Einfluss nehmen –<br />
aber an anderen Stellen geht es dann<br />
wieder. Vielleicht fände der Herr Grube<br />
das ja sogar ganz toll, wenn man ihm<br />
sagen würde, in Zukunft geht es nicht<br />
mehr um Gewinnmaximierung, sondern<br />
wir wollen Vorreiter bei den Sozialstandards<br />
sein, und der Reisende soll sich<br />
fühlen, als wenn er mit seinem Sofa<br />
durch Europa unterwegs ist. Das kriegt<br />
Grube sicher auch umgesetzt. Er wird<br />
dann sagen: Das kostet Euch extra<br />
soundsoviele Millionen, aber das Volk<br />
will es doch offensichtlich, dass Daseinsvorsorge<br />
nicht privatisiert wird. Warum<br />
verdammt nochmal reagieren und agie-<br />
ren die Politiker nicht in diesem Sinn?<br />
AB: Wir hatten einmal eine Debatte mit<br />
(dem EVG-Vorsitzenden; d. Red.) Alexander<br />
Kirchner, da hat er uns im Rahmen<br />
einer Vertrauensleutesitzung erzählt,<br />
dass eigentlich die Bürger alles ausschreiben<br />
wollen. Ich hab‘ ihn gefragt,<br />
welche Bürger er da meint. Ich kenne<br />
sehr viele Bürger, und ich kenne keinen,<br />
der das gut findet. Die einzigen, die das<br />
gut finden, sind die da oben, die sich die<br />
Taschen damit vollstopfen.<br />
JK: Man muss auch fragen: Wie viel<br />
davon kann ein souveräner Staat noch<br />
abgeben und dabei noch souverän bleiben?<br />
Man gibt Souveränität aus der<br />
Hand, ohne dass es eine Notwendigkeit<br />
gibt.<br />
AB: Nehmen wir mal an, die S-<strong>Bahn</strong> wäre<br />
zu dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs<br />
ein Privatunternehmen gewesen.<br />
Wer hätte denn dann dafür bezahlt, dass<br />
man das alles wieder aufbaut? Dann<br />
hätte das Land <strong>Berlin</strong> alles aufkaufen<br />
müssen, und dann hätten wir mit Steuergeldern<br />
alles wieder reparieren müssen.<br />
JK: Der Private hätte eine Insolvenz hingelegt.<br />
Man lässt einfach das Subunternehmen<br />
pleitegehen und bietet sogar<br />
noch großzügig an, gegen entsprechende<br />
Zahlungen ein neues Subunternehmen<br />
zu gründen, das den Betrieb übernimmt.<br />
Es ist immer so: Gewinne sind<br />
privatisiert, Verluste sind sozialisiert.<br />
BK: Welche Maßnahmen müssten aus<br />
Eurer Sicht getroffen werden, um die<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Krise zu lösen?<br />
JP: Erstmal muss Ruhe in den Laden<br />
kommen. Das ganze Gerede von der Ausschreibung<br />
muss erstmal aufhören. Der<br />
Herr Franz 6 ist ja nun gegen die Privatisierung<br />
der <strong>Bahn</strong> – da stimme ich ihm<br />
vollkommen zu. Aber gleichzeitig ist er<br />
auch für die Ausschreibung, und auch<br />
für die Teilausschreibung. Das betreibt<br />
der VBB ja alles. Doch das ist auch eine<br />
Privatisierung! Das Schlimme ist ja auch<br />
noch: Es wird von Teilausschreibungen<br />
gesprochen. Noch ist die S-<strong>Bahn</strong> ja ein<br />
gut funktionierendes Gesamtsystem.<br />
Dieses funktionierende System reiße ich<br />
dann auseinander. Ich habe dann zwei<br />
Betreiber und zwei Wasserköpfe. Was<br />
soll denn da, bitteschön, billiger werden?<br />
JK: Ich stimme Jörg zu: Die S-<strong>Bahn</strong><br />
braucht zuerst mal Ruhe. Die S-<strong>Bahn</strong>er<br />
Lunapark21·extra 6/2012
wissen sehr gut, was zu tun ist. Man<br />
muss ihnen nur die Zeit geben, dass sie<br />
es auch tun. Und die Politik muss endlich<br />
langfristige Entscheidungen treffen, wie<br />
das System durchfinanziert ist. Fahrzeuge<br />
werden für 30 Jahre gekauft, da nutzt<br />
eine Finanzzusage für zwei Jahre überhaupt<br />
nichts. Es muss auch klar sein:<br />
Was erwartet die Politik von der <strong>Bahn</strong>?<br />
Wollen wir mehr Leute in den Zügen,<br />
was brauchen wir dafür? Aber im Moment<br />
ist das alles nur Stückwerk.<br />
AB: Ich kann das nur bestätigen. Wir<br />
brauchen Planungssicherheit. Die Probleme<br />
sind alle noch nicht bewältigt und<br />
müssen stückweise abgearbeitet werden.<br />
Die Ausschreibung bringt jetzt noch<br />
mehr Unruhe hinein. Diesen Fehler muss<br />
die Politik erkennen und die Idee dieser<br />
Ausschreibung aufgeben. Stattdessen<br />
muss es eine Direktvergabe geben, und<br />
dann muss man darüber nachdenken,<br />
wie neue Züge angeschafft werden können.<br />
Und für meine Kolleginnen und Kollegen<br />
wünsche ich mir einmal, dass sie<br />
Weihnachten verbringen können ohne<br />
Angst haben zu müssen, dass sie ihren<br />
Arbeitsplatz verlieren.<br />
BK: Die EU schreibt Ausschreibungen<br />
des Betriebs von <strong>Bahn</strong>en vor, wenn<br />
dieser nicht an ein kommunales Unternehmen<br />
übergeben werden kann. Die<br />
S-<strong>Bahn</strong> ist anders als die BVG kein<br />
kommunales Unternehmen. Wie können<br />
wir dennoch Ausschreibungen<br />
umgehen?<br />
JP: Die Stadt muss die S-<strong>Bahn</strong> kaufen.<br />
Anders geht’s nicht.<br />
BK: Wenn aber die Stadt die S-<strong>Bahn</strong><br />
kaufen würde, dann würde das bedeuten,<br />
dass Andreas als Fahrdienstleiter<br />
bei der DB Netz arbeiten würde, der<br />
Betrieb ist aber bei der S-<strong>Bahn</strong>. Das<br />
Netz kann man auch nicht einfach so<br />
mitverkaufen, weil das mit dem normalen<br />
<strong>Bahn</strong>netz eng verzahnt ist.<br />
Irgendwo schafft man also eine Trennung<br />
– da gibt es doch irgendwo Reibungsverluste?<br />
JK: Zumindest muss man die Frage stellen:<br />
Welchen Anteil der S-<strong>Bahn</strong> müsste<br />
die Stadt kaufen? Ein gewisser Anteil<br />
würde schon genügen, damit das Land<br />
die S-<strong>Bahn</strong> beherrscht, und dann würde<br />
sie als kommunales Unternehmen gelten,<br />
und man müsste nicht ausschreiben.<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
JP: Die Stadt <strong>Berlin</strong> müsste dann bei der<br />
S-<strong>Bahn</strong> genauso eine Stellung haben, als<br />
wäre es eine eigene Dienststelle. Das<br />
heißt, der Senat muss sicherstellen, dass<br />
er über das Personal bestimmt, dass er<br />
über die Finanzen bestimmt, usw. Rein<br />
nach EU-Recht gäbe es noch einen<br />
anderen Weg. Warum geht das in Hamburg<br />
und in <strong>Berlin</strong> nicht?<br />
JK: Das würde aber heißen, dass die<br />
Herren Politiker Mitverantwortung übernehmen<br />
müssten. Wenn die Stadt Miteigentümer<br />
an der S-<strong>Bahn</strong> ist, dann kann<br />
man nicht mehr einfach mit dem Finger<br />
auf andere zeigen.<br />
BK: Wie schätzt Ihr die Erfolgsaussichten<br />
des Volksbegehrens des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Tisch</strong>s ein und kann das zur Lösung der<br />
Probleme beitragen?<br />
AB: Das wird schwierig, in der zweiten<br />
Runde die erforderlichen 172000 Unterschriften<br />
zu sammeln. Ansonsten ist<br />
die Aktion gut, weil es eine realistische<br />
Sache ist, noch irgendwie Einfluss nehmen<br />
zu können, da wir ja damit rechnen<br />
müssen, dass eine Ausschreibung<br />
kommt. Ich hoffe, dass wir das irgendwie<br />
hinkriegen, aber da sind wir natürlich<br />
auch auf viel Unterstützung angewiesen.<br />
JK: Ich denke, wir haben schon etwas<br />
erreicht, selbst wenn wir die 172000<br />
Unterschriften nicht zusammenkriegen.<br />
Die Politik hat immerhin schon mal mitgekriegt:<br />
Der Souverän steht an der Tür<br />
Gespräch<br />
und will etwas. Keiner hat uns geglaubt,<br />
dass wir in der ersten Runde die 20000<br />
Unterschriften zusammenbringen. Ich<br />
glaube auch, das wird kein Spaziergang,<br />
aber ich behaupte, das bekommen wir<br />
hin. Wir waren auch erstaunt, was da in<br />
den letzten Tagen jetzt noch alles per<br />
Post zurückkam: Alles von einer bis 50<br />
Listen, zum Teil noch mit ganz lieben<br />
Briefen dazu.<br />
Auch für die EVG war das neu, dass<br />
wir mit anderen Organisationen zusammengearbeitet<br />
haben, die wir nicht hundertprozentig<br />
kannten. Dadurch haben<br />
wir auch neue Erfahrungen gemacht.<br />
Der Senat hat im Moment ein echtes<br />
Problem mit unserem Volksbegehren. So<br />
wie wir nicht wissen, ob wir es schaffen,<br />
weiß es der Senat auch nicht. Der Senat<br />
will ausschreiben, aber wir haben in das<br />
Gesetz ja auch reingeschrieben, dass es<br />
auch für bestehende Verkehrsverträge<br />
anzuwenden ist. Da wäre es schon ein<br />
ganz schönes Risiko, ohne unsere Wünsche<br />
auszuschreiben. Wenn sie unsere<br />
Forderungen gleich übernehmen, dann<br />
haben wir schon gewonnen, bevor wir<br />
angefangen haben.<br />
JP: Im Moment sehe ich so die einzige<br />
Chance, hier noch etwas Ordentliches<br />
hinzubekommen. Und wenn man das<br />
sieht, dann kommt auch die Energie.<br />
Dann bekommt man sicher die Unterschriften<br />
auch zusammen.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Ulrich Homburg wurde Anfang 2000 Chef des Vorstandsressorts Marketing bei DB Regio,<br />
der Tochter der DB AG Holding. Von 2003 bis Mitte 2009 war Homburg<br />
Vorstandsvorsitzender von DB Regio. Er war damit auf dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
maßgeblich verantwortlich für die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH, eine Tochter von DB Regio. Seit<br />
dem 1. Juni 2009 ist Homburg Vorstand für Personenverkehr bei der DB Mobility Logistics<br />
AG (DB ML).<br />
2 Ulrich Thon war im Zeitraum 2005 bis Mitte 2009 Technikchef der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>. Er war<br />
verantwortlich für das „Projekt X Optimierung S-<strong>Bahn</strong>en (OSB)“. Er wurde danach für kurze<br />
Zeit bei DB Regio mit einem gut dotierten Job „zwischengeparkt“ und schied im Frühjahr<br />
2010 aus dem DB-Konzern „im gegenseitigen Einvernehmen“ aus.<br />
3 Heinz Dürr war ab 1991 Erster Präsident der Deutschen Bundesbahn und Generaldirektor<br />
der Deutschen Reichsbahn. Ab Gründung der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG Anfang 1994 und bis<br />
1997 war Dürr Vorstandsvorsitzender dieser neuen <strong>Bahn</strong>gesellschaft, unter deren Dach<br />
Bundesbahn und Reichbahn vereint wurden. Dürr drängte auf die Zusammenfassung der<br />
deutschen Staatsbahnen als Aktiengesellschaft und sah darin einen ersten Schritt zur<br />
Privatisierung. Im „Hauptberuf“ ist Dürr Chef und mehrheitlicher Eigentümer der Dürr AG.<br />
Dieser Autozulieferer rühmt sich, ein Drittel des Weltmarkts an Autolackierautomaten zu<br />
kontrollieren. Dürr ist auch Großaktionär der Daimler AG.<br />
4 Günter Ruppert, ehemaliger Geschäftsführer der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />
5 Damalige Eisenbahnergewerkschaft, ist zum 30. November 2010 mit der GDBA zur EVG<br />
(Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) fusioniert worden.<br />
6 Hans-Werner Franz, Geschäftsführer Verkehrsverbund <strong>Berlin</strong>-Brandenburg GmbH (VBB).<br />
31
32<br />
In der Hauptrolle: Die <strong>Berlin</strong>er Bevölkerung!<br />
Statisten in einem schlechten Film
Die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> gilt vielen als Paradebeispiel<br />
für die verfehlte Ausrichtung<br />
eines öffentlichen Unternehmens auf die<br />
Privatisierung. Notwendige Investitionen<br />
zum Erhalt und zur Pflege der Wagen-<br />
Infrastruktur der im Eigentum der DB AG<br />
befindlichen S-<strong>Bahn</strong> erfolgten nicht,<br />
selbst sicherheitsrelevante Wartungsarbeiten<br />
wurden „gestreckt“ – mit anderen<br />
Worten: sie wurden nicht zu dem Zeitpunkt<br />
erledigt, den Sicherheit und nachhaltiges<br />
Fuhrparkmanagment erforderten.<br />
Man glaubte, sich das erlauben zu<br />
können: Die DB AG hatte die S-<strong>Bahn</strong> von<br />
der BVG geschenkt bekommen. Geschenkt?<br />
Richtig – geschenkt! Wagen,<br />
Gleise, S-<strong>Bahn</strong>höfe, Ausfahrten, Werkstätten.<br />
Zudem stand in den für die Auszehrung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> verantwortlichen<br />
Jahren 2004 bis 2008 der Börsengang<br />
(vermeintlich) unmittelbar bevor; die<br />
Neuausschreibung hingegen sollte 2017<br />
stattfinden und lag damit weit entfernt.<br />
Es sprach in der Logik der Börsengänge<br />
viel dafür, durch Unterinvestitionen Geld<br />
aus der S-<strong>Bahn</strong> herauszuziehen, um die<br />
Story der steigenden Gewinne des Mutterkonzerns<br />
DB AG schreiben zu können.<br />
Bekanntgewordene Folgen sind Technikversagen<br />
bei Achsen, Radsätzen, Bremsen<br />
und Motoren, von 2008 bis 2011 lösten<br />
sich Notfahrpläne und Not-Notfahrpläne<br />
ab, „S-<strong>Bahn</strong>-Chaos“ wurde zum<br />
Synonym eines vormals vorbildlichen<br />
Nahverkehrssystems mit nunmehr privatwirtschaftlicher<br />
Orientierung.<br />
Unterinvestitionen gab es jedoch<br />
nicht nur beim Wagenmaterial, englisch<br />
anschaulich „Rolling Stock“. Auch die<br />
ortsfeste Infrastruktur – Gleise, Signalanlagen,<br />
Fahrleitungen etc. wurde ausgetrocknet.<br />
Und last but not least: Das<br />
Personal, laut <strong>Bahn</strong>chef Rüdiger Grube<br />
die tragende Säule jedes Unternehmens,<br />
wurde massiv abgebaut, die verbliebenen<br />
erlitten Arbeitsverdichtung und sich<br />
verschlechternde Arbeitsbedingungen.<br />
Die finanziellen Schäden für die Steuerund<br />
Gebührenzahler übersteigen bei Un-<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
terinvestitionen in Personal, Infrastruktur<br />
und Rolling Stock nicht selten die<br />
„klassischen Formen“ der Schädigung<br />
des Gemeinwesens in Form zu hoher Gebühren<br />
und zu geringer Verkaufserlöse.<br />
In Großbritannien wurde der Schaden<br />
am britischen Eisenbahnsystem nach<br />
fünf Jahren Infrastrukturmanagment<br />
durch die private Aktiengesellschaft rail<br />
track auf bis zu 110 Milliarden Euro beziffert.<br />
Nachfolgend wird aufgezeigt, wo Unterinvestitionen<br />
im Fall der <strong>Berlin</strong>er S-<br />
<strong>Bahn</strong> verursacht wurden, wie sie zyklisch<br />
wieder sichtbar werden und welche fatalen<br />
Folgen das noch haben kann.<br />
Auch 2018 Fahrzeugmangel ?<br />
Die Unterinvestitionen ins Wagenmaterial<br />
der Jahre des vermeintlichen <strong>Bahn</strong>börsengangs<br />
werden in Zyklen von fünf<br />
bis acht Jahren zu gravierenden Problemen<br />
mit der Kapazität für die Wartung<br />
führen. Genötigt durch die massivsten<br />
Zugausfälle seit der Nachkriegszeit hat<br />
die neue S-<strong>Bahn</strong>-Führung einen riesigen<br />
Berg an Wartungs- und Instandhaltung<br />
abgearbeitet, ein Volumen, das deutlich<br />
über dem liegt, was von den Kapazitäten<br />
eigentlich zu schaffen ist. In Zahlen<br />
standen im Plansoll für 2011 bei den<br />
Wagen (Viertelzügen) 127 Revisionen<br />
und 45 Inbetriebnahmen. Das Werk<br />
Schöneweide, das diese Arbeiten zu bewerkstelligen<br />
hatte, hat in seiner Geschichte<br />
noch nie mehr als 90 Revisionen<br />
bzw. Inbetriebnahmen pro Jahr geschafft.<br />
Parallel dazu wurden 3000 Fahrmotoren<br />
überholt, die alters- und konstruktionsbedingt<br />
anfällig wurden für<br />
Feuchtigkeit z.B. infolge Pulverschnee.<br />
Nachbesserungen bei baureihenbedingten<br />
Mängeln wie zufrierenden Bremssandanlagen<br />
und Schwierigkeiten mit<br />
Türen und Klimaanlagen kamen dazu.<br />
Auch wenn ein Teil der Arbeiten sich in<br />
das laufende Jahr 2012 verschoben haben<br />
dürfte: 2013 sind fast nur ein Drittel<br />
an 34 Revisionen erforderlich. Dann<br />
Unterinvestition = S-<strong>Bahn</strong>-Chaos<br />
Droht periodisch das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos?<br />
Wenige Jahre Unterinvestitionen können die Fahrgäste, die<br />
Beschäftigten und die öffentliche Kasse jahrzehntelang belasten<br />
Carl Waßmuth<br />
steigt die Zahl der großen Wartungsund<br />
Instandhaltungsarbeiten wieder an.<br />
Peter Buchner, Geschäftsführer der S-<br />
<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>, nannte für 2011 die Zahl<br />
von 127 Revisionen, für 2012 59. 2013<br />
sollen es nur 34 sein, was nach dieser<br />
Darstellung den tiefsten Wert darstellen<br />
würde. Bereits 2014 sind es mit 61<br />
knapp doppelt so viel, 2015 mit 73 wieder<br />
ein Wert, der früher als Top-Wert<br />
galt. Danach soll die Zahl der Revisionen<br />
nochmals deutlich ansteigen, so dass<br />
Probleme wie 2009 bis 2011 drohen.<br />
Der Rolling Stock erhielt damit definitiv<br />
eine zyklische Delle: Alle paar Jahre<br />
überfordert die Instandhaltung des Materials<br />
die Werkstätten, um dann wieder<br />
einige Jahre durch Unterauslastung gegenüber<br />
den Beschäftigten als Argument<br />
zu dienen, die Belegschaft abzubauen.<br />
S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>: Infrastruktur<br />
Die Infrastruktur der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> gehört<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG. Alles, was<br />
im weitesten Sinne zu den Gleisen zu<br />
rechnen ist, gehört der DB Netz AG, die<br />
