04.06.2015 Aufrufe

Ornamente der Fassade

ISBN 978-3-86859-233-7

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188 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 189<br />

Schrift, Bil<strong>der</strong>, Farbe<br />

Schrift – Prosa, Poesie und Zahl<br />

Ebenso wie Bild und Architektur sind Schriftkultur und Baukultur historisch<br />

eng miteinan<strong>der</strong> verwoben – von den Hieroglyphen ägyptischer Tempel über<br />

die antike Bauepigraphik 715 bis zu den Glyphen <strong>der</strong> Maya, von <strong>der</strong> islamischen<br />

Kalligraphie über die Inschriften mittelalterlicher Architekten und die Bauherren-Signaturen<br />

<strong>der</strong> Renaissance bis hin zu den mo<strong>der</strong>nen Werbe-Leuchtschriften<br />

und Graffiti-Tags heutiger Metropolen: Zeiten- und kulturenübergreifend<br />

trägt Schrift zur Außenwirkung von Bauwerken bei. Die Wand aus Textil, Holz<br />

o<strong>der</strong> Stein diente als Träger für Bil<strong>der</strong>, Zeichen und Schrift, lange bevor Papyrus,<br />

Pergament und Papier erfunden worden waren. 716<br />

Trotz ihrer historisch belegbaren Verbundenheit unterscheiden sich Schrift und<br />

Architektur in ihrer jeweiligen Ausdrucksform und Wirkung, Maßstäblichkeit<br />

und Materialität grundlegend. Monumentale Unverrückbarkeit steht einer flexiblen<br />

Bewegbarkeit gegenüber – ein Buch ist in erster Linie dem privaten Bereich,<br />

Architektur dem öffentlichen Bereich zugehörig; Architektur ist auf Massenwirkung,<br />

Schrift ihrem Ursprung nach eher auf Einzelwirkung ausgerichtet.<br />

Im Zuge von Werbe-Inschriften, Leuchtreklametafeln und öffentlichen Screens<br />

erweiterte sich das Wirkungsfeld von Schrift zunehmend in den öffentlichen<br />

Raum. Die <strong>der</strong> Architektur wie dem Buchmedium zugrunde liegenden o<strong>der</strong><br />

von ihnen ausgelösten Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse scheinen<br />

sich mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zusehends einan<strong>der</strong> anzugleichen. Nicht erst seit <strong>der</strong><br />

Postmo<strong>der</strong>ne wird die Stadt als Text im Sinne eines Zeichensystems diskutiert.<br />

Bereits Etienne-Louis Boullée ging als Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> architecture parlante im<br />

späten 18. Jahrhun<strong>der</strong>t von einer engen Verbindung von Poesie und Architektur<br />

aus, wobei sich die Konzentration auf die äußere Erscheinung mehr auf die Gesamtform,<br />

weniger auf die <strong>Fassade</strong>n bezog: »Oui, je le crois, nos édifices, surtout<br />

les édifices publics, devraient être, en quelque façon, des poèmes.« 717<br />

Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t beschäftigten sich Philosophen, Historiker und Dichter mit<br />

<strong>der</strong> Frage einer Beziehung von Text und Architektur im übertragenen Sinne.<br />

Victor Hugo beschrieb in seinem Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts spielenden Roman<br />

Notre-Dame de Paris (1831), besser bekannt als Der Glöckner von Notre-Dame,<br />

die erste einschneidende Krise des über Jahrhun<strong>der</strong>te relativ stabilen urbanen<br />

Erzählraumes. Hugo sah Baukunst und Schriftkunst seit <strong>der</strong> Erfindung des<br />

Buchdruckes in einem Konkurrenzverhältnis, aus dem die Schrift siegreich hervorgegangen<br />

sei. Während die Kathedrale von Notre Dame im Mittelalter als<br />

»Chronik aus Stein« noch buchähnliche Wirkung entfaltet habe, verliere die Architektur<br />

mit <strong>der</strong> Verbreitung von Wissen über das geschriebene und gedruckte<br />

Wort ihre Wirkung als Ausdrucksform –<br />

»ceci tuera cela« 718 , prophezeite Hugo lakonisch.<br />

Die Bibliothèque Ste-Geneviève<br />

in Paris (1844-1850) kann als erster gebauter<br />

Wi<strong>der</strong>spruch zu Hugos These <strong>der</strong><br />

Verdrängung einer erzählerischen Architektur<br />

gesehen werden. Auf die Frontseite<br />

<strong>der</strong> Bibliothek ließ <strong>der</strong> Architekt, Henri<br />

Labrouste, die Namen <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Autoren eingravieren, <strong>der</strong>en Bücher die<br />

Regale im Inneren füllen – er schuf so einen<br />

steinernen Zettelkatalog (Abb. 71). 719<br />

Diese <strong>Fassade</strong> tut kund, dass die architektonische<br />

Ausdrucksform ihrerseits die<br />

Buchdruckerkunst bzw. das geschriebene<br />

Wort in ihre spezifischen, raumbildenden<br />

Möglichkeiten mit einbeziehen kann.<br />

Kirsten Win<strong>der</strong>lich bezeichnet in ihrer<br />

Publikation Die Stadt zum Sprechen bringen<br />

(2005) die Architektur des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />

insbeson<strong>der</strong>e die bürgerliche<br />

Wohnhaus-Architektur mit ihrer reichen Ornamentsprache, als gebaute Auflehnung<br />

»gegen die Medienkonkurrenz von Buch, Zeitung und Fotografie« 720 .<br />

Der in die Baukunst integrierten Schrift fiel dabei die Aufgabe zu, Auskunft<br />

über Funktion o<strong>der</strong> sozialen Rang des Gebäudes bzw. seiner Bewohner zu geben.<br />

An vielen Pariser Wohnhäusern des 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts etwa<br />

ist, gut lesbar am Übergang vom Erdgeschoss zur Beletage, eine entsprechende<br />

Signatur angebracht. Mit »dem Ende <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>nerzählung«, das zeitlich<br />

mit <strong>der</strong> Tendenz zu einer sachlich-nüchternen Architektur nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg zusammenfiel und sich unter an<strong>der</strong>em in Entstuckungsmaßnahmen<br />

zeigte, verschwand zunächst, so Win<strong>der</strong>lich, »die <strong>der</strong> Baukunst eigene narrative<br />

Kompetenz«. 721 Erst mit <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne sollte diese rehabilitiert werden.<br />

Robert Venturi et al. setzten bei ihren Bauten seit den 1960er Jahren Schrift<br />

als Element des »dekorierten Schuppens« ein. Sie kann durchaus konstitutives<br />

Element <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong> sein, aber nicht ornamental-verschlüsselt o<strong>der</strong> assoziativ,<br />

son<strong>der</strong>n bewusst eingesetzt, wobei sie meist Name o<strong>der</strong> Funktion des Gebäudes<br />

vermittelt. Über dem Eingangsportal zu dem Altenwohnheim in Philadelphia<br />

(Pennsylvania), von Venturi, Scott Brown and Associates entworfen und 1960-<br />

1964 erbaut, prangt in dicken Großbuchstaben <strong>der</strong> Schriftzug »Guild House«<br />

(Abb. 22).<br />

71<br />

Henri Labrouste: Bibliothèque Ste-Geneviève<br />

in Paris (F), 1844-1850

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