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Ornamente der Fassade

ISBN 978-3-86859-233-7

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68 Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne 69<br />

Die türkische Architekturhistorikerin Gülsum Baydar Nalbantoglu bezeichnet<br />

in ihrer Analyse von Fletchers Architekturgeschichte die Etablierung von<br />

Kategorien wie »westlich« o<strong>der</strong> »historisch« als ein Ergebnis von Ausschluss –<br />

zugunsten <strong>der</strong> Festigung <strong>der</strong> eigenen Identität: Geschichte wird als die eigene<br />

Geschichte zementiert. 313 Diese Ausschluss-Mechanismen manifestieren sich in<br />

<strong>der</strong> History of Architecture auf unterschiedliche Weise. Der auf <strong>der</strong> dritten Buchseite,<br />

quasi als Motto, stehende »Tree of Architecture« setzt die auf die europäisch-westliche<br />

Geschichte beschränkte, hierarchisierende Sichtweise Fletchers in<br />

diagrammatisch vereinfachen<strong>der</strong> Deut lich keit ins Bild (Abb. 16). 314 Die »nichthistorischen«<br />

Stile Perus, Mexikos, Ägyptens, Syriens, Indiens, Chinas und<br />

Japans sowie <strong>der</strong> byzantinische und <strong>der</strong> sarazenische Stil zweigen im unteren<br />

Stammbereich von einem gemeinsamen Hauptstamm ab, ohne dass sie weiter<br />

Einfluss auf die westliche Geschichte haben. Die Baumkrone bilden die innerhalb<br />

Europas unterschiedlich ausgeprägten Stile <strong>der</strong> Gotik und <strong>der</strong> Renaissance.<br />

Der unter »Roman Influence« emporwachsende Hauptstamm mündet in die<br />

historistischen Stil-»Revivals« des späten 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit dem »American<br />

[Style, U.C.]«, also <strong>der</strong> westlich-europäischen Mo<strong>der</strong>ne, an <strong>der</strong> Spitze, die durch<br />

die Miniatur-Darstellung eines Wolkenkratzers repräsentiert wird. Im Text erwähnte<br />

Fletcher zu Beginn des Kapitels über die »nicht-historischen Stile« den<br />

Einfluss <strong>der</strong> »sarazenischen« Kunst auf die spanische Kunst und Architektur und<br />

erläuterte, dass die ägyptische und westasiatische Architektur zu den »historischen<br />

Stilen« gerechnet werden könnten, weil sie die Architektur <strong>der</strong> griechischen<br />

Antike und alle folgenden Stile beeinflusst hätten. 315 Die außereuropäischen<br />

Stile, so fasst Nalbantoglu Fletchers Argumentation zusammen, bereichern<br />

zwar durch ihre ornamentale Vielfalt die auf konstruktiver Logik basierende<br />

westliche Architekturgeschichte, bergen aber zugleich auch die Gefahr einer<br />

Qualitätsmin<strong>der</strong>ung: »When they are added on, architectural history becomes<br />

both better (complete) and worse (impure).« 316 Entsprechend dieser Angst vor<br />

»Verunreinigung« ist die Abbildung, die kurz nach dem »Tree of Architecture«<br />

auf den ersten Seiten von Fletchers Architekturgeschichte nach Art einer Collage<br />

die wichtigsten Baumonumente von <strong>der</strong> Antike bis zur Mo<strong>der</strong>ne präsentiert,<br />

mit Ausnahme <strong>der</strong> Darstellung einiger ägyptischer Tempel ganz auf die westlicheuropäische<br />

Geschichte ausgerichtet. 317<br />

Eine kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit kolonialen Festschreibungen kam erst<br />

nach 1945 in Gang, somit Jahre nach dem Ende des Kolonialismus, und mündete<br />

mit den 1970er Jahren in den Postkolonialismus-Diskurs 318 , <strong>der</strong> eng mit <strong>der</strong><br />