<strong>Bahn</strong>höfe gehören – mit großer Wahrscheinlichkeit<br />
– der DB Station und Service<br />
AG. Gemäß einer Antwort der Bundesregierung<br />
auf eine Kleine Anfrage der<br />
Grünen wurden zwischen 1994 bis 2008<br />
allein im Land <strong>Berlin</strong> – also noch ohne<br />
Brandenburg – rund 2,2 Milliarden Euro<br />
für den Wiederaufbau und die Sanierung<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Netzes investiert. Dabei<br />
betrugen die Bundeszuschüsse rund 1,6<br />
Milliarden Euro 1. Während der Bund also<br />
jährlich fast 110 Millionen Euro investierte,<br />
lagen die Investitionen der DB AG<br />
bei jährlich rund 40 Millionen Euro. Vereinbartes<br />
Ziel des Ausbaus war die „Wiederherstellung<br />
des Streckennetzes vom<br />
12.08.1961 nach dem Stand der Technik“.<br />
Im Zuge der „Wiederherstellung des<br />
Streckennetzes“ kam es auch zum Rückbau<br />
von Infrastrukturen wie etwa der<br />
Nordkurve des <strong>Bahn</strong>hofs Ostkreuz. Die S-<br />
<strong>Bahn</strong>-<strong>Berlin</strong> GmbH muss die ihr von der<br />
Muttergesellschaft DB AG für diese In-<br />
33
34<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Langfristige Folgen von Unterinvestitionen<br />
am Beispiel von Wasserprivatisierungen<br />
Wohin die Unterinvestitionen bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> führen können, lässt sich bei<br />
den Privatisierungen der Wasserbetriebe in <strong>Berlin</strong> und Lübeck studieren. Die <strong>Berlin</strong>er<br />
Wasserbetriebe wurden 1999 teilprivatisiert. In der Folge wurden in die Trinkwasserinfrastruktur<br />
nur 33 Prozent der erforderlichen – und in den vorausgegangenen<br />
Jahren meist auch bewilligten – Gelder investiert. Statt in 50 Jahren sollen<br />
die Anlagen erst in 152 Jahren einmal erneuert werden. Für den Abwasserbereich<br />
errechnet eine aktuelle Studie: Das Abwassernetz wäre beim aktuellen Investitions-„Tempo“<br />
erst nach 340 Jahren erneuert. Der Fehlbetrag durch die gegenwärtige<br />
Unterinvestition hat sich bis Ende 2011 auf rund 5,2 Milliarden Euro summiert.<br />
Die privaten Investoren, die für ihre Beteiligung von 49,9 Prozent 1,7 Milliarden<br />
Euro zahlten, entnahmen allein in den ersten zwölf Jahren Gewinne in etwa<br />
gleicher Höhe. Kommt es zu großen Abwasserrohrbrüchen, kann die Keimbelastung<br />
des Trinkwassers innerhalb von kurzer Zeit auf gesundsheitsbelastende Werte<br />
steigen. Benachbarte Rohre erleiden nicht vorgesehene Belastungen, neue Risse<br />
legen die Sollbruchstelle für den nächsten Rohrbruch. In Lübeck – wo die Wasserversorgung<br />
ebenfalls im Jahr 2002 privatisiert wurde – kam es als Folge einer vergleichbaren<br />
Politik der Unterinvestition Ende 2010 zu einer Serie von Rohrbrüchen:<br />
„Die Stadt befand sich damals wie im Ausnahmezustand: Stadtwerke, Feuerwehr<br />
und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein richteten Krisenstäbe ein und<br />
erarbeiteten Notfallpläne. Viele Lübecker Bürger besorgten sich Trinkwasser an<br />
Tankstellen, die Krankenhäuser bauten eine Notversorgung auf.“ Rainer Kersten,<br />
Geschäftsführer des Steuerzahlerbundes Schleswig- Holstein, bezeichnete den<br />
Kollaps des Lübecker Wassernetzes als „Warnschuss“ für die Netzbetreiber im ganzen<br />
Land. „Sie sollten nicht bei der Instandhaltung der Infrastruktur sparen und<br />
ihre eigenen Systeme auf Schwachstellen überprüfen”, sagte Kersten. C. W.<br />
Fakten & Informationen: www.tbs-berlin.de/article/articleview/125/1/17/" Broschüre Wasser<br />
in <strong>Berlin</strong> (Juni 2011), DGB Bildungswerk Wilhelm Leuschner, tbs berlin GmbH, in Ecom GmbH;<br />
www.ndr.de/regional/schleswig-holstein/luebeck585.html" NDR zu: Wasserrohrbruch in<br />
Lübeck, Stand: 13.12.2010 07:48 Uhr<br />
vestitionen gewährten Kredite selbstredend<br />
zurückzahlen, was eine erhebliche<br />
Belastung für das Unternehmen darstellt.<br />
Auf der anderen Seite muss die DB<br />
AG an den Bund keine Gelder für die geleisteten<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Investitionen erstatten.<br />
Dazu kommen die Trassenpreise, die von<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> an DB-Netz abgeführt<br />
werden müssen. Vor jeder Gewinnausweisung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH steht<br />
also die anteilige Tilgung der Kredite<br />
(zuzüglich Zinsen) sowie die Abführung<br />
der Trassengebühren, so dass selbst in<br />
Jahren mit Verlusten der S-<strong>Bahn</strong> es nach<br />
der Verlustübernahme in der Gesamtbilanz<br />
der DB AG netto ein Plus gab. Diesen<br />
Zahlungen sollte nun etwas gegenüberstehen:<br />
betriebssichere Wartung<br />
und Instandhaltung der Infrastruktur. In<br />
welchem Umfang investiert nun aber die<br />
DB AG in die Erhaltung und Wartung<br />
dieser Infrastruktur im geschätzten<br />
Wert? Nimmt man einen Wert von 5 bis<br />
8 Milliarden Euro für die S-<strong>Bahn</strong> an und<br />
geht man davon aus, dass der Oberbau<br />
(Gleise, Signaltechnik etc.) im Durchschnitt<br />
mindestens alle 50 Jahre einmal<br />
erneuert werden müssen, dann ergibt<br />
sich die jährliche Summe von mindestens<br />
100 Millionen, die dafür bereitzustellen<br />
wäre. Für eine solche Summe als<br />
Untergrenze spricht auch der Betrag von<br />
170 Millionen Euro, den die S-<strong>Bahn</strong><br />
GmbH jährlich an Trassengelder abzuführen<br />
hat.<br />
Wie viel die S-<strong>Bahn</strong> GmbH tatsächlich<br />
für solche grundlegende Investitionen<br />
einsetzt bzw. zurückstellt, ist nicht zu<br />
erfahren – nicht umsonst hat der damalige<br />
<strong>Bahn</strong>chef Hartmut Mehdorn 2006<br />
den Preis „Verschlossene Auster“ der<br />
Gruppe Netzwerk Recherche verliehen<br />
bekommen. Es gibt aber deutliche Anzeichen,<br />
dass sich auch bei der Infrastruk-<br />
tur der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> enorme Unterinvestitionen<br />
aufstauen. So war das „S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Chaos“ keineswegs nur auf unzureichendes<br />
Wagenmaterial zurückzuführen.<br />
In den Wintern 2008 und 2010 kam<br />
es zu einer Vielzahl von Zugausfällen<br />
und verkürzten Zügen. Begründet wurden<br />
die Einschränkungen auch mit<br />
ungenügender Heizung der Weichen<br />
durch die DB sowie mit Stellwerks- und<br />
Signalstörungen. 2<br />
Brutale Personalplanung<br />
Katrin Dornheim und Lucy Redler legen<br />
im Beitrag „Wessen <strong>Bahn</strong>? Unsere<br />
<strong>Bahn</strong>!“ in diesem Heft den massiven Personalabbau<br />
bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> dar.<br />
Ausgehend vom Gründungsbestand der<br />
S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im Jahr 1994 von<br />
ca. 5000 Beschäftigten wurde der Personalbestand<br />
bis 2009 auf 2885 Mitarbeiter<br />
gesenkt. Im gleichen Zeitraum verdoppelten<br />
sich die Verkehrsleistungen<br />
der S-<strong>Bahn</strong> bei der Personenbeförderung<br />
nahezu. Bezogen auf die pro Einheit geleistete<br />
Arbeit ist das eine Verdichtung<br />
um den Faktor 3,5 bis vier. Seit 2010 gibt<br />
es so etwas wie einen Stopp des Abbaus,<br />
verschiedentlich wird sogar zögerlich<br />
wieder eingestellt, allerdings keineswegs<br />
adäquat im Hinblick auf den Bedarf.<br />
Gleichzeitig erfolgen die neuesten Begründungen,<br />
weswegen immer noch kein<br />
Normalfahrplan gefahren wird, mit Hinweis<br />
auf das Personal. Zunächst ist von<br />
„hohen Krankenständen“ die Rede, dann<br />
von „100 Lokführern, die fehlen.“ Als<br />
Arbeitgeber sollte man eigentlich vorsichtig<br />
damit sein, mit hohen Krankenständen<br />
Öffentlichkeitsarbeit zu<br />
machen. Hohe Krankenstände sind ein<br />
zuverlässiger Indikator schlechter Personalpolitik.<br />
Gute Arbeitsbedingungen,<br />
hohe Identifikation und eine gute Altersmischung<br />
sind Voraussetzung für einen<br />
niedrigen Krankenstand. Die Arbeitsbedingungen<br />
bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> sind<br />
durch die Arbeitsverdichtung, aber auch<br />
durch nachteilige Veränderungen am<br />
Arbeitsplatz wie die zusätzliche Übernahme<br />
der Zugabfertigung durch die<br />
Lokführer bei der S-<strong>Bahn</strong> stark gesunken.<br />
Die Identifikation der Beschäftigten<br />
mit „ihrer“ S-<strong>Bahn</strong> war traditionell sehr<br />
hoch. Erst das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos konnte<br />
diese weit in die Jahre vor der Teilung<br />
zurückreichende Bindung beschädigen.<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Was die gute Alters- und Ausbildungsmischung<br />
betrifft: Auch in diesem<br />
Bereich hat man Elementares vernachlässigt.<br />
Zu März 2012 sollen 100 neue<br />
Lokführerinnen und Lokführer ihre Ausbildung<br />
beendet haben. Damit wird ein<br />
akuter Engpass behoben, aber in die<br />
Kontinuität der Personalpolitik eine weitere<br />
Scharte geschlagen.<br />
Infrastruktur- Unterinvestition<br />
+ vernachlässigtes Wagenmaterial<br />
+ Personalabbau = Infarkt<br />
Die Folgen der Fehler und Unterinvestitionen<br />
in den drei genannten Bereichen<br />
haben jeweils eigene Wiederkehrintervalle.<br />
100 gleichzeitig eingestellte Lokführer<br />
gehen etwa gleichzeitig in Rente.<br />
Verlängerungen der eigentlichen Regellaufzeit<br />
beim Wagenmaterial führen zu<br />
Inspektions- und Wartungsbergen. Erfolgen<br />
Reparatur oder Austausch von Gleisen<br />
oder Signalanlagen nicht kontinuierlich,<br />
kommt es zum Sanierungsstau –<br />
oder zu Schäden. Die jeweiligen zyklischen<br />
Investitionsstau-Folgen können<br />
zeitversetzt auftreten. Auch Überschneiden<br />
sich die Kapazitäten z.B. im Austausch<br />
von Weichen und im Austausch<br />
von Radsatzwellen gar nicht oder kaum.<br />
Es ist allerdings durchaus möglich, dass<br />
einmal aus zwei oder sogar drei Bereichen<br />
relevante Überschneidungen auftreten.<br />
In Ansätzen haben das die S-<br />
<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> und ihre Fahrgäste schon zu<br />
spüren bekommen. Seit 2009 fehlten<br />
durchgängig Wagen wegen Unterinvestition.<br />
Teilweise konnten aber auch fahrbereite<br />
Züge nicht fahren – weil Weichen<br />
eingefroren waren und Lokführer<br />
fehlten. Solch phasengleiches Auftreten<br />
von zyklischer Unterinvestition kann die<br />
Kapazitäten eines Unternehmens überfordern,<br />
es droht der Kollaps. Noch häufiger<br />
ist der Infarkt durch Zusammenbruch<br />
der Infrastruktur infolge eines<br />
oder mehrerer akuter Schadensfälle.<br />
Bei Schäden werden für deren Behebung<br />
Kapazitäten gebunden, die für die<br />
Arbeiten an den Ersatzinvestitionen fehlen.<br />
Wenn Teile der Infrastruktur ausfallen,<br />
werden die anderen Teile über Gebühr<br />
beansprucht und können deswegen<br />
auch ausfallen. Dergleichen kann sich<br />
zum Teufelskreislauf entwickeln, der bis<br />
hin zum schlagartigen Versagen von Infrastrukturen<br />
führen kann: dem Infarkt.<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Großbritannien musste Ende der 1990er<br />
Jahre nach einer Serie schwerer Zugunglücke<br />
ein nahezu landesweites Tempolimit<br />
verhängen. Im offiziellen Untersuchungsbericht<br />
einer der dortigen Eisenbahnunfälle<br />
wurden im Wortsinn zerbröselnde<br />
Schienen als Ursache festgestellt<br />
3. Zum Infarkt führte, dass die für<br />
die Infrastruktur verantwortliche Aktiengesellschaft<br />
Railtrack bekennen musste,<br />
nicht zu wissen, wo vergleichbare Schäden<br />
vorlagen und wo nicht.<br />
Demokratische Kontrolle<br />
kann Infrastrukturversagen<br />
verhindern<br />
Die privatrechtliche Aktiengesellschaft<br />
DB AG befindet sich laut weiterhin gültigem<br />
Bundestagsbeschluss immer noch<br />
auf dem Weg zur Börse. Dabei hat sich<br />
längst gezeigt, dass die börsenaffinen<br />
Strukturen der Steuerung und Kontrolle<br />
die zugehörigen Infrastrukturen in kurzer<br />
Zeit nachhaltig schädigen werden.<br />
Soll vermieden werden, dass das S-<br />
Unterinvestition = S-<strong>Bahn</strong>-Chaos<br />
Auf etwa 10% des Netzes unfreiwilliges Tempolimit<br />
Der Verkehrsverbund <strong>Berlin</strong>-Brandenburg (VBB) berichtete in der „Qualitätsbilanz<br />
2009“ zur Infrastruktur der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>: „Im Jahr 2009 wurde eine unabhängige<br />
Netzzustandsanalyse für das <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-Netz erstellt. (…) Ziel war, einen<br />
Überblick über die Qualität der Strecken und des S-<strong>Bahn</strong>-Netzes zu erhalten (…)<br />
Nur so konnte eine qualitative Bewertung des Fahrbetriebs im Hinblick auf die Infrastruktur<br />
vorgenommen werden. Im gesamten Untersuchungsnetz (der S-<strong>Bahn</strong> in<br />
<strong>Berlin</strong> und Brandenburg; LP21-Red.) wurden 134 Geschwindigkeitseinbrüche mit<br />
einer Gesamtlänge von 62,6 Kilometern festgestellt. Insgesamt sind damit 9,5 Prozent<br />
des Netzes nicht mit der eigentlichen Streckengeschwindigkeit befahrbar. (…)<br />
Da in den nächsten Jahren umfangreiche Baumaßnahmen im <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Netz stattfinden, ist auch weiterhin mit Geschwindigkeitseinbrüchen durch Baustellen<br />
zu rechnen.“ Aufgrund des im Vergleich zur Infrastruktur deutlich schlechteren<br />
Zustands des S-<strong>Bahn</strong>-Wagenmaterials spielten in den Folgejahren die erwähnten<br />
„Geschwindigkeitseinbrüche“ im Netz eine geringere Rolle, da ein großer<br />
Teil der S-<strong>Bahn</strong>en für längere Zeitabschnitte ein generelles Tempolimit verordnet<br />
bekommen hatte.<br />
<strong>Bahn</strong>-Chaos zur dauerhaften Chaos-S-<br />
<strong>Bahn</strong> wird, ist der einzige Ausweg die<br />
Rückführung unter demokratische Kontrolle<br />
und die Absage an das Prinzip der<br />
Gewinnmaximierung. Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
gehört wie die <strong>Berlin</strong>er Wasserversorgung<br />
zur Daseinsvorsorge. Wie bei anderen<br />
Verkehrsträgern sind – gesamtgesellschaftlich<br />
gerechnet und auf längere<br />
Frist – betriebswirtschaftliche Gewinne<br />
mit der S-<strong>Bahn</strong> nicht zu machen, jede<br />
Gewinnausweisung basiert auf – volkswirtschaftlich<br />
sinnvollen – öffentlichen<br />
Zuschüssen. Für die Wiedererlangung<br />
der demokratischen Kontrolle über die<br />
S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> ist es insofern zwar nicht<br />
ausreichend, wenn das Eigentum der zugehörigen<br />
Infrastrukturen öffentlich<br />
wird und wieder öffentlichem Recht<br />
folgt, aber es ist notwendige Voraussetzung,<br />
das S-<strong>Bahn</strong>-Chaos zu beenden.<br />
Carl Waßmuth lebt in <strong>Berlin</strong> und ist aktiv bei<br />
Attac und bei Gemeingut in BürgerInnenhand<br />
(GiB). Siehe www.gemeingut.org<br />
Anmerkungen:<br />
1 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr.<br />
Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE<br />
GRÜNEN, Drucksache 16/12945: Kapazitätsabbau und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit<br />
der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/ 16/131/1613139.pdf<br />
2 „Die Ausfälle selbst in diesem milden Winter [2011/2012, Anm. C.W] gingen auf fehlende Modernisierungen<br />
der Stellwerke zurück", heißt es in internen Unterlagen der DB. Nötig sei daher<br />
das „Aufsetzen eines Sonderprogramms Leit- und Sicherungstechnik“. Dafür müssten in den<br />
nächsten zehn Jahren 1,5 Milliarden Euro aufgewendet werden." Quelle: www.morgenpost.de/<br />
berlin-aktuell/article106169631/Stellwerke-verantwortlich-fuer-S-<strong>Bahn</strong>-Ausfaelle.html<br />
3 „rail has literally been desintegrated“; Lord Cullen-Bericht/Ladbroke-Grove rail Inquiry<br />
35
36<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
EINE HORROR-DOKU DER EXTRA-KLAS S E<br />
S IE TAUCHTEN OFT NUR<br />
NOCH IN DEN S EHN-<br />
S ÜCHTIGEN FANTAS IEN<br />
IHRER NUTZER AUF ODER IN<br />
DEN AUFGEHÜB S CHTEN ZAHLEN<br />
IHRER TOTENGRÄBER.<br />
IHRE S UBSTANZ HATTE<br />
S ICH DURCH JAHRELANGE<br />
VERNACHLÄS SIGUNG<br />
VERSCHLIS SEN.<br />
VIELE VON DENEN, DIE S ICH<br />
VORHER JAHRZEHNTELANG<br />
UM S IE BEMÜHT HATTEN,<br />
WAREN IN FREIGES ETZTER<br />
UNTÄTIGKEIT DABEI,<br />
ZU VERHARTZEN.<br />
Lunapark21·extra 6/2012
<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, Entstehung und Perspektive<br />
Rouzbeh Taheri<br />
Als an einem verregneten Tag im Sommer<br />
2009 die ersten bekanntgewordenen<br />
Probleme bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />
die Titelseiten der Zeitungen beherrschten,<br />
witzelte ein Freund, man hätte nun<br />
nicht nur beim Wetter englische Verhältnisse,<br />
sondern auch bei der S-<strong>Bahn</strong>.<br />
Er bezog sich auf die katastrophale Situation<br />
der britischen Eisenbahn nach<br />
den dort erfolgten Privatisierungen.<br />
