Ornamente der Fassade
ISBN 978-3-86859-233-7
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122 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 123<br />
Die Idee <strong>der</strong> regional- o<strong>der</strong> landestypischen Geschichts-Erzählung und »Markierung«,<br />
wie sie das Berliner Wohnhaus und das Kongresszentrum in Mérida<br />
auf unterschiedliche Weise verkörpern, liegt auch dem Entwurf von Herzog &<br />
de Meuron für die 1994-1999 errichtete Fachhochschul-Bibliothek im brandenburgischen<br />
Eberswalde zugrunde (Abb. 42-43). Die Bibliotheks-<strong>Fassade</strong> verweist<br />
in dreifacher Hinsicht auf regionale Identität bzw. versucht diese über ihre<br />
Bildsprache zu stärken. Erstens durch die Plattenbauweise, zweitens durch eine<br />
mo<strong>der</strong>n-technisierte Version <strong>der</strong> vernakulären, bildhaft-ornamentalen Sgraffitoetwa<br />
Louis Sullivan und Owen Jones, und nehmen die Interpretation <strong>der</strong> Bautradition<br />
zum Ausgangspunkt ihrer Entwürfe: »We’re trying to start to express<br />
more formally the idea that interpretation is a very powerful thing. Interpretation<br />
of tradition has always been how you made art and architecture.« 609 Bei<br />
<strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>n-Erneuerung und Erweiterung des Victoria and Albert Museum of<br />
Childhood in London (2002-2007) ließen sie sich von Owen Jones’ The Grammar<br />
of Ornament (1856) aufgrund <strong>der</strong> Tatsache inspirieren, dass J. W. Wild, <strong>der</strong><br />
ursprüngliche Architekt des Baus von 1857, ein Freund von Jones war (Abb.<br />
38-39 und S. 171). 610 Das Konzept für den Museums-Umbau entwickelten Caruso<br />
St. John im Kontext ihrer Ausstellung Cover Versions in <strong>der</strong> Architectural<br />
Association Gallery (2005), in <strong>der</strong> sie die Beziehungen zwischen Werken und<br />
ihren historischen Inspirationsquellen aufdeckten sowie sich mit den Übertragungsmöglichkeiten<br />
von traditioneller Ornamentik in gegenwärtige Bauzusammenhänge<br />
beschäftigten. An dem Museumsanbau aus Beton wurde eine dünne<br />
Verkleidung aus vor Ort behauenen Steinen, farbige Quarzite und Porphyre,<br />
befestigt. So entsteht ein verschiedenfarbiges, geometrisches Muster mit 3-D-<br />
Effekt, das an M.C. Escher erinnert. Während Owen Jones’ Vorlagenwerk wohl<br />
eher als geistige Anregung im Entwurfsprozess herangezogen wurde, die Bezüge<br />
jedoch nicht direkt am Bau nachvollziehbar sind, drängen sich formalästhetische<br />
Ähnlichkeiten zu historischen Vorbil<strong>der</strong>n auf, etwa zu <strong>der</strong> dunkelgrünweißen<br />
Marmorfassade von Santa Maria Novella in Florenz von Alberti (1456-<br />
1470) mit ihren geometrisierenden Einlegemustern.<br />
Lokalhistorische Bezüge standen auch im Zentrum des Entwurfs von Nieto Sobejano<br />
Arquitectos für das 2004 eröffnete Auditorium und Kongresszentrum<br />
(Palacio de Congresos y Exposiciones) im spanischen Mérida. Die ornamentale<br />
Relieffassade entstand in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Madri<strong>der</strong> Bildhauerin Ester<br />
Pizarro (Abb. 40-41 und S. 169). Aus <strong>der</strong> Ferne erinnern die <strong>Fassade</strong>n des massiven,<br />
am Fluss Guadiana gelegenen Solitärs an eine raue, unregelmäßige Naturstein-Oberfläche.<br />
Die Architekten nennen als lokalhistorische Referenz das opus<br />
incertum, das römische Mauerwerk aus unregelmäßig geformten Bruchsteinen,<br />
meist Tuffstein, mit Mörtelguss, das bis heute im Straßenbild <strong>der</strong> von den Römern<br />
gegründeten Stadt Mérida präsent ist. Aus <strong>der</strong> Nähe betrachtet entpuppt<br />
sich <strong>der</strong> vermeintliche Stein jedoch als Fertigbeton-Tiefrelief, das gleichsam als<br />
archäologische Haut die von oben gesehen ornamentale städtebauliche Anlage<br />
<strong>der</strong> Stadt Mérida zeigt. 611 Darüber hinaus kann die architektonische Gesamtanlage<br />
mit ihren geschlossen-abweisend wirkenden Außenwänden, kleinen Fenstern<br />
und den reliefhaft behandelten Oberflächen als Referenz an die arabische Architektur<br />
gelesen werden. 612 Vergleichbar mit dem Vorgehen Hild und Ks bei dem<br />
Berliner Wohnhaus liegt hier dem <strong>Fassade</strong>nentwurf ebenfalls eine zweidimensionale<br />
Zeichnung zugrunde – <strong>der</strong> Stadtgrundriss, <strong>der</strong> in ein Hochrelief und in die<br />
41<br />
Dreidimensionalität des Baukörpers übertragen wurde. Den meta-historischen<br />
Ornament-<strong>Fassade</strong>n in Berlin, London und Mérida ist eine optisch unaufdringliche,<br />
in ihrer Historizität eher interpretationsoffene Einpassung in die Umgebung<br />
gemeinsam.<br />
Außerarchitektonische Motive – Bil<strong>der</strong>-<strong>Fassade</strong>n<br />
40<br />
40, 41 Nieto Sobejano Arquitectos:<br />
Palacio de Congresos y Exposiciones<br />
in Mérida (ES), 2000-2004