Postmo<strong>der</strong>ne verzahnt war. 319 Dementsprechend zeigt sich in den Neuauflagen<br />

von Fletchers Architekturgeschichte ab den 1960er Jahren offensichtlich das<br />

Bemühen, die europäisch-westliche Perspektive durch die Betonung kultureller<br />

Offenheit und Diversität zu relativieren. Bereits 1961 war in <strong>der</strong> 17. Ausgabe<br />

die Aufteilung in »historisch« und »nicht-historisch« durch eine Unterteilung<br />

in »Ancient Architecture and the Western Succession« und in »Architecture in<br />

the East« ersetzt worden. Erst in <strong>der</strong> 19. Ausgabe von 1987 wurden die ehemals<br />

»nicht-historischen«, dann »östlichen« Architekturstile den »cultures outside<br />

of Europe« zugeordnet, wobei nochmals unterteilt wurde in »The Architecture<br />

of the Pre-Colonial Cultures outside Europe« und »The Architecture of the<br />

Colonial and Post-Colonial Periods outside Europe«. Der Kolonialismus – aus<br />

westlicher Perspektive – dient mithin in Fletchers History of Architecture durchgängig<br />

als kategorisierende Scheidelinie.<br />

Die Aufteilung <strong>der</strong> Welt in eine Erste und eine Dritte, in entwickelt und unterentwickelt,<br />

westlich und nicht-westlich, die <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne inhärent ist, nährt<br />

sich zu großen Teilen aus dem imperialistischen, kolonialistischen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

und manifestiert sich auch im architektonischen Schaffen, in <strong>der</strong> architektonischen<br />

Reflexion sowie nicht zuletzt in <strong>der</strong> Ornament-Praxis und -Debatte.<br />

Rasheed Araeen, in London leben<strong>der</strong> Künstler und Kulturtheoretiker pakistanischer<br />

Abstammung (geb. 1935), fasst die eurozentrisch dominierte Auffassung,<br />

die Fletchers Überblickswerk über Jahrzehnte beispielhaft wi<strong>der</strong>spiegelt, in <strong>der</strong><br />

ironischen Formulierung »Unser Bauhaus und die Lehmhütte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en« zusammen.<br />

320<br />

Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

Louis Sullivan und Otto Wagner – Vermeidung und Fortentwicklung<br />

Im Laufe des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts vollzog sich die Loslösung des Ornaments von<br />

seiner »religiös-soziopolitischen Repräsentations- und Legitimationsfunktion« 321 ,<br />

die es in den vorhergehenden feudalen Herrschaftssystemen innehatte. Vor allem<br />

das als aufgesetzt, beliebig und sinnentleert empfundene Ornamentschaffen des<br />

Historismus, insbeson<strong>der</strong>e die eklektizistische, stilkopierende Innen- und <strong>Fassade</strong>ndekoration,<br />

stieß auf immer breitere Ablehnung, die im ersten Drittel des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts im Zuge von Neuer Sachlichkeit 322 , Bauhaus und Internationalem<br />

Stil radikalisiert wurde. Die Ornamentkritik in <strong>der</strong> Umbruchzeit zur<br />

Mo<strong>der</strong>ne muss vor dem spezifischen Hintergrund <strong>der</strong> technischen Innovationen<br />

des Industriezeitalters, des Historismus und <strong>der</strong> Jugendstilbewegung sowie <strong>der</strong><br />

Nachwirkungen von Imperialismus bzw. Kolonialismus gesehen werden, die sich<br />

– wie anhand von Fletchers History of Architecture exemplarisch dargelegt – auch<br />

in einer eurozentrischen Perspektive <strong>der</strong> Architekturtheorie nie<strong>der</strong>schlugen.<br />

Die im Hinblick auf das Ornament ambivalente Haltung <strong>der</strong> beginnenden Mo<strong>der</strong>ne<br />

gründete jedoch weniger in kulturellen Hierarchisierungen, als vielmehr<br />

in <strong>der</strong> Opposition von Konstruktion und Ornament, wie sich anhand <strong>der</strong> Schrif-

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