Wir ahnten nicht, wie richtig er lag.<br />
Die <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er wollten<br />
es lange nicht wahrhaben, dass die Unfälle,<br />
Zugausfälle, Verspätungen und<br />
zeitweiligen Stilllegungen ganzer Linien<br />
von Dauer sein würden. Schließlich hatte<br />
die S-<strong>Bahn</strong> jahrzehntelang problemlos<br />
funktioniert. Der Krieg behinderte ihre<br />
Fahrt nur für erstaunlich kurze Zeit. Die<br />
Mauer konnte ihr nur teilweise Einhalt<br />
gebieten. Und nach der Vereinigung der<br />
beiden Stadthälften schien eine neue<br />
Blütezeit für die S-<strong>Bahn</strong> anzubrechen.<br />
Dies endete jedoch abrupt in jenem<br />
Sommer des Jahres 2009.<br />
Zunächst ging man von Problemen<br />
aus, die bald behoben sein würden.<br />
Nachdem aber im darauffolgenden Winter<br />
2009/2010 alles schlimmer wurde,<br />
als dann der nächste Sommer keine Besserung<br />
brachte und als es schließlich zu<br />
einem neuen Chaos-Winter 2011/2012<br />
kam, war die Geduld der Hauptstädter<br />
endgültig zu Ende. Gefühlte 100 Erklärungen<br />
der S-<strong>Bahn</strong> Manager, dass bald,<br />
ja ganz bald, alles wieder gut werde, und<br />
gefühlte 100 weitere Erklärungen der<br />
Politik, dass man schon alles im Griff<br />
habe, trugen dazu bei, dass kein Fahrgast<br />
in <strong>Berlin</strong> diesen Damen und Herren<br />
auch nur noch ein Wort glaubte. In der<br />
Zwischenzeit war bekannt geworden,<br />
welche haarsträubenden „Sparmaßnahmen“<br />
bei Infrastruktur und Personal zu<br />
den chaotischen Verhältnissen geführt<br />
hatten. Dies alles erfolgte im Interesse<br />
der Gewinnmaximierung in einem Betrieb,<br />
der eigentlich der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />
dienen sollte.<br />
In dieser Situation, im März 2011,<br />
gründete sich der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>.<br />
Ausgangspunkt war eine Veranstaltung<br />
am 8. März im Haus der Demokratie, bei<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
der Gewerkschaftsmitglieder, Aktive aus<br />
Attac, dem Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle, des<br />
<strong>Berlin</strong>er Antikrisenbündnisses und andere<br />
über die Möglichkeiten eines wirkungsvollen<br />
Widerstandes angesichts<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Chaos´ diskutierten. Zu diesem<br />
Zeitpunkt wurde auch bekannt, dass<br />
Teile des damaligen, von SPD und Linken<br />
gestellten <strong>Berlin</strong>er Senats über eine Teilprivatisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> nachdachten.<br />
Die Probleme, die dadurch entstanden<br />
sind, dass die S-<strong>Bahn</strong> sich wie ein privates<br />
Unternehmen benimmt und alles<br />
unternimmt, um die Gewinne zu steigern,<br />
sollten demnach dadurch beseitigt<br />
werden, dass man einen Teil des S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Netzes einem anderen Unternehmen<br />
übergibt, das genauso renditegierig<br />
ist. Solche grandiosen Ideen können nur<br />
Politiker haben, die sowieso auf jede Gelegenheit<br />
warten, um öffentliches Eigentum<br />
zu verscherbeln. Strom, Gas, über<br />
100000 Wohnungen und nicht zuletzt<br />
die Wasserbetriebe wurden in den letzten<br />
Jahren in <strong>Berlin</strong> privatisiert.<br />
Gerade die Geschichte der Privatisierung<br />
der <strong>Berlin</strong>er Wasserbetriebe, ein<br />
Gaunerstück sondergleichen, war und ist<br />
beispielhaft – eine Erläuterung würde<br />
den Rahmen dieses Artikels sprengen –<br />
Interessierte können auf den Seiten des<br />
<strong>Berlin</strong>er Wassertisches alles Wissenswerte<br />
diesbezüglich nachlesen (siehe:<br />
www.berliner-wassertisch.net).<br />
Der Widerstand gegen die Folgen dieser<br />
Privatisierung und der im Februar<br />
2011 erfolgreich durchgeführte Volksentscheid,<br />
organisiert vom <strong>Berlin</strong>er Wassertisch,<br />
standen auch Pate bei der neuen<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Initiative. Der Wassertisch<br />
war auch Inspiration bei der Namensgebung<br />
der neu gegründeten S-<strong>Bahn</strong>-Initiative,<br />
wie der gewählte Name S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Tisch</strong> verdeutlicht.<br />
Wir waren uns einig, dass wir nicht<br />
länger tatenlos zusehen wollen, wie<br />
unsere S-<strong>Bahn</strong> kaputtgespart und ihrer<br />
Privatisierung Tür und Tor geöffnet wird.<br />
Es gab zwar bereits zu diesem Zeitpunkt<br />
einige Gruppen, sowohl bei den Beschäftigten<br />
und den Gewerkschaften, als auch<br />
aus anderen Bereichen, die sich mit dem<br />
Thema beschäftigten. Doch diese waren<br />
Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
bis dahin nicht miteinander vernetzt.<br />
Gerade dieser Aspekt der Vernetzung<br />
und der Zusammenarbeit zwischen den<br />
Beschäftigten, politischen Gruppen und<br />
engagierten Fahrgästen ist ein Schwerpunkt<br />
und auch ein Erkennungsmerkmal<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es. In der Initiative<br />
arbeiten die Gewerkschaft EVG und Betriebsräte<br />
der S-<strong>Bahn</strong> zusammen mit<br />
dem Fahrgastverband PRO BAHN <strong>Berlin</strong>-<br />
Brandenburg, dem Bündnis „<strong>Bahn</strong> für<br />
Alle“, Attac, der Volkssolidarität und<br />
diversen anderen politischen Gruppen,<br />
Bürgervereinen und Einzelpersonen.<br />
Auch politische Parteien – die LINKE,<br />
DKP und die Piraten – sind vertreten.<br />
Wir wollen und werden uns nicht<br />
gegeneinander ausspielen lassen, da<br />
sowohl die Fahrgäste, als auch die S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Mitarbeiter ein Interesse an einer<br />
funktionierenden, sicheren und zukunftsfähigen<br />
S-<strong>Bahn</strong> haben.<br />
Warum ein Volksbegehren?<br />
Um sich einzumischen und den Widerstand<br />
zu organisieren, gibt es unterschiedliche<br />
Möglichkeiten: Veranstaltungen,<br />
Flugblattaktionen, Demonstrationen,<br />
Streiks etc. Es sind alles Instrumente,<br />
die je nach Situation und Kräfteverhältnis<br />
im Rahmen einer politischen<br />
Kampagne eingesetzt werden können.<br />
Ein Volksbegehren ist ein zusätzliches<br />
Instrument. Es soll und kann andere Formen<br />
des Widerstands nicht ersetzen,<br />
sondern soll zu weitergehenden Protesten<br />
ermutigen.<br />
Vor dem Hintergrund des erfolgreichen<br />
Wasser-Volksbegehrens und der<br />
Tatsache, dass das Thema S-<strong>Bahn</strong> in<br />
<strong>Berlin</strong> seit nunmehr drei Jahren ein Dauerbrenner<br />
ist, beschlossen wir die Einleitung<br />
eines Volksbegehrens. Die juristischen<br />
Beschränkungen, die durch Landes-,<br />
Bundes- und Europarecht dem<br />
Inhalt eines Volksbegehrens auferlegt<br />
werden, versuchen wir durch die politische<br />
Begleitkampagne zu kompensieren.<br />
Ein Beispiel: Wir können aus juristischen<br />
Gründen ein Privatisierungsverbot,<br />
unser wichtigstes Anliegen, nicht im<br />
Gesetzesentwurf festschreiben. Wir<br />
haben aber Bedingungen in diesem Ent-<br />
37
38<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Volksbegehren und Volksentscheide in <strong>Berlin</strong><br />
Die Volksgesetzgebung in <strong>Berlin</strong> besteht aus einem dreistufigen Verfahren:<br />
In der ersten Stufe („Antrag auf Volksbegehren“) müssen mindestens 20000<br />
gültige Unterschriften innerhalb von sechs Monaten für den Gesetzesentwurf<br />
gesammelt werden, die Sammlung kann frei ( also auch auf der Straße) stattfinden.<br />
Unterschriftsberechtigt sind, bei allen Stufen, die bei den Wahlen zum <strong>Berlin</strong>er<br />
Abgeordnetenhaus wahlberechtigten Personen.<br />
Nach der ersten Stufe prüft der Senat die Zulässigkeit des Volksbegehrens. Bei<br />
positivem Entscheid wird die zweite Stufe („Volksbegehren“) eingeleitet. Hier müssen<br />
sieben Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung den Gesetzesentwurf unterschreiben.<br />
Das sind aktuell in <strong>Berlin</strong> rund 170000 Personen. Die Frist beträgt vier<br />
Monate, die Sammlung findet frei statt, zusätzlich sind die Bürgerämter verpflichtet<br />
die Unterschriftenlisten auszulegen.<br />
Im Falle des erfolgreichen Abschluss der zweiten Stufe wird der „Volksentscheid“<br />
durchgeführt. Hier reicht für eine Annahme des Volksentscheids die einfache<br />
Mehrheit der Teilnehmenden, wobei mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten<br />
dem Gesetzesentwurf zustimmen müssen.<br />
wurf festgeschrieben, die es einem renditeorientiertem<br />
Unternehmen weitgehend<br />
verunmöglichen, den S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb<br />
gewinnbringend zu betreiben. Es<br />
könnte nämlich nicht die Löhne kürzen,<br />
bei der Personalausstattung sparen oder<br />
die Zugreserven reduzieren. Zusätzlich<br />
bringen wir unsere politische Hauptbotschaft<br />
„Gegen Privatisierung und Ausplünderung“<br />
mittels des Volksbegehrens<br />
in die Öffentlichkeit. Das ist uns bisher<br />
durch zahlreiche Infotische und die Präsenz<br />
in den Medien gut gelungen.<br />
Diese zweigleisige Strategie führte in<br />
der ersten Stufe des Volksbegehrens zu<br />
einem großen Erfolg. Die Unterschriftensammlung<br />
begann am 23. Juni 2011. Am<br />
23. Dezember 2011 konnte die Initiative<br />
der Senatsverwaltung 31870 Unterschriften<br />
übergeben. Von diesen wurden<br />
letztendlich 28084 anerkannt. Insgesamt<br />
wurden damit mehr als genug<br />
Unterschriften gesammelt; nötig waren<br />
20000.<br />
Wir sind mit unseren Inhalten auch in<br />
der Stadtöffentlichkeit angekommen, zu<br />
einem wichtigen politischen Akteur in<br />
dieser Frage und zum Hauptkontrahenten<br />
der Privatisierungsbefürworter geworden.<br />
Allein über 100 Artikel in den<br />
regionalen und überregionalen Printmedien,<br />
diverse Radio- und Fernsehberichte<br />
und unzählige Beiträge im Internet zeugen<br />
davon. Nicht zuletzt haben wir vielen<br />
<strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>ern die<br />
Möglichkeit gegeben, ihre Opposition<br />
zur herrschenden Politik Ausdruck zu<br />
verleihen. Zuerst niederschwellig mit<br />
einer Unterschrift, die aber für einige der<br />
zündende Funke war, um sich auch aktiver<br />
einzubringen. Ohne das Instrument<br />
Volksbegehren hätten wir dies alles nicht<br />
geschafft.<br />
Natürlich sind Volksentscheide kein<br />
Allheilmittel. Die herrschende Politik und<br />
die mächtigen Interessenverbände der<br />
Wirtschaft finden so gut wie immer Mittel<br />
und Wege, um die Entscheidungen<br />
der Bevölkerung zu hintergehen, zu torpedieren<br />
oder in endlosen juristischen<br />
Streitereien ersticken zu lassen. Auch<br />
der im Herbst 2011 neu gebildete SPD-<br />
CDU-Senat in <strong>Berlin</strong> versucht dies mit<br />
einer sogenannten „Überprüfung“ des<br />
Textes des Volksbegehrens vor dem Landesverfassungsgericht<br />
(siehe Vorwort S-<br />
<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> und Kasten).<br />
Unsere Arbeit beginnt mit einem<br />
Volksbegehren, endet aber nicht mit<br />
dessen Abschluss. Wir wollen und dürfen<br />
den Druck auf die Politik nicht verringern.<br />
Dazu gehört auch die Aktivierung<br />
von weiteren Bürgerinnen und Bürgern,<br />
die sich bei diesem Thema einbringen,<br />
und die Koordination von betrieblichen<br />
und außerbetrieblichen Aktionen. Die<br />
Beschäftigten bei der S-<strong>Bahn</strong> und ihre<br />
gewerkschaftliche Vertretung spielen bei<br />
der Organisation des Widerstandes eine<br />
besondere Rolle.<br />
All dies bedeutet: Selbst ein gewonnener<br />
Volksentscheid, wovon wir noch<br />
einige Schritte entfernt sind, wäre nur<br />
ein Teilerfolg. Entscheidend wird sein,<br />
von wie viel politischem Druck in der<br />
Öffentlichkeit ein Volksbegehren begleitet<br />
wird.<br />
Die Perspektive<br />
Der Widerstand gegen die Privatisierung<br />
des öffentlichen Eigentums ist ein Teil<br />
des Kampfes gegen die neoliberale Ideologie,<br />
die in den letzten Jahrzehnten die<br />
Welt beherrscht. In Zeiten der Finanzkrise,<br />
in der die Schulden der Banken und<br />
Spekulanten von der Allgemeinheit getragen<br />
werden, in der täglich die Verluste<br />
sozialisiert werden und die Gewinne<br />
auf Nimmerwiedersehen in den Taschen<br />
einiger Weniger verschwinden, ist dieser<br />
Kampf notwendiger denn je.<br />
Kurz nach dem Finanzcrash 2008 erschien<br />
ein Interview mit einem gerade<br />
arbeitslos gewordenen Investmentbanker,<br />
der offensichtlich so etwas wie eine<br />
Erleuchtung hatte. Er sagte in etwa, der<br />
Kapitalismus sei wie eine wilde Bestie,<br />
die man nur in Schach halten könne,<br />
wenn man eine Peitsche in der Hand<br />
halte. Die neoliberale Politik der letzten<br />
Jahre habe diese Peitsche weggenommen.<br />
Nun gehe die Bestie ihrer Natur<br />
nach.<br />
Kurzfristig sollten wir wieder die Peitsche<br />
in die Hand nehmen. Langfristig<br />
sollten wir überlegen, ob wir mit einer<br />
Bestie zusammenleben wollen.<br />
Rouzbeh Taheri ist Sprecher des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Tisch</strong>es <strong>Berlin</strong><br />
Lunapark21·extra 6/2012
Am 7. Februar 2012 verkündete der<br />
Senat, dass er beabsichtige, das Volksbegehren<br />
„Rettet unsere S-<strong>Bahn</strong>“ juristisch<br />
überprüfen zu lassen. Der Senat, hieß es,<br />
habe Zweifel an der Zulässigkeit des<br />
Volksbegehrens und werde deshalb nach<br />
§17 Absatz 6 Abstimmungsgesetz (Gesetz<br />
über Volksinitiative, Volksbegehren<br />
und Volksentscheid) den Verfassungsgerichtshof<br />
anrufen.<br />
Dahinter steht der Versuch des Senats,<br />
das Volksbegehren mit juristischen Mitteln<br />
auszubremsen oder zumindest zu<br />
verzögern. Das Volksbegehren hat zum<br />
Ziel, ein Gesetz zu erlassen, um das S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Chaos zu beenden:<br />
Neue Züge und mehr Personal sollen<br />
bereit gestellt, die Verträge offen gelegt<br />
und weitere Verbesserungen erreicht<br />
werden. Durch eine gesetzliche Festschreibung<br />
dieser Bedingungen würde<br />
das Interesse von privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
(EVU) am Betrieb von<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Strecken sinken. Die Profite, die<br />
private EVU durch Stellenabbau, Lohndumping<br />
und geringe Investitionen erzielen,<br />
könnten nicht realisiert werden.<br />
Doch genau darauf setzt der schwarzrote<br />
Senat: Die Teilprivatisierung des S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Betriebs soll vorangetrieben werden.<br />
Private Unternehmen sollen Strecken<br />
betreiben und damit Profite einfahren.<br />
Ein Blick auf den Regionalverkehr in<br />
Brandenburg genügt, um zu sehen, wohin<br />
es führt, wenn private Unternehmen<br />
bei einer Ausschreibung des Zugverkehrs<br />
den Zuschlag erhalten. In Brandenburg<br />
betreibt die private ODEG seit 2009 fünf<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Linien des Regionalverkehrs. Bei der<br />
ODEG verdienen die Beschäftigten im<br />
Durchschnitt 30 Prozent weniger als bei<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG. Eine Garantie<br />
dafür, dass die Züge der privaten Unternehmen<br />
funktionieren, gibt es nicht: Im<br />
Februar 2012 fielen beispielsweise bei<br />
den neuen ODEG-Zügen der Linie OE33<br />
die Heizungen aus; das Unternehmen<br />
ließ mitteilen, diese seien nur bis minus<br />
20 Grad Celsius ausgelegt.<br />
Senat übergeht den Willen von<br />
30 000 <strong>Berlin</strong>erInnen<br />
Im Juli beginnt die offizielle Ausschreibung<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebs auf dem Ring<br />
und auf Linien im Süd-Osten. Das Volksbegehren<br />
S-<strong>Bahn</strong> stört das reibungslose<br />
Ausschreibungsverfahren und ist dem<br />
Senat ein Dorn im Auge. Jede zeitliche<br />
Verzögerung oder der Versuch, das<br />
Volksbegehren für illegal zu erklären,<br />
verschafft dem Senat Spielraum. Das<br />
zeigt: Der Senat will um jeden Preis die<br />
Teilprivatisierung durchsetzen und ignoriert<br />
dabei den Willen von über 30000<br />
<strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>ern, die das<br />
Volksbegehen S-<strong>Bahn</strong> in der ersten Stufe<br />
unterzeichnet haben, und all derer, die<br />
ebenfalls gegen eine Teilprivatisierung<br />
sind. Der Senat hält offenbar nichts von<br />
direkter Demokratie. Diese Taktik ist<br />
nicht neu. Schon bei den Volksbegehren<br />
Wasser, Kita und Wahlrecht gab es Versuche,<br />
die Initiatoren durch eine juristische<br />
Überprüfung der Volksbegehren<br />
auszubremsen. Der Senat hatte damit<br />
keinen Erfolg; alle drei Volksbegehrens-<br />
Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
Stellungnahme des Koordinierungskreises des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s vom 17. Februar 2012<br />
zur Entscheidung des Senats, das Volksbegehren S-<strong>Bahn</strong> juristisch zu prüfen.<br />
Senat will Volksbegehren verzögern,<br />
behindern und Fakten schaffen<br />
initiativen wurden jedoch erheblich in<br />
ihrer Arbeit behindert und die Begehren<br />
verzögert.<br />
In Bezug auf das Volksbegehren S-<br />
<strong>Bahn</strong> drückt die Entscheidung des Senats<br />
zweierlei aus: Erstens: Der Senat<br />
geht offenbar davon aus, dass der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> die zweite Stufe des Volksbegehrens<br />
erfolgreich schaffen würde.<br />
Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> ist zum politischen<br />
Akteur und zu einem Ärgernis aus Sicht<br />
des Senats geworden. Der Gang vor das<br />
Verfassungsgericht ist daher Ausdruck<br />
der Stärke des Volksbegehrens S-<strong>Bahn</strong><br />
und der Sorge des Senats vor unserem<br />
Erfolg. Zweitens: Das Vorgehen des<br />
Senats sollte allen bestehenden und<br />
künftigen Volksbegehren-Initiativen eine<br />
Lehre sein: Wenn der Senat sich politisch<br />
für eine juristische Überprüfung<br />
entscheidet, findet er offenbar immer<br />
ein juristisches Argument, um diesen<br />
Weg der Verzögerung gehen zu können.<br />
Die Änderung des Gesetzes über Volksinitiative,<br />
Volksbegehren und Volksentscheid<br />
im Juli 2010 erleichtert es dem<br />
Senat, Volksbegehren vor der zweiten<br />
Stufe durch eine juristische Überprüfung<br />
Hürden in den Weg zu legen. Deshalb ist<br />
der politische Druck auf den Senat und<br />
die Schaffung von Öffentlichkeit für die<br />
Ziele des jeweiligen Volksbegehrens von<br />
hoher Bedeutung<br />
Die bisherigen Argumente<br />
des Senats<br />
Das Volksbegehren kann vom Verfassungsgerichtshof<br />
des Landes für unzu-<br />
39
40<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
lässig erklärt werden, wenn es nach §<br />
12, Absatz 2, Gesetz über Volksinitiative,<br />
Volksbegehren und Volksentscheid (Abstimmungsgesetz)<br />
gegen das Grundgesetz<br />
und sonstiges Bundesrecht verstößt<br />
oder der Verfassung von <strong>Berlin</strong> widerspricht<br />
(der bisherigen Rechtsprechung<br />
zufolge müsste das Volksbegehren in<br />
„erheblichem“ Maße dagegen verstoßen).<br />
In der Pressemitteilung des Senats<br />
vom 7. Februar werden vier Argumente<br />
gegen die Zulässigkeit des Volksbegehrens<br />
genannt.<br />
Im Folgenden werden diese vermeintlichen<br />
Argumente aufgeführt (zitiert aus<br />
der Pressemitteilung des Senats) und<br />
kurz kommentiert.<br />
1. „Hinsichtlich der<br />
Wagenkapazitäten ist<br />
es auch aus technischen<br />
Gründen nicht<br />
möglich, die Forderungen<br />
in der vorgegebenen<br />
Zeit zu<br />
erfüllen.“<br />
Der Gesetzestext des<br />
S-<strong>Bahn</strong>tischs sieht<br />
vor, die Zahl der in<br />
Einsatz befindlichen<br />
Wagen und Sitzplatzkapazitäten<br />
ab dem<br />
Zeitpunkt des<br />
Inkrafttretens des<br />
Gesetzes innerhalb<br />
von zwei Jahren mindestens<br />
wieder auf<br />
das Niveau des Jahres<br />
2005 anzuheben.<br />
Warum dies durch<br />
Reparaturen an<br />
bestehenden Zügen<br />
und die Bestellung<br />
neuer Züge nicht<br />
möglich sein sollte,<br />
erklärt uns der Senat<br />
nicht. Es liegen Aussagen<br />
von Experten<br />
vor, denen zu Folge<br />
eine Umsetzung<br />
schwierig, aber möglich<br />
ist.<br />
2. „Die Bedenken<br />
beziehen sich unter<br />
anderem darauf, dass<br />
in einen laufenden<br />
Vertrag per Gesetzesbeschluss eingegriffen<br />
werden soll – sowohl hinsichtlich<br />
der materiellen Anforderungen an<br />
den S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb als auch hinsichtlich<br />
der Abwägung zwischen dem<br />
Informationsinteresse der Öffentlichkeit<br />
und den grundrechtlich geschützten<br />
Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH.“<br />
Das Argument der zu schützenden Betriebs-<br />
und Geschäftsgeheimnisse wird<br />
eine Woche nach der Entscheidung des<br />
Senats noch nicht einmal mehr von beiden<br />
Regierungsfraktionen geteilt. „Wir<br />
befürworten die unverzügliche Offenlegung<br />
der S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrsverträge“,<br />
erklärte SPD-Fraktionschef Raed Saleh<br />
am 14. Februar. Auch werde man „die<br />
geforderten weiteren Einzelmaßnahmen<br />
ernsthaft prüfen“ – unbenommen der<br />
rechtlichen Prüfung, um die der Senat<br />
das Landesverfassungsgericht gebeten<br />
hat. (...)<br />
Anmerkung der Redaktion: Nach Salehs<br />
Erklärungs wurde der S-<strong>Bahn</strong>-Vertrag im<br />
Internet veröffentlicht – zunächst mit<br />
größeren geschwärzten Passagen und<br />
nach neuen Protesten ungekürzt bzw.<br />
ohne Schwärzungen.<br />
3. „Bezüglich künftiger Verkehrsverträge<br />
hängt die Erfüllbarkeit der Forderungen<br />
davon ab, ob sich ein Unternehmen<br />
findet, das die Vorgaben akzeptieren<br />
würde. Auch dies lässt sich<br />
nicht per Gesetz beschließen.“<br />
Wenn man dieses Argument politisch<br />
ernst nehmen würde, würde das bedeuten,<br />
alle Bedingungen bei einer Vergabe<br />
immer davon abhängig zu machen, ob<br />
Ausschreibungsteilnehmer sie akzeptieren.<br />
In der Konsequenz wäre die Erarbeitung<br />
jeglicher Ausschreibungsbedingungen<br />
völlig sinnlos, denn man müsste die<br />
Unternehmen immer im Vorhinein nach<br />
ihren Wünschen fragen. Damit würden<br />
die privaten Unternehmen der öffentlichen<br />
Hand die Bedingungen vorschreiben.<br />
Selbst innerhalb der neoliberalen<br />
Logik ist diese Argumentation absurd.<br />
4. „Da zudem die Linien des <strong>Berlin</strong>er S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Netzes auch in das Land Brandenburg<br />
reichen, sind alle Verkehrsverträge<br />
gemeinsam mit dem Land<br />
Brandenburg abzuschließen. <strong>Berlin</strong>er<br />
Landesgesetze – darauf zielt das<br />
Volksbegehren – sind für das Land<br />
Brandenburg nicht bindend. Damit<br />
stellt der Gesetzentwurf Vorgaben auf,<br />
deren Erfüllung das Land <strong>Berlin</strong> wegen<br />
der Mitwirkungsnotwendigkeit des<br />
Landes Brandenburg nicht gewährleisten<br />
kann.“<br />
Das Argument, die <strong>Berlin</strong>er Regierung<br />
könne nichts ändern, wenn Brandenburg<br />
sich quer stelle, ist der Versuch des Senats,<br />
die Verantwortung von sich zu<br />
weisen. Ob die rot-rote Landesregierung<br />
in Brandenburg ein Interesse daran hat,<br />
den S-<strong>Bahn</strong>-Verkehr zu verbessern, ist<br />
eine politische Frage. Falls Brandenburg<br />
sich weigert, stellt sich aber weiterhin<br />
die Frage, ob das Volksbegehren „erheblich“<br />
gegen Landes- oder Bundesrecht<br />
Lunapark21·extra 6/2012
verstößt. Der Hauptteil des S-<strong>Bahn</strong>-Verkehrs<br />
findet in <strong>Berlin</strong> und nicht in Brandenburg<br />
statt. Ein Teil des Gesetzesentwurfs<br />
betrifft zudem Brandenburg nicht<br />
(wie beispielsweise mit Personen besetzte<br />
Fahrkartenschalter auf allen Umsteigebahnhöfen<br />
im AB-Bereich). Wir werden<br />
trotzdem alles in unserer Kraft stehende<br />
unternehmen, um den politischen<br />
Druck zu erhöhen, dass auch die Brandenburger<br />
und Brandenburgerinnen in<br />
den Genuss der von uns geforderten Verbesserungen<br />
kommen.<br />
Bezüglich der juristischen Argumente<br />
des Senats bleibt noch hinzuzufügen,<br />
dass der Senat es offenbar nicht für<br />
nötig gehalten hat, die Initiatoren über<br />
seine vermeintlichen juristischen Zweifel,<br />
wie im Volksbegehrensgesetz vorgesehen,<br />
zu informieren. Deshalb liegt die<br />
Vermutung nahe, dass die juristischen<br />
Einwände im Nachhinein „gesucht und<br />
gefunden“ wurden.<br />
Schon dreimal – bei den Volksbegehren<br />
Wasser, Kita und Wahlrecht – hat<br />
der Senat eine Niederlage vor Gericht<br />
erlitten. Der erneute Versuch, unser<br />
Volksbegehren, mit juristisch fragwürdigen<br />
Argumenten zu torpedieren, ist ein<br />
Angriff auf alle Volksbegehren-Initiativen<br />
und die direkte Demokratie als solche.<br />
Wir werden nicht locker lassen<br />
Der S-<strong>Bahn</strong>tisch ist fest entschlossen,<br />
sich von diesem Störfeuer nicht entmutigen<br />
zu lassen. Wir werden weiterhin<br />
die zweite Stufe des Volksbegehrens vorbereiten.<br />
Unsere Präsenz in der Öffentlichkeit,<br />
die Unterstützung durch viele<br />
Gruppen und die Spenden für das Volksbegehren<br />
machen uns zuversichtlich, genügend<br />
Rückenwind für die zweite Stufe<br />
zu haben. Wir werden uns juristisch und<br />
politisch verteidigen und bereiten Protestaktionen<br />
und Veranstaltungen vor.<br />
(…)<br />
Alle, die uns im Kampf gegen die Teilprivatisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> unterstützen<br />
möchten, sind bei unseren zweiwöchentlichen<br />
Treffen herzlich willkommen.<br />
Alle Informationen über unsere<br />
Treffen, Aktionen und unser Spendenkonto<br />
sind zu finden unter:<br />
www.s-bahn-tisch.de<br />
Kontakt: info@s-bahn-tisch.de<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Es handelt sich im folgenden um die Erfahrungen<br />
einer <strong>Berlin</strong>erin bei Unterschriftensammlungen<br />
gegen die Privatisierung<br />
und Ausplünderung der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong>. Meistens war sie allein unterwegs<br />
und die Aktionen waren kurzfristig geplant.<br />
Zuweilen wurde sie von ihrem<br />
Sohn oder anderen Verbündeten begleitet.<br />
Sammelzeitraum: 24.6. bis 23.12.11;<br />
Einsatzorte: Die S-<strong>Bahn</strong>höfe Zehlendorf,<br />
Wannsee, Rathaus Steglitz, Lichterfelde<br />
Ost, Sundgauer Str., Lichterfelde West,<br />
Botanischer Garten, Anhalter Bhf.; Linien<br />
S1 und S7, Jobcenter Steglitz/Zehlendorf,<br />
FU <strong>Berlin</strong>, ISTAF, Deutschland-Fest,<br />
Onkel-Tom Straßenfest (U-Bhf. Onkel<br />
Toms Hütte), Weihnachtsmarkt Bröhan-<br />
Museum.<br />
In den ersten sechs Wochen liefen<br />
meine Unterschriftenaktionen trotz der<br />
Sommerferien sehr gut. Die Bürger zeigten<br />
Interesse an dem Thema S-<strong>Bahn</strong> und<br />
Bereitschaft, sich genauer damit zu befassen.<br />
In der heißen Wahlkampfphase<br />
(den Wahlen zum <strong>Berlin</strong>er Abgeordne-<br />
Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsber<br />
...Bereitschaft, sich<br />
genauer damit zu<br />
befassen<br />
Susanne Klodt<br />
tenhaus; d. Red.) war es hingegen<br />
schwieriger, mit den Menschen ins Gespräch<br />
zu kommen, weil viele dachten,<br />
es handele sich um Werbung für eine<br />
Partei. Der Parteienfrust war den Wählern<br />
deutlich anzumerken.<br />
Beste Ergebnisse hatte ich stets in der<br />
S-<strong>Bahn</strong> selbst. Wichtig waren in erster<br />
Linie das Verteilen der Flugblätter und<br />
eine kurze mündliche Information darüber,<br />
worum es geht. Dabei lässt sich das<br />
Publikum in drei Kategorien einteilen:<br />
1. Die Bürger, die bereits informiert sind,<br />
2. die Menschen, die kein Interesse zeigen,<br />
3. jene, die einem bereitwillig zuhören<br />
und ggf. sogar über das Thema diskutieren.<br />
Von den Personengruppen eins und drei<br />
unterschreiben einige sofort, andere<br />
möchten erst noch genauer überlegen.<br />
Einige wenige sind Privatisierungsfanantiker.<br />
Durch gute Gespräche konnte ich<br />
häufig sogar Menschen zur Unterschrift<br />
bewegen, die meinten, der Kampf wäre<br />
vergebens.<br />
Teilt man die Befürworter des Volksbegehrens<br />
nach Alter auf, so ist mir bei<br />
meinen Sammlungen aufgefallen, dass<br />
die Altersgruppen zwischen 40 und 55<br />
und ab 70 Jahren besonders häufig unterschrieben<br />
haben. Das hängt sicherlich<br />
mit ihren Lebenserfahrungen zusammen,<br />
41
42<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
hte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsbe<br />
wie ich den Gesprächen immer wieder<br />
entnehmen konnte.<br />
Junge Mitbürger im Alter bis 30 Jahre<br />
zeigten kaum Interesse. Ein Vorbehalt,<br />
den ich öfter von Menschen hörte, die<br />
grundsätzlich gewillt waren zu unterschreiben,<br />
ist der des Datenschutzes. Sie<br />
haben teilweise schon schlechte Erfahrungen<br />
gemacht, als sie andernorts eine<br />
Unterschrift geleistet hatten und kurz<br />
danach aufgefordert wurden, für die<br />
Sache zu spenden.<br />
Besonders großes Interesse an unserer<br />
Aktion hatten die Brandenburger. Da<br />
merkte man ganz deutlich deren Abhängigkeit<br />
vom Transportmittel S-<strong>Bahn</strong>. Für<br />
viele Brandenburger hängt ihr Arbeitsplatz<br />
von der Funktionstüchtigkeit der<br />
S-<strong>Bahn</strong> ab, da sie sonst nicht ihren Arbeitsplatz<br />
erreichen können.<br />
Zum Sammeln bei bestimmten Anlässen<br />
möchte ich anmerken, dass Großveranstaltungen<br />
wie das ISTAF kaum dafür<br />
geeignet sind. Es sind zu viele Leute<br />
dort, die nicht in <strong>Berlin</strong> leben und damit<br />
nicht unterschriftsberechtigt sind. Häufig<br />
sind sie auch abgelenkt und für<br />
Gespräche zu kritischen Themen wenig<br />
aufgeschlossen. Bei solchen Anlässen<br />
sollte man auf jeden Fall in einer großen<br />
Gruppe (mindestens 15 Personen) sammeln,<br />
sonst geht man in dem Getümmel<br />
unter.<br />
Es bietet sich aber an, bei Veranstaltungen<br />
von Kiezinitiativen zu sammeln.<br />
Die dortigen Standinhaber und Besucher<br />
sind meist gut informiert und geneigt,<br />
sich kritisch mit sozialpolitischen Themen<br />
auseinanderzusetzen. Solche Erfahrung<br />
durften ein Mitstreiter und ich u.a.<br />
beim Bröhan-Museum machen.<br />
Bei vielen Mitbürgern macht sich<br />
nach zwei Jahrzehnten negativer Erfahrungen<br />
mit Privatisierungen in allen Bereichen<br />
(Energie, Wasser, Bildung, Pflege…)<br />
große Ernüchterung breit; viele<br />
fühlen sich sprichwörtlich verraten und<br />
verkauft. Nicht nur wegen der gravierenden<br />
Preisanstiege, die damit verbunden<br />
waren und sind, sondern auch, weil die<br />
Qualität der Dienstleistung nicht mehr<br />
den Mindestanforderungen gerecht wird.<br />
Auffällig war zudem, dass gerade bei<br />
den Sammelaktionen an der FU <strong>Berlin</strong><br />
relativ schwache Ergebnisse erzielt wurden.<br />
Das enttäuschte meine Erwartungen,<br />
die ich an Universitätsstudenten<br />
habe, sehr. Ich hatte den Eindruck, die<br />
Studenten wären vorrangig mit anderen<br />
Dingen beschäftigt; bei vielen musste<br />
ich leider ein erhebliches Desinteresse<br />
und/oder lückenhafte Kenntnis über das<br />
tagespolitische Geschehen feststellen.<br />
Fahrradläden, Buchhandlungen, kleine<br />
Bioläden, Kultkinos, Nachbarschaftsheime<br />
und Kieztreffpunkte sowie kleine<br />
Läden in unmittelbarer Nähe zu einem<br />
S-<strong>Bahn</strong>hof zeigten sich bereit, Flyer auszulegen<br />
und unsere Plakate aufzuhängen.<br />
Die persönliche Betreuung der Sammelstelle<br />
durch einen unserer Mitstreiter<br />
erwies sich dabei als äußerst hilfreich.<br />
Ich bin beispielsweise ab und an mal<br />
vorbeigefahren und habe nachgefragt,<br />
wie es läuft und ggf. volle Listen abgeholt.<br />
Unsere Unterstützer fragten sehr oft,<br />
ob und wo es beständig ambulante<br />
Sammelstellen gäbe. Die hatten wir leider<br />
nur sehr begrenzt und auch nicht<br />
gleichmäßig auf das Stadtgebiet verteilt.<br />
Vorausschauend auf die zweite Stufe des<br />
Volksbegehrens möchte ich deshalb anmerken,<br />
dass es sehr wichtig sein wird,<br />
eine Regelmäßigkeit in die Sammelaktionen<br />
zu bringen.<br />
Susanne Klodt ist Gründungsmitglied des<br />
S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Meinen Sammlelort am S-<strong>Bahn</strong>hof<br />
Charlottenburg, nahe der Einkaufsmeile<br />
Wilmersdorfer Straße, betreute ich mit<br />
Freunden oder alleine, mit wenigen Ausnahmen<br />
immer freitags zwischen 10 und<br />
12 Uhr. Ausgestattet mit einem vor die<br />
Brust gehängten großen Plakat „VOLKS-<br />
BEGEHREN Rettet die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“, einem<br />
Stapel Flugblätter und dem absolut<br />
notwendigen Klemmbrett mit Unterschriftenlisten,<br />
stand ich vor dem S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Ausgang, den Fahrgäste benutzen,<br />
die zum Übergang zur U 7, zur Wilmersdorfer<br />
Straße oder sonst wohin wollen.<br />
Oft war ich Auskunftsperson. Aus dem<br />
<strong>Bahn</strong>hof strömen nicht nur <strong>Berlin</strong>er,<br />
sondern auch viele Touristen. Die fragten<br />
nach dem Weg zum Schloss Charlottenburg,<br />
nach bestimmten Straßen, nach<br />
dem Regionalbahnhof oder nach einer<br />
Toilette. Bei der Frage nach dem U-<br />
<strong>Bahn</strong>-Eingang zitierte ich zur Belustigung<br />
der Vorbeigehenden oft Bully Buhlan,<br />
der in den fünfziger Jahren den<br />
Schlager „Immer an der Wand lang“<br />
sang. An genügend Wegweiser für Touristen<br />
hatte der Bezirk bei der Neugestaltung<br />
des Stuttgarter Platzes vor dem<br />
S-<strong>Bahn</strong>hof offenbar nicht gedacht.<br />
Meine recht laut vorgetragene Parole<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
war stets „Rettet die S-<strong>Bahn</strong>, keine Privatisierung,<br />
Schluss mit dem Chaos bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> – es reicht! Unterstützen Sie<br />
unser Volksbegehren mit einer Unterschrift!“<br />
Manchen erzählte ich, dass ich<br />
nachts aufwachend diese Parole schreiend<br />
verkünden würde, was mir schon<br />
Probleme mit den Nachbarn eingebracht<br />
hätte. Dieser Scherz brachte viele Stimmen<br />
ein und das Flugblatt wurde mir<br />
bereitwillig abgenommen.<br />
Etliche Vorbeigehende waren der Meinung,<br />
dass die Privaten es besser könnten<br />
als der Staat, und leisteten keine<br />
Unterschrift. Andere glaubten die S-<br />
<strong>Bahn</strong> dadurch zu retten, dass sie mit ihr<br />
fahren. Einige fragten, ob der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Betrieb aktuell gestört sei. Manche hielten<br />
mich für einen S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten.<br />
Uniformierte <strong>Bahn</strong>mitarbeiter waren<br />
freundlich, aber nicht bereit, „im Dienst“<br />
zu unterschreiben. Als Sicherheitskräfte<br />
der <strong>Bahn</strong> fürchteten sie bei fortschreitender<br />
Privatisierung schlechtere Arbeitsbedingungen.<br />
Sie erklärten mir, ich<br />
dürfe eine imaginäre Linie nicht überschreiten<br />
– die Außenwand des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Damms („Immer an der Wand lang“).<br />
Selbstverständlich habe ich dieser Aufforderung<br />
entsprochen. Doch bisweilen<br />
regnete es und ich habe mich zum<br />
Schutz in den S-<strong>Bahn</strong>-Bereich begeben<br />
müssen. Flugblätter und Unterschriftenlisten<br />
sollten trocken bleiben.<br />
Ältere Fahrgäste erzählten von 1945,<br />
Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
richte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrung<br />
Mit Humor<br />
geht’s besser<br />
Ulrich Thom<br />
als die Bomben die S-<strong>Bahn</strong>-Strecken in<br />
einer Nacht erheblich beschädigt hätten,<br />
aber am nächsten Morgen die <strong>Bahn</strong> unter<br />
Einsatz der Bürger wieder normal<br />
fuhr. Überhaupt waren ältere Frauen und<br />
Männer eher geneigt zu unterschreiben<br />
als Jüngere, die gutgekleidet vorbei hasteten.<br />
Junge Frauen und Männer aus<br />
dem eher alternativen Spektrum unterschrieben<br />
stets. Hatte ich sie überzeugt,<br />
versüßte ich ihre Unterschriftsleistung<br />
mit einer Bemerkung zu meinem roten<br />
Kugelschreiber, auf dem drei Buchstaben<br />
einer in <strong>Berlin</strong> schon lange regierenden<br />
Partei vermerkt waren. Der obere Teil sei<br />
zu drehen, aber bei diesem Kugelschreiber<br />
– wie bei der Partei – wisse man nie,<br />
in welche Richtung zu drehen sei, ob<br />
nach rechts oder nach links. Dieser<br />
Scherz wurde meist durch schallendes<br />
Lachen kommentiert.<br />
Sammelten wir zu zweit, nutzen Unterschriftswillige<br />
oft den Abstand zum<br />
Kollegen, das von mir erhaltene Flugblatt<br />
zu lesen und waren dann fast<br />
immer bereit, zu unterschreiben. Sehr<br />
wichtig schien mir die fast penetrante<br />
Wiederholung der Parole und die regelmäßige<br />
Anwesenheit am selben Ort zu<br />
sein. Oft hörte ich: „Sie waren doch<br />
schon letzte Woche hier!“ Es ist nicht<br />
leicht, fremde Menschen von der Wichtigkeit<br />
eines Anliegens auch für sie<br />
selbst zu überzeugen. Humor erzeugt<br />
auch nicht in jedem Falle Zustimmung,<br />
erleichtert sie aber ungemein.<br />
43
Wie kommt es, dass der <strong>Berlin</strong>er Bevölkerung ihr Nahverkehrsmittel so am Herzen liegt?<br />
Dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste ist: Die <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er wollen, dass<br />
die S-<strong>Bahn</strong> läuft<br />
und läuft<br />
und läuft<br />
und läuft und läuft und läuft<br />
und läuft und läuft und läuft<br />
und läuft und läuft und läuft<br />
und läuft und läuft und läuft und läuft
Wessen <strong>Bahn</strong>? Unsere <strong>Bahn</strong>!<br />
Perspektiven und Alternativen<br />
für die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />
Katrin Dornheim und Lucy Redler<br />
„Die vier Feinde der S-<strong>Bahn</strong>: Frühling, Sommer, Herbst und Winter“. Kurz und prägnant wird auf Postkarten,<br />
die man in <strong>Berlin</strong>er Kaufhäusern erwerben kann, zum Ausdruck gebracht, dass nicht – wie zu<br />
Beginn des Chaos von DB-Managern behauptet – der Winter am Chaos der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> schuld ist.<br />
Ursache der Pleite- und Pannenserie bei der S-<strong>Bahn</strong> sind nicht Eis und Schnee, sondern das bewusste<br />
Kaputtsparen der S-<strong>Bahn</strong>, um die Profite der DB AG zu erhöhen. Personalabbau, die Schließung von<br />
Werkstätten und eine Verlängerung der Wartungsintervalle um 30 Prozent haben in die Krise geführt.<br />
Die durch den Sparkurs erzielten Gewinne<br />
wurden nicht in die S-<strong>Bahn</strong> re-investiert,<br />
sondern flossen an die DB AG.<br />
Wenn Politiker in dieser Situation den<br />
Kurs der Gewinnauspressung mit einer<br />
Teilprivatisierung der S-<strong>Bahn</strong> beantworten<br />
wollen, kann man entweder an<br />
ihrem Geisteszustand zweifeln oder<br />
muss erkennen, dass sie andere Interessen<br />
als die Beschäftigten und Fahrgäste<br />
der S-<strong>Bahn</strong> vertreten.<br />
Wie kann eine S-<strong>Bahn</strong> im Interesse<br />
der Beschäftigten und der Fahrgäste<br />
aussehen, die in der Metropole <strong>Berlin</strong><br />
zugleich eine ökologisch-gesellschaftliche<br />
Funktion einnimmt?<br />
Welche Sofortmaßnahmen müssen<br />
ergriffen werden, um die unmittelbare<br />
Situation zu verbessern? Und wie sieht<br />
unsere <strong>Bahn</strong> der Zukunft aus?<br />
A Sofortmaßnahmen<br />
und mittelfristige<br />
Maßnahmen<br />
180-Grad-Wende in der<br />
Personalpolitik – aufbauen<br />
statt kaputt schrumpfen<br />
Derzeit hört man schon fast regelmäßig<br />
in den Nachrichten, dass wegen kurzfristiger<br />
Krankmeldungen „pünktlich zum<br />
Wochenende“ die Taktfrequenzen vergrößert<br />
werden müssen, oder einige Linien<br />
der S-<strong>Bahn</strong> gar nicht befahren werden.<br />
Auch dies ist eine direkte Folge des<br />
Privatisierungskurses der Deutschen<br />
<strong>Bahn</strong> AG: der Druck auf die Personalkosten.<br />
Die Personalstärke wurde über eineinhalb<br />
Jahrzehnte hinweg drastisch reduziert.<br />
Bei Gründung der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
GmbH im Jahr 1994 zählte diese noch<br />
mehr als 5000 Beschäftigte; 4000 waren<br />
direkt bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH beschäftigt<br />
und 1150 Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter arbeiteten bei der S-<strong>Bahn</strong> im<br />
BVG-Bereich und wurden im Rahmen<br />
einer Dienstüberlassung für die neue<br />
Gesellschaft tätig. 2003 waren nur noch<br />
3920 Mitarbeiter bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
beschäftigt, 2006 war der Personalbestand<br />
bereits auf 3766 Beschäftigten<br />
reduziert. Bis 2009 wurde er erneut um<br />
fast ein Viertel auf 2885 Mitarbeiter<br />
gesenkt. Dabei muss immer bedacht<br />
werden, dass im gleichen Zeitraum die<br />
Leistungen der S-<strong>Bahn</strong> bei der Personenbeförderung<br />
sich fast verdoppelt haben<br />
und das Streckennetz deutlich verlängert<br />
wurde.<br />
Der Personalabbau und die Arbeitsverdichtung<br />
der verbliebenen Beschäftigten<br />
sind allein der Renditemaximierung, die<br />
der S-<strong>Bahn</strong> vom Mutterkonzern DB AG<br />
ins Stammbuch geschrieben wurde, geschuldet.<br />
Demnach hat die S-<strong>Bahn</strong> im<br />
Jahr 2006 etwa 24 Millionen Euro an die<br />
DB AG abgeführt, 2007 waren es bereits<br />
34 Millionen Euro, die im Jahr 2008 auf<br />
56,3 Millionen Euro gesteigert wurden. 1<br />
Es ist nicht so, dass sich die Triebfahrzeugführer<br />
zusammenrotten und „krankfeiern“<br />
wie es einzelne Kommentatoren<br />
gerne darstellen. Wie Ende 2011, als es<br />
hieß, von 960 Fahrern seien fast 100<br />
krankgeschrieben. Auf den Gedanken,<br />
dass die enorme Zunahme von Stress<br />
und Erkältungsgefahr bei den Fahrern<br />
auch dadurch verursacht wird, dass sie<br />
inzwischen auf fast allen S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />
selbst die Zugabfertigung vornehmen<br />
und an jedem <strong>Bahn</strong>hof den Führerstand<br />
Perspektiven & Alternativen<br />
verlassen müssen, kommen diese Kommentatoren<br />
in ihren gut geheizten<br />
Redaktionsstuben nicht. Tatsache ist,<br />
dass es in der Novemberausgabe der<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Zeitschrift „Punkt 3“ hieß: „Lokführer<br />
dringend gesucht“ und dass S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Chef Buchner am 18. Januar 2012<br />
bekannt gab: „Uns fehlen 50 Triebfahrzeugführer“.<br />
Im Wagenpark, beim Personal<br />
in den Werkstätten und auf den<br />
Zügen herrscht der gleiche Mangel an<br />
Reserven. Durchschnittlich hohe Arbeitsunfähigkeitszeiten<br />
können auf Kosten<br />
der verbliebenen Triebfahrzeugführer gemeistert,<br />
jedoch sporadisch auftretende<br />
Spitzen nicht mehr ausgeglichen werden.<br />
Mitarbeiter wurden in allen neuralgischen<br />
Bereichen der S-<strong>Bahn</strong> abgebaut,<br />
Ausbildungszahlen abgesenkt, Auszubildende<br />
nur nach strikter Forderung der<br />
Interessenvertretungen und dann immer<br />
nur zeitlich befristet übernommen.<br />
Vor diesem Hintergrund ist, um eine<br />
schnelle Verbesserung der Situation bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> zu erreichen, zu fordern: Der<br />
Personalbestand muss sofort und nachhaltig<br />
aufgestockt werden. Die derzeit<br />
insbesondere in den Werkstätten beschäftigten<br />
Leih- und Zeitarbeitnehmer<br />
sind umgehend fest einzustellen.<br />
Bei der Berechnung des Personalbedarfs<br />
sind alle Aspekte zu berücksichtigen<br />
(Urlaub, Krankheit, Bildungsurlaub,<br />
innerbetriebliche Bildungsmaßnahmen<br />
etc.). Es rächt sich, dass in der Vergangenheit<br />
an Nachwuchs kontinuierlich<br />
gespart wurde. Die Diskussionen um eine<br />
bevorstehende Teilausschreibung, die<br />
durch den <strong>Berlin</strong>er Senat vorangetrieben<br />
wird, ist in diesem Zusammenhang kontraproduktiv.<br />
Die Personalverantwortli-<br />
45
46<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
chen bei der S-<strong>Bahn</strong> verfallen zunehmend<br />
in eine Schockstarre. Nach einem<br />
leichten Anheben der Personalstärke auf<br />
etwas mehr als 3000 Beschäftigte, die es<br />
seit dem Höhepunkt der S-<strong>Bahn</strong>-Krise<br />
2009 gab, wird inzwischen das vorhandene<br />
Personal erneut überbeansprucht<br />
und ein neuer Abbau von Personal – insbesondere<br />
auf den <strong>Bahn</strong>höfen – durchgeführt<br />
bzw. geplant. Offensichtlich<br />
scheut man die Investition in zusätzliches<br />
Personal im Hinblick auf etwaige<br />
Marktverluste im Falle einer Teilprivatisierung<br />
und glaubt, dies unternehmerisch<br />
nicht vertreten zu können. Von<br />
nachhaltiger Personalpolitik kann unter<br />
diesen Vorzeichen keine Rede sein.<br />
Verantwortung für nachhaltige<br />
Instandhaltung in operativer<br />
Hand – Kapazitäten erhöhen<br />
Wie im Personalbereich muss in rollendes<br />
Material (Wagen und Züge) und<br />
Wartung und Instandhaltung investiert<br />
werden. Stichprobenartige Wartung, die<br />
zur Aussetzung von ganzen Wagenparks<br />
durch das Eisenbahnbundesamt (EBA)<br />
führte, muss der Vergangenheit angehören.<br />
Die aus rein betriebswirtschaftlicher<br />
Sicht eingeführten, verlängerten Wartungsintervalle<br />
müssen der Beanspruchung<br />
der Bauteile angepasst werden.<br />
Das Bauteil, das zwischen den Instandhaltungsintervallen<br />
die kürzeste Standzeit<br />
aufweist, ist ausschlaggebend für<br />
das Instandhaltungsintervall.<br />
Bei Wartung und Instandhaltung<br />
muss ein Umdenken im Prozess selbst<br />
erfolgen. Die jetzt vorherrschende zentralisierte<br />
kleinteilige Sichtweise muss<br />
einer vorausschauenden und nachhaltigen<br />
Grundhaltung Platz machen. Dazu<br />
ist es zwingend erforderlich, Verantwortung<br />
in die Instandhaltungsbereiche vor<br />
Ort zurückzugeben; Voraussetzung<br />
dafür: Vertrauen der Unternehmensführung<br />
in die Belegschaft.<br />
Ein Beispiel: Wenn ein Werkstattmeister<br />
einen Wagen mit dem Instandhaltungsauftrag<br />
in die Werkstatt bekommt,<br />
um eine Scheibe zu reparieren und dabei<br />
sieht, dass in fünf Tagen das Wartungsintervall<br />
der Klimaanlage abläuft, so<br />
muss er autonom die Entscheidung treffen<br />
können, diese Arbeit gleichzeitig,<br />
auch ohne Arbeitsauftrag, durchführen<br />
zu lassen. Derzeit scheitert dies an der<br />
Bürokratie: Arbeiten dürfen nur mit Arbeitsauftrag<br />
durchgeführt werden.<br />
Durch veränderte Intervalle und nachhaltige<br />
Instandhaltung erhöht sich jedoch<br />
der Bedarf an Werkstattkapazitäten<br />
und Werkstattpersonal. Infolgedessen<br />
müssen damit einhergehend auch<br />
die Kapazitäten der Werkstätten gesteigert<br />
werden. Man benötigt alle verfügbaren<br />
Werkstätten, einschließlich derer,<br />
die in den Jahren ab 2005 geschlossen<br />
wurden (Erkner, Papestraße, Grunewald,<br />
Friedrichsfelde). Und in diesen Werkstätten<br />
muss es, wie oben beschrieben, gut<br />
ausgebildetes Personal geben.<br />
Auf dem Höhepunkt des Chaos wurde<br />
die Werkstatt in Friedrichsfelde wieder<br />
eröffnet. Derzeit läuft aufgrund von geplanten<br />
Baumaßnahmen eine zeitweise<br />
Reaktivierung der Werkstatt in Erkner<br />
an. Diese muss jedoch nachhaltig und<br />
unbefristet reaktiviert werden und nicht<br />
nur für den Zeitraum X einer Baumaßnahme.<br />
Die Reaktivierung der dann noch<br />
geschlossenen Werkstätten Grunewald<br />
und Papestraße benötigt man auch deshalb,<br />
weil nur durch das einstmals vorhandene<br />
flächendeckende Werkstattangebot<br />
auch der zeitliche und logistische<br />
Aufwand für die Überführungen der S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Wagen und Züge in die vereinzelten<br />
Werkstätten reduziert werden kann.<br />
Personalaufbau und Werkstätten-Reaktivierung<br />
sind die großen vorherrschenden<br />
Themen. Bei einer genaueren<br />
Betrachtung entstehen weitere Forderungen.<br />
Ein Beispiel: Es wurden zur Instandhaltung<br />
und Lagerhaltung Softwaresysteme<br />
eingeführt, die den Beschäftigten<br />
nur unzureichend vermittelt<br />
wurden. Darüber hinaus weisen die neuen<br />
Systeme eine veränderte und reduzierte<br />
Funktionalität auf.<br />
Es muss ein Zustand hergestellt werden,<br />
bei dem nicht nur Betriebswirtschaftler,<br />
sondern das gesamte damit<br />
befasste Werkstattpersonal mit den<br />
Softwaresystemen umgehen kann. Der<br />
fehlerhafte Einsatz von Software-Systemen<br />
ist ebenso auf den Privatisierungskurs<br />
der DB AG zurückzuführen wie das<br />
„von der Stange gekaufte“ Wagenmaterial.<br />
Auch hier fehlen bei der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> GmbH operative Fachkräfte, die<br />
sich mit Instandhaltung, Technik und<br />
dem System Eisenbahn auskennen. Im<br />
Grunde müssten diese, wie dies früher in<br />
der Regel der Fall war, bereits bei der<br />
Entwicklung Einfluss nehmen. Doch<br />
anstelle solcher Fachleute mit Ingenieurwissen<br />
entsandte die DB AG in die<br />
Einkaufsverhandlungen zunehmend Leute<br />
mit juristischem und betriebswirtschaftlichem<br />
Spezialwissen.<br />
Aufsichten auf allen<br />
S-<strong>Bahn</strong>höfen<br />
Der Sicherheitsaspekt, den der Eisenbahnbetrieb<br />
erfordert und den die Betriebseisenbahner<br />
noch kennen, rückt<br />
auf allen Ebenen immer mehr in den<br />
Hintergrund. Wenn bei der S-<strong>Bahn</strong> nur<br />
noch die betriebswirtschaftliche Sicht im<br />
Zentrum steht, braucht man sich über<br />
Unfälle und Unregelmäßigkeiten nicht<br />
zu beklagen.<br />
Zum Aspekt der Sicherheit gehören<br />
insbesondere auch die Aufsichten auf<br />
den <strong>Bahn</strong>steigen. Auch hier wurde in<br />
den vergangenen Jahren in großem<br />
Maßstab Personal abgebaut. Auf fast<br />
allen S-<strong>Bahn</strong>höfen müssen inzwischen<br />
die Fahrer die Zugabfertigung übernehmen.<br />
Das ist bereits hinsichtlich der Arbeitsbelastung<br />
unzumutbar. Auch sind<br />
die Fahrerkabinen dafür nicht gebaut;<br />
die Klimaanlagen funktionieren nicht,<br />
wenn alle zwei bis vier Minuten die Fahrertür<br />
geöffnet wird.<br />
Vor allem aber ist dies mit einem<br />
enormen Sicherheitsrisiko verbunden.<br />
Gerade bei Ein- und Ausfahrt des Zuges<br />
kann es zu Unfällen kommen. Es ist bei<br />
einem solchen kurzen Heraustreten aus<br />
dem Führerstand so gut wie unmöglich,<br />
einen sicheren Überblick über die gesamte<br />
Länge des S-<strong>Bahn</strong>-Zugs zu bekommen;<br />
das ist insbesondere der Fall<br />
bei <strong>Bahn</strong>höfen mit einem gekrümmten<br />
Gleis und bei großem Andrang (Hertha-<br />
Heimspiel; Berufsverkehr usw.).<br />
Die Aufsichten hatten – neben der<br />
pünktlichen Abfertigung des Zuges – die<br />
Aufgabe, den sicheren <strong>Bahn</strong>betrieb zu<br />
gewährleisten. All diese Aufgaben wurden<br />
zunehmend auf technische Lösungen<br />
verlagert, Aufsichtspersonal durch<br />
Zugabfertigungskameras eingespart und<br />
verbliebene Tätigkeiten auf den Triebfahrzeugführer<br />
verschoben.<br />
Schon diese Aufgaben rein auf technische<br />
Lösungen zu übertragen, ist aus<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Lunapark21·extra 6/2012<br />
Das große Abenteuer<br />
des Fahrens auf<br />
Verschleiß<br />
47
Grafik: Joachim Römer<br />
48<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Alle<br />
wettern<br />
übers Chaos<br />
Die <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> fährt<br />
öffentlich-rechtlich in<br />
die Zukunft!<br />
Wir setzen<br />
uns für<br />
Abhilfe ein.<br />
Gründen der Betriebssicherheit absurd.<br />
Hinzu kommt, dass es in den letzten<br />
Jahren auf den <strong>Bahn</strong>höfen vermehrt zu<br />
tätlichen Übergriffen auf Fahrgäste kam.<br />
Auch hier kann eine natürliche Person<br />
mit einem Funkgerät in der Hand eher<br />
abschreckend wirken, als eine stumme<br />
Kamera, die den Überfall filmt, aber der<br />
Geschädigte trotz Kameraaufnahme verletzt<br />
auf dem <strong>Bahn</strong>steig oder gar im<br />
Gleisbereich liegt. Notwendig ist, dass<br />
auf allen 166 S-<strong>Bahn</strong>höfen wieder Aufsichtspersonal<br />
anwesend ist. Dafür sind<br />
mindestens 500 Beschäftigte erforderlich.<br />
Die aktuellen Planungen sehen die<br />
entgegengesetzte Entwicklung vor: Das<br />
Aufsichtspersonal soll weiter reduziert<br />
werden. Den Planungen der S-<strong>Bahn</strong><br />
Bürger<br />
S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong><br />
GmbH zufolge sollen nur noch 120 Mitarbeiter<br />
an zwanzig stark genutzten<br />
<strong>Bahn</strong>höfen dauerhaft eingesetzt werden.<br />
Unter Berücksichtigung der Schichtarbeit<br />
heißt das, dass es real nur 40 Personen<br />
sein werden. Und auch die sollen<br />
großteils nicht auf dem <strong>Bahn</strong>steig arbeiten,<br />
sondern in Aufsichtsgebäuden vor<br />
Monitoren sitzen, wo sie oft sogar mehrere<br />
<strong>Bahn</strong>höfe zu beobachten haben.<br />
Hinzu kommen 120 sogenannte Kundenbetreuer,<br />
die je nach Bedarf auf die<br />
<strong>Bahn</strong>höfe verteilt werden. 2<br />
Statt weiterem Personalabbau muss<br />
auf allen S-<strong>Bahn</strong>höfen wieder Aufsichtspersonal<br />
anwesend sein. Das ist im Interesse<br />
der Fahrgäste und entlastet die<br />
Triebfahrzeugführer.<br />
Eine weitere Verbesserung aus Sicht<br />
der Fahrgäste ist die Wiedereinrichtung<br />
von Fahrkartenschaltern, die mit Menschen<br />
besetzt sind. Die Automatisierung<br />
des Fahrkartenverkaufs schreckt viele<br />
Fahrgäste ab; ältere Menschen haben<br />
oftmals Probleme mit Automaten, andere<br />
brauchen wiederum eine spezielle<br />
Auskunft. Erfolgreiche Nahverkehrsunternehmen<br />
wie die Usedomer Bäderbahn<br />
verfolgen den entgegengesetzten Weg<br />
und setzen auf Kartenverkauf durch das<br />
Personal.<br />
Die Forderung des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es<br />
lautet: Zumindest auf allen Umsteigebahnhöfen<br />
im S- und U-<strong>Bahn</strong>netz muss<br />
es mit Personal besetzte Schalter geben,<br />
wobei diese Verkaufsmöglichkeiten mindestens<br />
zehn Stunden am Tag geöffnet<br />
sein müssen.<br />
Offenlegung der Verträge und<br />
Untersuchungsausschuss<br />
Zu all diesen den operativen Bereich betreffenden<br />
Forderungen kommt entscheidend<br />
hinzu, dass die Rahmenbedingungen,<br />
in denen sich die S-<strong>Bahn</strong> bewegt,<br />
für Nutzer, Belegschaft, Interessenvertretungen<br />
und andere transparent<br />
gemacht werden müssen. Dazu gehört<br />
unter anderem die inzwischen zu einem<br />
Großteil erfolgte Offenlegung des Verkehrsvertrages<br />
mit allen angehängten<br />
oder weitergehenden Dokumenten. Interessanterweise<br />
stellte diese Forderung<br />
am 14. Februar 2012 auch die SPD-Fraktion<br />
auf – womit sie eine Forderung des<br />
S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es übernahm.<br />
Um eine Wiederholung des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Chaos auszuschließen, muss ein Untersuchungsausschuss<br />
zur Kontrolle der<br />
Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen<br />
und zur Wiederherstellung des<br />
sicheren, vollumfänglichen und nachhaltigen<br />
Fahrbetriebs eingesetzt werden.<br />
Dieser Untersuchungsausschuss muss<br />
sich auch erneut eingehend mit den<br />
Gründen für das entstandene Chaos beschäftigen,<br />
lückenlos auf allen Ebenen<br />
die Fehler auflisten und Handlungshinweise<br />
geben. Wenn der Untersuchungsausschuss<br />
diese Ziele verfolgen soll,<br />
kann er sich folgerichtig nicht nur aus<br />
dem Management (das heißt aus Betriebswirtschaftlern<br />
und Juristen) oder<br />
der Politik zusammensetzen. Es müssen<br />
Lunapark21·extra 6/2012
zwingend Fachkräfte aus der S-<strong>Bahn</strong>, Interessenvertreter<br />
aus den Gewerkschaften,<br />
Umwelt- und Fahrgastverbänden in<br />
einem solchen Gremium vertreten sein<br />
und zusammenarbeiten.<br />
Rückführung ausgegliederter<br />
Betriebsteile<br />
Die oben beschriebenen Maßnahmen<br />
können zu einer kurzfristigen Entspannung<br />
und Verbesserung der Situation<br />
beitragen. Langfristig müssen die Gründe<br />
für das Versagen des Systems S-<strong>Bahn</strong><br />
innerhalb des Konzerns DB AG gesucht<br />
und beseitigt werden. Viele der oben beschriebenen<br />
Probleme entstanden durch<br />
die beschönigend genannte Verschlankung<br />
des Konzerns. Seit der ersten Stufe<br />
der <strong>Bahn</strong>reform wurde damit begonnen,<br />
scheinbar unrentable Bereiche auszugliedern<br />
und zu verkaufen. Eine Querfinanzierung<br />
einzelner Bereiche untereinander<br />
war plötzlich nicht mehr möglich.<br />
So konnten Teile des Konzerns<br />
betriebswirtschaftlich „schlecht gerechnet“<br />
und als unwirtschaftlich ausgewiesen<br />
und abgestoßen werden. Eine andere<br />
Reaktion des Konzerns war die Zusammenlegung<br />
gleichartiger Tätigkeiten in<br />
verschiedenen Unternehmensbereichen<br />
in gemeinsame ServiceCenter (beispielsweise<br />
Personalbereich) oder Dienstleistungszentren<br />
(zum Beispiel Ausbildung).<br />
Ähnlich wurde auch bei der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
vorgegangen.<br />
Mittel- und langfristig müssen die<br />
ausgelagerten Bereiche der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
wieder in das Unternehmen eingegliedert<br />
werden. Dies gilt beispielsweise<br />
für die Reinigung, die Ausbildung und<br />
die Personaldienstleistungen. Die Strukturen<br />
der DB AG sind für die Einstellung<br />
neuer Mitarbeiter und Auszubildender<br />
viel zu weit weg von den einzelnen Betrieben<br />
und deren Anforderungen, zu<br />
langsam und zu starr. Nur wenn die Ausbildung<br />
und die Einstellung von Mitarbeitern<br />
wieder zurück in die S-<strong>Bahn</strong> gegeben<br />
wird, kann diese schnell und flexibel<br />
auf die Anforderungen reagieren.<br />
Dies gilt auch für den Bereich Personaldienstleistungen.<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> benötigt<br />
zusätzliches Personal aufgrund all<br />
der hier aufgezeigten Probleme, sie darf<br />
kein Personal mehr abbauen. Mitarbeiter<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
zu halten, sie wertzuschätzen und gut<br />
zu betreuen, ist jedoch in den unpersönlichen,<br />
zentral eingerichteten Service-<br />
Centern Personal kaum möglich. Die<br />
Leistungsverdichtung auf dem einzelnen<br />
Arbeitsplatz kann durch die vermehrte<br />
Zuführung von Mitarbeitern reduziert<br />
und damit auch der Krankenstand<br />
erheblich gesenkt werden.<br />
Modernisierung der<br />
Betriebsmittel und<br />
Aufbau von Reserven<br />
Die Werkstätten, Stellwerke und der<br />
Fahrzeugbestand sind auf dem aktuellen<br />
Stand der Technik zu führen und stetig<br />
weiterzuentwickeln. Dabei ist es erforderlich,<br />
bei Neuanschaffungen die Fachkräfte<br />
der S-<strong>Bahn</strong> direkt, am besten ab<br />
der Entwicklung, in den Prozess einzubeziehen.<br />
Möglich wäre auch, wieder eigene<br />
Entwicklungsbereiche aufzubauen.<br />
Technische Mängel sind bei der Industrie<br />
zu adressieren und bei Weiterentwicklung<br />
auf die Beseitigung zu achten. Vereiste<br />
Wagenwaschanlagen und vereiste,<br />
veraltete Türschließmechanismen, die<br />
eingekauft wurden, weil man bei den<br />
Anforderungen keinen harten mitteleuropäischen<br />
Winter einkalkuliert hat,<br />
müssen ebenso der Vergangenheit angehören,<br />
wie politisch und unternehmerisch<br />
motivierte Sparzwänge.<br />
Die Probleme bei der Baureihe 481,<br />
die in einer Gemeinschaftsproduktion<br />
unter dem Dach DWA (Deutsche Waggonbau<br />
AG) in der Nachwendezeit<br />
gemeinsam mit der <strong>Bahn</strong> und dem <strong>Berlin</strong>er<br />
Senat entwickelt wurde, rühren u.a.<br />
daher, dass die Wagen anders projektiert<br />
wurden als sie später in den Verkehr kamen.<br />
So wurden nach einer Entscheidung<br />
des damaligen <strong>Bahn</strong>vorstands und<br />
des <strong>Berlin</strong>er Senats z.B. geplante Klimaanlagen<br />
nicht eingebaut und dann an<br />
der Energieversorgung gespart. Um diese<br />
Wagen auf den aktuellen Stand der<br />
Technik zu bringen, um Türenteisung<br />
und Besandungsanlagen funktionstüchtig<br />
zu machen, darauf ist die abgespeckte<br />
Technik nicht ausgelegt.<br />
Der Sparwahn muss auch beim Wagenpark<br />
beendet werden. Der Fahrzeugpark<br />
war – nochmals: bei ständig gestiegenen<br />
Fahrzeugleistungen! – von rund<br />
800 Viertelzügen 1995 über 780 Viertel-<br />
Perspektiven & Alternativen<br />
zügen 2007 auf weniger als 600 Viertelzüge<br />
im Jahr 2009 abgebaut worden.<br />
Bewusst wurden die Reservekapazitäten<br />
von ehemals 17 Prozent auf weniger als<br />
7 Prozent gekappt. Eine im Jahr 2005<br />
vollzogene Verschrottung von erst in den<br />
1990er Jahren erworbenen Wagen ist<br />
blanker Irrsinn, wenn bedacht wird, dass<br />
in den letzten Jahren die nötige Flotte<br />
nicht mehr auf das Gleis gebracht werden<br />
konnte.<br />
Die Fahrzeugflotte muss auf ein Niveau<br />
gebracht werden, wie es vor Inkrafttreten<br />
des „Optimierungsprogramm<br />
S-<strong>Bahn</strong>“ galt; gleichzeitig ist eine mindestens<br />
20-prozentige Reserve einzuplanen.<br />
Der weitere Einsatz der<br />
Baureihe 481/482 oder die<br />
Anschaffung neuer Züge<br />
Die grundsätzliche Frage, ob die Baureihe<br />
481 aus technischen Gründen mittelfristig<br />
nicht mehr einsetzbar und durch<br />
eine neue Baureihe ersetzt werden muss,<br />
lässt sich hier nicht endgültig klären.<br />
Sicher ist: Die Grundaussage, diese Baureihe<br />
sei schlicht eine Fehlkonstruktion,<br />
ist in erster Linie diejenige des <strong>Bahn</strong>vorstands,<br />
unterstützt vom Gutachten der<br />
Berater Gleiss Lutz. Tatsache jedoch ist,<br />
dass die vielen Defekte mit diesen S-<br />
<strong>Bahn</strong>en in erster Linie nach den krassen<br />
Sparmaßnahmen – wie Spreizung der<br />
Wartungsintervalle und unterlassene<br />
Störungs- bzw. Unfall-Meldungen – aufgetreten<br />
sind.<br />
Schließlich befanden sich diese Züge<br />
vor dem Wirksamwerden dieser Sparprogramme<br />
im Zeitraum 1997 bis 2006 ein<br />
Jahrzehnt lang in einem Dauereinsatz,<br />
ohne dass es zu größeren Ausfällen kam.<br />
Unter normalen Bedingungen des Produktzyklus<br />
müssten diese Züge nach<br />
Durchführung der notwendigen Arbeiten<br />
an den Radsätzen, den Bremsen, an den<br />
Besandungsanlagen usw. noch mindestens<br />
weitere fünfzehn Jahre problemlos<br />
eingesetzt werden können. Das wird<br />
auch durch Aussagen von Fachleuten<br />
aus dem S-<strong>Bahn</strong>-Bereich und der <strong>Bahn</strong>industrie<br />
bestätigt.<br />
Eine so schwerwiegende Entscheidung,<br />
diese Baureihe mittelfristig durch<br />
komplett neue Züge zu ersetzen, muss<br />
wohl überlegt sein, zumal ja völlig offen<br />
49
50<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
ist, wer die entsprechenden Kosten in<br />
Höhe von bis zu zwei Milliarden Euro<br />
tragen soll. Es ist gut vorstellbar, dass<br />
dann eine solche Großinvestition dazu<br />
genutzt wird, zusätzlich Druck in Richtung<br />
Zerschlagung des Unternehmens S-<br />
<strong>Bahn</strong> bzw. Teilausschreibung von Strecken<br />
zu nutzen.<br />
Stattdessen sollte zunächst die Weiterverwendung<br />
dieser Baureihe mit dem<br />
nötigen Sachverstand umfassend geprüft<br />
werden, insbesondere durch Begleitung<br />
mit betrieblichem Fachverstand<br />
aus dem Bereich der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Werkstätten, mit Kollegen der <strong>Bahn</strong>industrie<br />
und fachlich kompetenten<br />
Gewerkschaftsvertretern.<br />
B Wir zahlen nicht<br />
für euer Chaos!<br />
Und wer soll das alles bezahlen? Wenn<br />
die S-<strong>Bahn</strong> nicht mehr gezwungen ist,<br />
die Gewinne an den Mutterkonzern abzuführen,<br />
können die dringend notwendigen<br />
Investitionen in Infrastruktur, Personal<br />
und Wartung durchgeführt werden.<br />
Auch der <strong>Berlin</strong>er Senat muss seinen<br />
Teil zur Wiederherstellung der S-<br />
<strong>Bahn</strong> beitragen.<br />
Die per Verkehrsvertrag geregelten<br />
Kürzungen der Zuschüsse für die S-<strong>Bahn</strong><br />
sind in das Netz zu reinvestieren. Die<br />
Regionalisierungsmittel sind ausschließlich<br />
für die Bestellungen im Regionalverkehr<br />
und nicht zweckentfremdet zu verwenden.<br />
Das erfordert, dass Strukturen<br />
geschaffen werden, bei denen ein Abfluss<br />
von S-<strong>Bahn</strong>-Einnahmen und Unterstützungen<br />
für die S-<strong>Bahn</strong> nicht an die<br />
DB Regio und den Mutterkonzern fließen<br />
können (siehe unten).<br />
Wenn zusätzliche Gelder benötigt<br />
werden, müssen der Bund und das Land<br />
auch zusätzliche Mittel bereitstellen. Es<br />
ist ein Irrglaube, dass sich der öffentliche<br />
Nah- und Regionalverkehr betriebswirtschaftlich<br />
rechnen müsse. Er ist Teil<br />
der öffentlichen Daseinsvorsorge und<br />
muss vor allem Mobilitätsbedürfnisse<br />
befriedigen.<br />
Doch ganz im Sinne der Renditemaximierung<br />
mussten in den vergangenen<br />
Jahren die Beschäftigten aufgrund des<br />
Sparkurses bluten und auch die Fahrgäste<br />
mussten draufzahlen.<br />
Rücknahme der<br />
Fahrpreiserhöhungen –<br />
Für ein Sozialticket<br />
„Ich bin hier oben noch ganz dicht, der<br />
Spaß ist zu teuer, von mir kriegste<br />
nüscht!“ sang Mensch Meier von Ton<br />
Steine Scherben. „Und da sagte einer, du<br />
hast recht Mensch Meier, was die so mit<br />
uns machen, ist der reine Hohn. Erst<br />
wollnse von uns immer höhere Steuern<br />
und was se dann versieben, kostet unseren<br />
Lohn.“<br />
An dieses Lied erinnerten sich wohl<br />
viele, als mitten auf dem Höhepunkt des<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Desasters am 1. Januar 2011 die<br />
Fahrpreise für S- und U-<strong>Bahn</strong>fahrten um<br />
2,8 Prozent erhöht wurden – obwohl nur<br />
40 Prozent der Züge im Einsatz waren.<br />
Für all jene, die in <strong>Berlin</strong> vor allem Einzeltickets<br />
benutzen, erhöhten sich die<br />
Kosten sogar um 9,5 Prozent. Im März<br />
2012 setzte der VBB eins drauf und verkündete<br />
eine neuerliche Fahrpreiserhöhung<br />
von 2,8 Prozent ab Sommer.<br />
Als Sofortmaßnahme müssen die<br />
jüngsten Preiserhöhungen zurück genommen<br />
werden.<br />
Wie in anderen Städten bereits realisiert,<br />
muss auch in <strong>Berlin</strong> ein Sozialticket<br />
eingeführt werden. Dieses muss<br />
sich in seiner Höhe an dem Regelsatz-<br />
Betrag des Arbeitslosengeldes II für eine<br />
Teilnahme am ÖPNV orientieren. Der<br />
<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> fordert deshalb<br />
die Einführung eines Sozialtickets in<br />
Höhe von 18 Euro. Es kann nicht sein,<br />
dass der Bund einerseits Millionen Menschen<br />
in Armut zwingt und bei den bewilligten<br />
monatlichen Unterstützungszahlen<br />
den Satz von 18 Euro als ausreichend<br />
für die ÖPNV-Kosten der Betroffenen<br />
erklärt, und andererseits öffentliche<br />
Unternehmen ermäßigte ÖPNV-<br />
Tickets anbieten, die beim Doppelten<br />
und Dreifachen dieses Satzes liegen. Gegebenenfalls<br />
muss der Bund bei den entsprechenden<br />
ÖPNV-Unternehmen für<br />
einen finanziellen Ausgleich Sorge tragen.<br />
Jeder und jedem – egal ob jung oder<br />
alt, krank oder gesund – muss es möglich<br />
sein, kostengünstig die öffentlichen<br />
Verkehrsmittel zu nutzen und dadurch<br />
am Arbeits- und sozialen und kulturellem<br />
Leben teilzunehmen.<br />
C Nein zu Privatisierung<br />
und Ausschreibung<br />
Die sogenannte <strong>Bahn</strong>reform und die Einführung<br />
neuer Verordnungen der Europäischen<br />
Union in Bezug auf den öffentlichen<br />
Verkehr erfolgten im Interesse der<br />
privaten Konzerne und Investoren. Sie<br />
sollen die <strong>Bahn</strong> wie andere Bereiche der<br />
öffentlichen Daseinsvorsorge für die<br />
Profitinteressen privater Unternehmen<br />
lukrativer machen.<br />
Die EU-Verordnung 1370/2007 gilt<br />
seit Dezember 2009. Ihr zufolge können<br />
Kreise und Städte Verkehrsleistungen<br />
entweder ausschreiben oder unter bestimmten<br />
Bedingungen direkt an ein<br />
landeseigenes oder kommunales Unternehmen<br />
vergeben. Die genauen Bestimmungen<br />
und Auslegungen sind rechtlich<br />
umstritten.<br />
Politisch wurde die Ausschreibung an<br />
Private mit mehr Wettbewerb, sinkenden<br />
Kosten und mehr Effizienz begründet.<br />
Die realen Erfahrungen sprechen jedoch<br />
eine andere Sprache.<br />
Beispiel Brandenburg: In Brandenburg<br />
wurden seitens des Verkehrsverbunds<br />
<strong>Berlin</strong> Brandenburg (VBB) im Jahr 2009<br />
sechzehn Linien des Regionalverkehrs<br />
ausgeschrieben. Für fünf Linien bekam<br />
die private Ostdeutsche Eisenbahn<br />
GmbH (ODEG) den Zuschlag. Es handelt<br />
sich dabei originellerweise um eine „private“<br />
Gesellschaft, die im wesentlichen<br />
von den beiden öffentlichen Unternehmen<br />
FS, der italienischen Staatsbahn,<br />
und der Hamburger Hochbahn kontrolliert<br />
wird. Brandenburg spart durch die<br />
Vergabe an die ODEG vierzig Millionen<br />
Euro jährlich. Im Klartext: Das Land spart<br />
Kosten und die ODEG macht Gewinne zu<br />
Lasten der Beschäftigten und der Fahrgäste.<br />
Die ODEG bezahlt ihren Beschäftigten<br />
– auf das Jahreseinkommen berechnet<br />
– dreißig Prozent weniger. Die<br />
Arbeitsplätze wurden bei der Übergabe<br />
des Auftrags von der DB Regio an die<br />
ODEG nicht gesichert, Tarif-und Sozialstandards<br />
wurden nicht eingehalten.<br />
Aus dem Mund einer ODEG-Sprecherin<br />
hört sich das so an: „Wir bieten allen<br />
<strong>Bahn</strong>-Mitarbeitern an, sich bei uns zu<br />
bewerben. Aber sie müssen eben zur<br />
ODEG passen.“ Übersetzt: Passende Mitarbeiter<br />
sind solche, die sich mit weniger<br />
Lunapark21·extra 6/2012
Die<br />
einen<br />
wollen<br />
jeden Tag<br />
an ein Ziel...<br />
...die anderen<br />
hoch hinaus<br />
51
52<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Nulltarif im Nahverkehr?<br />
In Templin, Lübben und in der belgischen Stadt Hasselt wurde ein Nulltarif im<br />
Nahverkehr oder für einen gewissen Bereich des Nahverkehrs eingeführt. Die<br />
Ergebnisse können sich sehen lassen. Viele Einwohner lassen ihr Auto stehen, die<br />
Fahrgastzahlen stiegen sprunghaft an. In Hasselt wurde die Innenstadt autofrei.<br />
Weniger Autoverkehr bedeutet weniger Unfälle, weniger Verletzte und Getötete.<br />
Eine Reduzierung des Autoverkehrs führt zudem zu einer sinkenden Umweltbelastung<br />
durch weniger Schadstoffaustoß und einer geringeren Lärmbelästigung für<br />
die Bevölkerung. Die dadurch entstehenden gesellschaftlichen Vorteile überwiegen<br />
die Einnahmeausfälle durch den Nulltarif für die Stadt langfristig.*<br />
Natürlich rechnet sich die Einführung des Nulltarifs betriebswirtschaftlich<br />
nicht. Aber das ist auch nicht zielführend. Ein Beispiel: Ob das Befahren einer<br />
Strecke in einem Außenbezirk im Zehn-Minutentakt sinnvoll ist oder nicht, lässt<br />
sich nicht betriebswirtschaftlich entscheiden, sondern richtet sich nach den<br />
Bedürfnissen der Menschen, die dort wohnen und nach <strong>Berlin</strong> zur Arbeit fahren.<br />
<strong>Berlin</strong> ist natürlich nicht mit Kleinstädten wie Hasselt vergleichbar. Aber<br />
warum sollte perspektivisch ein solches Nulltarif-System in dieser Großstadt mit<br />
der weit höheren Feinstaubbelastung, der großen Zahl von Verkehrsunfällen und<br />
ihrem ständigem Innenstadtstau nicht funktionieren? Durch erhöhte Investitionen<br />
könnten Strecken im Nahverkehrsnetz ausgebaut und Außenbezirke besser angebunden<br />
werden. Die Lebensqualität eines Großteils der <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er<br />
würde steigen. Der Rückgang der sogenannten externen Kosten des Straßenverkehrs<br />
(in Form von Toten, Verletzten, gesundheitlichen Schäden, Umweltbelastungen<br />
und Zerstörung der Stadt- und Lebensqualität) wäre deutlich größer als die<br />
zusätzlichen Kosten eines solchen flächendeckenden öffentlichen Gratisverkehrs.<br />
Stattdessen plant der Senat den Ausbau der Stadtautobahn A100. Typisch ist<br />
hier wieder die Kosten-Lasten-Verteilung: Der Bund trägt einen großen Teil der<br />
Kosten, „schenkt“ gewissermaßen die Autobahn dem Land und die Bevölkerung<br />
trägt den Schaden – mehr Autoverkehr mit all den beschriebenen Folgen.<br />
* Zum Weiterlesen: www.tagesspiegel.de/berlin/brandenburg/den-ganzen-tag-kostenlos-busfahren-in-templin-gilt-der-nulltarif-viele-lassen-ihr-auto-stehen/317194.html<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Personennahverkehr_in_Hasselt"http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Personennahverkehr_in_Hasselt<br />
Lohn zufrieden geben, einen Teil der Reparaturen<br />
an den Zügen auch schon mal<br />
selbst erledigen und im Krankheitsfall<br />
von Kollegen ständig auf Abruf bereit<br />
stehen.<br />
Die „Wettbewerbsfähigkeit“ im Regional-<br />
und Nahverkehr wird über Lohndumping,<br />
Personalabbau und sinkende<br />
Investitionen hergestellt und ist damit<br />
gegen die Interessen der Beschäftigten<br />
und Fahrgäste gerichtet. Der sogenannte<br />
„Wettbewerb“ besteht nur in der Frage,<br />
wer sich am billigsten präsentiert und<br />
den Zuschlag erhält. Hat ein privates<br />
Unternehmen den Zuschlag erhalten,<br />
kann es sich als neues privates Monopol<br />
hohe Profite sichern. Eine Garantie dafür,<br />
dass die Züge der privaten Unternehmen<br />
funktionieren, gibt es natürlich<br />
nicht: Im Februar 2012 fielen beispielsweise<br />
bei den neuen ODEG-Zügen der<br />
Linie OE33 die Heizungen aus; das Unternehmen<br />
ließ mitteilen, diese seien nur<br />
bis minus 20 Grad Celsius ausgelegt. Die<br />
ODEG musste bereits aus dem Verkehr<br />
gezogene ältere Züge der – dem gleichen<br />
Konzern zugehörenden - Prignitzer<br />
Eisenbahn reaktivieren.<br />
Keine Teilausschreibung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Konkret auf die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> bezogen<br />
bedeutet eine Teilausschreibung von<br />
Verkehrsleistungen eine Vergrößerung<br />
des Chaos und eine Verschlechterung für<br />
Fahrgäste und Beschäftigte. Aus vier<br />
Gründen:<br />
> Erstens: Eine Teilausschreibung des S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Betriebs auf dem Ring und<br />
mancher Linien im Süd-Osten bedeutet<br />
die Zerschlagung der S-<strong>Bahn</strong>. Der<br />
eine Teil, die Schienen und die <strong>Bahn</strong>höfe,<br />
würde als Infrastruktur bei der<br />
DB Netz AG und bei der DB Station&<br />
Service AG verbleiben. Der nicht ausgeschriebene<br />
„Rest“ des Zugbetriebs<br />
würde ebenfalls in der Verantwortung<br />
der DB AG verbleiben, während ein<br />
anderer Teil (Ring und weitere Linien)<br />
ab 2017 von privaten Verkehrsunternehmen<br />
betrieben werden könnte. Unterschiedliche<br />
Zugbetreiber auf unterschiedlichen<br />
Linien führen nicht zu<br />
mehr Effizienz und Wettbewerb, sondern<br />
vergrößern das Chaos und den<br />
Verwaltungsaufwand. Dies wäre ein<br />
Rückfall ins 19. Jahrhundert der Länderbahnen<br />
und Lokalbahnen. Würde<br />
der Zugbetrieb komplett ausgeschrieben,<br />
würde auch dies zu einer Trennung<br />
des Netzes und des Zugbetriebs<br />
führen.<br />
Ein S-<strong>Bahn</strong>er beschreibt seine Befürchtung<br />
in Bezug auf eine drohende Privatisierung<br />
in einem Bericht über seinen Arbeitsalltag<br />
wie folgt: „Ich frage mich,<br />
was das bringt, wenn eine Privatbahn<br />
S-<strong>Bahn</strong>en betreibt. Bei Störungen werden<br />
wir einer anderen Firma nicht ohne<br />
Weiteres helfen. Also dauert’s länger, bis<br />
alles wieder fährt. Auch ein Konkurrent<br />
würde darunter leiden, dass 80 Prozent<br />
der Störungen mit Signalen, Weichen<br />
und Stellwerken zu tun haben – also mit<br />
dem Unternehmen DB Netz, das bei der<br />
Deutschen <strong>Bahn</strong> bleibt und nicht privatisiert<br />
werden darf.“ 3<br />
> Zweitens: Im Fall einer Ausschreibung<br />
würden ab 2017 neue Wagen benötigt.<br />
Die DB hat bereits angekündigt,<br />
dass sie ihre S-<strong>Bahn</strong>-Züge nicht zur<br />
Verfügung stellen und diese nicht an<br />
private Konkurrenten verkaufen würde.<br />
Private Zugbetreiber sind nach eigenen<br />
Angaben gar nicht in der Lage,<br />
die erforderlichen Züge bis zum Zeitpunkt<br />
der Ausschreibung zu beschaffen.<br />
Eine Teilprivatisierung würde also<br />
das Chaos vergrößern. Anfang Februar<br />
2012 wurden Planungen des Senats<br />
öffentlich, nach denen dieser die angeblich<br />
aus technischen Gründen benötigten<br />
Züge selbst beschaffen würde,<br />
um sie später zu vermieten. Dies<br />
ist jedoch kein Schritt zur Kommunalisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong>. Damit würde die<br />
öffentliche Hand aktiv, um einen Einstieg<br />
privater Eisenbahnverkehrsunter-<br />
Lunapark21·extra 6/2012
nehmen bei der S-<strong>Bahn</strong> erst zu ermöglichen<br />
und diesen auch vorzufinanzieren.<br />
Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> geht davon<br />
aus, dass auch der Senat nicht in<br />
der Lage sein wird, die neuen Wagen<br />
in ausreichender Zahl bis 2017 zu<br />
beschaffen.<br />
> Drittens: Die Gewinne für die privaten<br />
Betreiber gehen zu Lasten von Fahrgästen<br />
und der Beschäftigten. Unter<br />
Lohndumping, Arbeitsverdichtung,<br />
Tarifflucht und der Zerstörung der<br />
Ausbildung werden die S-<strong>Bahn</strong>er<br />
zusätzlich leiden. Zudem entstehen<br />
höhere Kosten für die Koordination<br />
und Abstimmung zwischen den verschiedenen<br />
Zugbetreibern, Kosten, die<br />
dann „vergesellschaftet“ würden durch<br />
höhere Steuern oder Fahrpreiserhöhungen.<br />
Private Betreiber, die die Zugstrecken für<br />
eine bestimmte Zeitspanne betreiben,<br />
werden nötige langfristige Investitionen<br />
vernachlässigen. Wer einen Eindruck davon<br />
bekommen möchte, zu welchen katastrophalen<br />
Folgen dies führen kann,<br />
sollte einen Blick nach Großbritannien<br />
werfen. Dort wurde die staatliche <strong>Bahn</strong><br />
(British Rail) 1996 im Zuge der Privatisierung<br />
in über hundert Einzelunternehmen<br />
zerschlagen. Auch das Netz wurde<br />
privatisiert. Am Ende passte nichts mehr<br />
zueinander: Fahrpläne, Tickets, Streckenverbindungen.<br />
Investitionen wurden runtergefahren,<br />
die <strong>Bahn</strong> kaputt gespart, die<br />
Kosten für den Verwaltungsaufwand<br />
stiegen ins Unermessliche, es kam zu<br />
Unfällen mit mehreren Todesfällen. Im<br />
Jahr 2001 sah sich die Regierung gezwungen,<br />
Railtrack (den privaten Betreiber<br />
für die Schieneninfrastruktur) wieder<br />
zu verstaatlichen.<br />
Ähnlich katastrophale Folgen mit<br />
<strong>Bahn</strong>privatisierungen gab es in Argentinien,<br />
Mexiko, Neuseeland und Lettland.<br />
Hat der <strong>Berlin</strong>er Senat diese Beispiele<br />
nicht studiert? Oder verfolgt er andere<br />
Interessen?<br />
> Viertens: In den letzten Jahren war<br />
vielfach die Rede davon, dass die <strong>Berlin</strong>er<br />
S-<strong>Bahn</strong> ein Unikat ist und dass<br />
daher die Anschaffungskosten von rollendem<br />
Material besonders hoch sind.<br />
Das ist grundsätzlich richtig. Im Fall<br />
einer Teilausschreibung oder bei einer<br />
umfassenden Privatisierung – bei der<br />
es ja um „Wettbewerb“, also um viele<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
private Betreiber gehen soll – erhöhen<br />
sich die damit zusammenhängenden<br />
Kosten nochmals. Es geht dann, wenn<br />
der Wagenpark erneuert wird, nicht<br />
um die Ausschreibung von vielen Hundert<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Wagen, sondern nur um<br />
die Ausschreibung von vielen Dutzend<br />
Wagen. Das muss enorme zusätzliche<br />
Kosten verursachen, die erneut die<br />
Fahrgäste, die Steuerzahlenden und<br />
die S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten zu tragen<br />
haben würden.<br />
Aus all diesen Gründen muss jeglicher<br />
Privatisierung und Ausschreibung – ob<br />
teilweise oder vollständig – eine klare<br />
Absage erteilt werden. Wenn uns die<br />
Landes- und Bundesregierung mit Verweis<br />
auf die Europäischen Union die<br />
Alternativlosigkeit ihrer Politik predigt,<br />
stellen wir offensiv ihre Politik und<br />
Gesetze in Frage. Sowohl die <strong>Bahn</strong>reform<br />
von 1994, als auch alle EU-Verordnungen,<br />
die die öffentliche Daseinsvorsorge<br />
Profithaien zum Fraß vorwirft,<br />
müssen zurück genommen werden.<br />
D Eine andere S-<strong>Bahn</strong><br />
ist möglich<br />
Zu Beginn dieses Artikels wurde beschrieben,<br />
welche kurz- und mittelfristigen<br />
Maßnahmen ergriffen werden müssen,<br />
um das Chaos zu beheben und eine<br />
funktionierende S-<strong>Bahn</strong> wieder herzustellen.<br />
Damit wäre viel gewonnen. Es<br />
wurde ebenfalls dargelegt, warum eine<br />
Ausschreibung und die Teilprivatisierung<br />
das Chaos verschlimmern würden.<br />
Doch wem sollte die S-<strong>Bahn</strong> gehören?<br />
Wie sollte sie geleitet werden? Was ist<br />
die Alternative zur Ausschreibung?<br />
1. Für einen integrierten<br />
Betrieb<br />
Wichtig ist, dass der integrierte Betrieb<br />
erhalten bleibt und es nicht zu einer<br />
Zerschlagung kommt. Integrierter Betrieb<br />
bedeutet, dass die Infrastruktur<br />
und der Zugbetrieb der S-<strong>Bahn</strong> aus betrieblichen<br />
und technischen Gründen<br />
zum Vorteil aller in einem Unternehmen<br />
vereint sind.<br />
Gegenwärtig gehört die Infrastruktur<br />
teilweise, was die Trassen betrifft, zu DB<br />
Netz, die S-<strong>Bahn</strong>höfe befinden sich im<br />
Eigentum von DB Station und Service;<br />
Perspektiven & Alternativen<br />
die Energieversorgung wird von DB<br />
Energie GmbH gestellt. Allerdings ist die<br />
Betreuung der Infrastuktur per Geschäftsbesorgungsvertrag<br />
an die S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> GmbH gegeben worden.<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH und die anderen<br />
drei genannten Infrastrukturunternehmen<br />
gehören zum Gesamtverband<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> AG. Im Fall einer<br />
Ausschreibung, auch bei einer Teilausschreibung,<br />
können bereits aus EUrechtlichen<br />
Gründen der <strong>Bahn</strong>verbund<br />
und der Geschäftsbesorgungsvertrag<br />
nicht erhalten bleiben. Das muss infolge<br />
der dann unterschiedlichen Zuständigkeiten<br />
zu massiven zusätzlichen Reibungsverlusten<br />
führen.<br />
Eine Teilprivatisierung muss auch den<br />
internen Arbeitsmarkt grundsätzlich in<br />
Frage stellen.<br />
Der konzernweite Arbeitsmarkt funktioniert<br />
nur über konzernweit einheitliche<br />
Tarifverträge. Sollten Infrastruktur<br />
und Betrieb getrennt werden, würde dieses<br />
Konstrukt des konzernweiten Arbeitsmarktes<br />
auseinanderbrechen mit<br />
der Folge, dass betriebsbedingte Kündigungen<br />
sofort möglich wären (derzeit<br />
sind diese ausgeschlossen).<br />
Im Gegensatz zur Tendenz der Privatisierung<br />
muss darüber nachgedacht werden,<br />
ob ein optimal funktionierendes<br />
Unternehmen S-<strong>Bahn</strong> nicht selbst im<br />
Besitz der Infrastruktur sein sollte. Das<br />
war schließlich so bis 1994 – als es nur<br />
die in vollem Umfang integrierten Unternehmen<br />
Bundesbahn und Reichsbahn<br />
gab. Die Westberliner S-<strong>Bahn</strong> war zwischen<br />
1984 und 1994 ebenfalls ein integriertes<br />
Unternehmen mit Infrastruktur<br />
und Betrieb in einer Hand. Bei der <strong>Berlin</strong>er<br />
BVG käme auch niemand auf die<br />
Idee, die Straßenbahntrassen und die U-<br />
<strong>Bahn</strong>-Trassen einem Infrastrukturunternehmen<br />
zu übereignen und den Betrieb<br />
auf diesen Trassen in einem anderen Unternehmen<br />
zu konzentrieren. Eine Reihe<br />
gut funktionierender und höchst erfolgreicher<br />
regionaler Eisenbahnunternehmen<br />
wie die Usedomer Bäderbahn und<br />
die Karlsruher Verkehrsbetriebe sind<br />
ebenfalls in diesem Sinn integrierte Verkehrsbetriebe.<br />
Im Fall der <strong>Berlin</strong>er (und<br />
der Hamburger) S-<strong>Bahn</strong> kommt hinzu,<br />
dass die Infrastruktur ein Unikat ist, das<br />
außer der Spurweite überhaupt nichts<br />
mit der Infrastruktur der übrigen Deut-<br />
53
54<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
schen <strong>Bahn</strong> zu tun hat.<br />
Aus all diesen Gründen ist es sinnvoll,<br />
eine solche weitergehende Integration<br />
zu diskutieren.<br />
2. Aufhebung der<br />
Beherrschungsverträge<br />
Solange die DB privatwirtschaftlich organisiert<br />
ist, muss die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
GmbH der Kontrolle der DB-Manager<br />
entzogen werden. Das heutige DB-Management<br />
kommt aus der Auto- und<br />
Luftfahrtindustrie. Diese Manager verfolgen<br />
erkennbar andere Interessen als<br />
die Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse<br />
der <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er.<br />
Deutlich wird das auch bei der DB-Politik<br />
in Sachen Stuttgart 21. Hier geht es<br />
nicht um die Effektivität eines Kopfoder<br />
Tiefbahnhofs, sondern um milliardenschwere<br />
Immobilienprojekte. Deshalb<br />
muss der Beherrschungsvertrag zwischen<br />
DB AG und <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> aufgehoben<br />
werden. 4<br />
Das gilt umso mehr, da Bundesverkehrsminister<br />
Ramsauer im Januar 2012<br />
private Investoren aufforderte, in die DB<br />
Mobility Logistics, zu der die DB Regio<br />
und damit auch die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH<br />
gehören, zu „investieren“. Auch dies wäre,<br />
wie der bis 2008 verfolgte <strong>Bahn</strong>börsengang,<br />
eine Teilprivatisierung.<br />
Damit würden ganz unverfroren<br />
staatliche Gelder direkt in die Taschen<br />
von Privatinvestoren umgeleitet werden,<br />
da der Nahverkehr der Länder aus zugeteilten<br />
Bundesmitteln – den Regionalisierungsgeldern<br />
– finanziert wird.<br />
„Gewinne“ sind dann also immer nicht<br />
ausgegebene Steuergelder, die das<br />
jeweilige Unternehmen in die eigene<br />
Tasche steckt. 5<br />
Laut Vorratsbeschluss vom Mai 2008<br />
kann die Bundesregierung über Nacht<br />
bis zu 24,9 Prozent der DB Mobility Logistics<br />
privatisieren, also verkaufen. Damit<br />
wäre die DB ML – und mit ihr der<br />
gesamte Nah- und Fernverkehr und der<br />
Schienengüterverkehr nach EU-Recht<br />
wie ein privates Unternehmen zu behandeln,<br />
was schwerwiegende Konsequenzen<br />
für eine öffentliche Kofinanzierung<br />
hätte.<br />
Eine automatische Mitgehangen-Mitgefangen-Privatisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> auf<br />
diesem Weg muss verhindert werden.<br />
Das Ziel sollte sein, erstens die DB<br />
Mobility Logistics aufzulösen und in das<br />
gesamte Unternehmen zurückzuführen<br />
und zweitens die Deutsche <strong>Bahn</strong> anstatt<br />
diese als Aktiengesellschaft zu führen, in<br />
eine öffentliche Rechtsform umzuwandeln.<br />
3. Verbleib bei der DB oder<br />
Übergabe an das Land?<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> muss öffentlich betrieben<br />
werden, in staatlichem Eigentum sein<br />
und demokratisch kontrolliert und verwaltet<br />
werden. Hier stellt sich die Frage:<br />
Ist das besser im Rahmen der – in modifizierter<br />
Form strukturierten - Deutschen<br />
<strong>Bahn</strong> auf Bundesebene oder als kommunaler<br />
Betrieb möglich?<br />
Dies ist umstritten. Aufgrund des<br />
Ziels, die S-<strong>Bahn</strong> als integrierten Konzern<br />
beizubehalten und eine Zerschlagung<br />
zu verhindern, gibt es starke Argumente<br />
für einen Verbleib der S-<strong>Bahn</strong> bei<br />
der Deutschen <strong>Bahn</strong> und im Eigentum<br />
des Bundes (bei Aufhebung der Beherrschungsverträge<br />
und als eigenständiger<br />
Betrieb im Rahmen der DB, siehe Punkt<br />
2).<br />
Die S-<strong>Bahn</strong> fährt nicht nur in <strong>Berlin</strong>,<br />
sondern auch in Brandenburg. Die Beschäftigten<br />
der S-<strong>Bahn</strong> verstehen sich<br />
als Eisenbahner – das ist historisch so<br />
gewachsen – und nicht als Beschäftigte<br />
des Personennahverkehrs.<br />
Um die Verbindung von landes- und<br />
stadtbezogenen Belangen jedoch stärker<br />
zu berücksichtigen, wäre eine Beteiligung<br />
der Länder <strong>Berlin</strong> und Brandenburg<br />
am Betrieb der S-<strong>Bahn</strong> sinnvoll (womit<br />
diese dann eher eine S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Berlin</strong>-<br />
Brandenburg sein würde). Eine solche<br />
Beteiligung könnte juristisch auch zu<br />
einer Umgehung des Ausschreibungs<br />
„zwangs“ führen, der inzwischen nach<br />
EU-Recht aufgrund der Rechtsprechung<br />
des Bundesgerichtshofs 6 weitgehend<br />
existiert.<br />
Bei alldem kann die S-<strong>Bahn</strong> nicht isoliert<br />
von der DB AG betrachtet werden.<br />
Der gesellschaftliche und betriebliche<br />
Druck für die Forderung nach Rücknahme<br />
der <strong>Bahn</strong>reform 1994 muss erhöht<br />
werden. Es darf zu keiner Teil- oder vollständigen<br />
Privatisierung der DB kommen.<br />
Die private Rechtsform der DB<br />
muss in eine öffentliche Rechtsform um-<br />
gewandelt und die Deutsche <strong>Bahn</strong> als<br />
staatlicher <strong>Bahn</strong>betrieb - zum Beispiel<br />
als Anstalt öffentlichen Rechts - unter<br />
demokratischer Kontrolle fortgeführt<br />
werden. 7<br />
Verantwortlich für den Privatisierungskurs<br />
bei der DB AG ist die Bundesregierung.<br />
Der Bund kann als Eigentümer<br />
in der Hauptversammlung bestimmend<br />
Einfluss nehmen und beschließen, das<br />
Unternehmen wieder in eine öffentliche<br />
Rechtsform ohne Gewinnorientierung zu<br />
überführen. Hätte die Regierung ein<br />
Interesse daran, wäre dies wohl längst<br />
geschehen.<br />
Die grundsätzlich zweite Option wäre<br />
eine Übernahme des S-<strong>Bahn</strong>-Betriebs<br />
durch das Land <strong>Berlin</strong> beziehungsweise<br />
die Übergabe an ein landeseigenes Unternehmen<br />
wie die BVG. Eine ergänzende<br />
Form könnte auch die Übernahme des<br />
Unternehmens in das Eigentum der Länder<br />
<strong>Berlin</strong> und Brandenburg sein.<br />
In diesem Fall würde der Einfluss des<br />
Landes bzw. der beiden Bundesländer<br />
auf den S-<strong>Bahn</strong>-Betrieb steigen. Eine<br />
vollständige Herauslösung der S-<strong>Bahn</strong><br />
<strong>Berlin</strong> GmbH aus der DB würde die<br />
Gefahr einer Teilprivatisierung der S-<br />
<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH im Zuge einer Privatisierung<br />
oder eines Börsengangs der DB<br />
AG verringern. Zudem könnte aller Voraussicht<br />
nach eine Ausschreibung des<br />
Zugbetriebs vermieden werden.<br />
Das DB-Management weigert sich jedoch,<br />
die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH an das<br />
Land zu übergeben. Eine Kommunalisierung<br />
wäre nur als Ergebnis eines massiven<br />
politischen Drucks durchsetzbar. Das<br />
Hauptproblem ist aber, dass eine Übernahme<br />
durch das Land <strong>Berlin</strong> beim jetzigen<br />
Zustand zu einer Zerschlagung der<br />
S-<strong>Bahn</strong> führen würde – aufgrund der<br />
dann zu erfolgenden Trennung zwischen<br />
Zugbetrieb, der in kommunalem Betrieb<br />
übergehen würde, und der Infrastruktur,<br />
die bei der DB Netz bleiben würde. Es sei<br />
denn, man würde den oben skizzierten<br />
Weg verfolgen und die Infrastruktur direkt<br />
in das Unternehmen S-<strong>Bahn</strong> integrieren.<br />
Die Gewerkschaften und der Betriebsrat<br />
der S-<strong>Bahn</strong> warnen vor einer solchen<br />
drohenden Zerschlagung.<br />
Es stellt sich auch eine andere Frage:<br />
Wer sagt, dass der rot-schwarze Senat<br />
von <strong>Berlin</strong> eine progressivere Politik als<br />
Lunapark21·extra 6/2012
VON DEN MACHERN DES NEOLIBERALEN DURCHMARSCHS<br />
EIN FLUGZEUG- UND<br />
EIN AUTOMANAGER.<br />
ZWEI BAHNFREMDE, DEREN<br />
GEMEINSAMKEIT IHR AUFTRAG UND<br />
IHR FESTER WILLE IST, DIE BAHN<br />
ZU PRIVATISIEREN – HIN ZU<br />
VERSCHLEISS UND PROFIT .<br />
HARTMUT MEHDORN RÜDIGER GRUBE<br />
DER ZWILLINGSFILM ZU STUTTGART 21<br />
55
56<br />
S <strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong><br />
die schwarz-gelbe Bundesregierung betreibt?<br />
Am VBB sind die Länder <strong>Berlin</strong> und<br />
Brandenburg beteiligt; der VBB befürwortet<br />
Ausschreibungen des Regionalverkehrs<br />
(siehe Brandenburg). Bei der<br />
zu 100 Prozent landeseigenen BVG wird<br />
mit dem Segen des Senats Lohndumping<br />
und Ausgründung betrieben – die BVG-<br />
Tochter <strong>Berlin</strong> Transport wurde unter<br />
dem rot-roten Vorgängersenat gegründet.<br />
Seitdem verdienen Neueingestellte<br />
erheblich weniger als die Alt-Beschäftigten<br />
der BVG.<br />
Einen Automatismus, dass eine S-<br />
<strong>Bahn</strong> in kommunalem Betrieb im Interesse<br />
der <strong>Berlin</strong>er und <strong>Berlin</strong>erinnen<br />
geführt würde, gibt es nicht.<br />
Entscheidend ist daher nicht, ob die<br />
S-<strong>Bahn</strong> im Eigentum des Bundes oder<br />
der Länder ist, sondern dass sie erstens<br />
in öffentlichem Eigentum, zweitens<br />
nicht privatrechtlich geführt und drittens<br />
einer ganz anderen demokratischen<br />
Kontrolle und Leitung unterstellt wird.<br />
4. Demokratische Kontrolle<br />
und Verwaltung<br />
Staatliches Eigentum ist eine notwendige,<br />
aber keine hinreichende Bedingung<br />
dafür, dass Betriebe im Interesse der<br />
Mehrheit der Bevölkerung stehen. Im<br />
Kapitalismus gebärden sich staatliche<br />
Betriebe oft wie private Konzerne. Das<br />
beste Beispiel in der Finanzkrise sind die<br />
Landesbanken, die sich genauso wie Privatbanken<br />
verspekuliert haben, und der<br />
schwedische staatliche Energiekonzern<br />
Vattenfall, mit dessen Hilfe in <strong>Berlin</strong> die<br />
Privatisierung der Energieversorgung –<br />
einschließlich der deutlichen Verteuerung<br />
der Energiepreise – zustande kam.<br />
Verstaatlichungen werden heute im<br />
Kapitalismus meist vorgenommen, um<br />
Verluste zu sozialisieren und Gewinne zu<br />
privatisieren. Dieses Schauspiel kann<br />
man aktuell auch am Beispiel der Hypo<br />
Real Estate (HRE) beobachten.<br />
Wenn also staatliche Betriebe im Interesse<br />
von Belegschaften und der Allgemeinheit<br />
stehen sollen, müssen sie an-<br />
Anmerkungen:<br />
1 Vgl. Kleine Anfrage an den Deutschen Bundestag, in: Drucksache 16/12945 vom 7.5.2009<br />
2 Vgl. S-<strong>Bahn</strong> will ihre Aufsicht durch Monitore ersetzen, <strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 14.9.2011,<br />
unter: http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article1763972/S-<strong>Bahn</strong>-will-ihre-Aufsichtdurch-Monitore-ersetzen.html<br />
3 Zitiert nach: Peter Neumann: In manchen Wochen 60 Arbeitsstunden – Ein Lokführer<br />
erzählt , warum es bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong> Personalmangel und so viele Krankmeldungen<br />
gibt in: <strong>Berlin</strong>er Zeitung, 1.2.2012, S. 16<br />
4 Die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong> GmbH gehört zu 100 Prozent der DB Regio, die wiederum eine Tochter<br />
der DB AG ist, welche zu 100 Prozent in Bundeseigentum ist. Die operative Geschäftsführung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> lag bis 2010 bei der DB Stadtverkehr. Die DB Regio ist seit 2008 der<br />
Subholding DB Mobility Logistics (DB ML) unterstellt. Die DB ML ist von der Bundesregierung<br />
zur Teilprivatisierung (24,9%) vorgesehen – mit ihr die DB Regio und damit auch<br />
die S-<strong>Bahn</strong>en. Die Infrastruktur ist Teil der DB Netz AG und der DB Station & Service AG<br />
und der DB Energie GmbH und soll nicht privatisiert werden.<br />
5 Mit den Regionalisierungsmitteln des Bundes – die nach einem gesetzlich festgelegten<br />
Schlüssel an die Bundesländer verteilt werden – bezahlen die Länder den durch Ausschreibung<br />
bestellten Nahverkehr. Im Fall der Vergabe an private Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
(EVU) gehen die „Gewinne“ an den Eigner des jeweiligen Unternehmens. Auch der Personenfernverkehr<br />
und der Schienengüterverkehr werden zur Umverteilungsmaschine: Die<br />
Instandhaltung und Modernisierung von Schienen und <strong>Bahn</strong>höfen und der Neubau von<br />
Strecken erfolgt zu einem großen Teil durch öffentliche Zuschüsse. Dies führt zu höheren<br />
Einnahmen von Personen- und Güterverkehr.<br />
6 Am 8. Februar 2011 entschied der Bundesgerichtshof aufgrund einer Klage des privaten<br />
<strong>Bahn</strong>unternehmens Abellio in einem Fall in NRW, dass eine Direktvergabe von Verkehrsleistungen<br />
des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) an die DB AG unzulässig sei.<br />
7 Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn (1990-93) waren sogenannte Sondervermögen<br />
des Bundes. Das hatte vor allem den Nachteil, dass diese Unternehmen leicht Spielball<br />
der Politik wurden, zur Versorgung von ehemaligen Politikern und Bürokraten herhalten<br />
mussten usw. Die Unternehmensform der Anstalt des öffentlichen Rechts bietet<br />
grundsätzlich die Chance der größeren Selbständigkeit und einer Festlegung auf spezifische<br />
verkehrspolitische, soziale und ökologische Ziele.<br />
ders als bisher kontrolliert und geleitet<br />
werden.<br />
Der S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong> fordert ein dauerhaftes<br />
Aufsichtsgremium für die S-<strong>Bahn</strong>,<br />
in dem Vertreter der Eisenbahngewerkschaften,<br />
Vertreter der Fahrgastverbände<br />
und der Beschäftigten eine entscheidende<br />
Rolle spielen.<br />
Um die S-<strong>Bahn</strong> jedoch nicht nur zu<br />
kontrollieren, sondern diese auch an den<br />
Bedürfnissen der Fahrgäste und Beschäftigten<br />
auszurichten, wäre eine<br />
andere Leitung der S-<strong>Bahn</strong> nötig. Wie<br />
könnte eine solche aussehen? Man stelle<br />
sich als Vision vor, die S-<strong>Bahn</strong> würde<br />
paritätisch von Vertretern der Belegschaft,<br />
der Gewerkschaften, Umweltund<br />
Fahrgastverbänden und Vertretern<br />
der Regierung (Land und Bund) geleitet.<br />
Dies könnte möglicherweise dazu führen,<br />
dass die S-<strong>Bahn</strong> einen Beitrag zu<br />
kostengünstiger und perspektivisch kostenloser<br />
Mobilität und einer grünen<br />
Stadt für Alle leisten würde.<br />
Dass das nicht im Interesse der großen<br />
Konzerne wäre, versteht sich von<br />
selbst. Mit Hilfe von Tausenden Lobbyisten<br />
setzen sie täglich und stündlich ihre<br />
Interessen durch. Eine S-<strong>Bahn</strong> in unserem<br />
Interesse ist nicht im Einvernehmen,<br />
sondern nur gegen die Profitinteressen<br />
der Damen und Herren im DB-Tower und<br />
in den Konzernzentralen der Auto- und<br />
Luftfahrtindustrie und ihren Vertretern<br />
in der Bundesregierung durchsetzbar.<br />
Das Volksbegehren des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s<br />
ist ein wichtiger Anfang, aktiv zu werden.<br />
Es soll und kann betrieblichen und<br />
gewerkschaftlichen Protest nicht ersetzen.<br />
Die Aktiven des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s stehen<br />
für gemeinsamen Widerstand gegen<br />
die Zerschlagung der S-<strong>Bahn</strong>.<br />
In wessen Interesse öffentliche Betriebe<br />
arbeiten und wer sie leitet und<br />
kontrolliert, ist immer Ausdruck des gesellschaftlichen<br />
Kräfteverhältnisses. Eine<br />
andere S-<strong>Bahn</strong> wird es nur geben, wenn<br />
Beschäftigte und Fahrgäste ihre Geschicke<br />
selbst in die Hand nehmen und dafür<br />
streiten.<br />
Katrin Dornheim ist Betriebsrätin im DB<br />
Konzern und stellv. Vorsitzende des<br />
Ortsverbands <strong>Berlin</strong> der Gewerkschaft EVG.<br />
Lucy Redler ist Mitglied des<br />
Koordinierungskreises des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>s<br />
<strong>Berlin</strong>.<br />
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